Plattenkritik: Artificial Intelligence - Electronic Listening Music From Warp (Warp)Wie vieles begann

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Die Nachricht kam vor wenigen Tagen: Am 9. Dezember 2022 legt Warp die Compilation „Artificial Intelligence“ erstmals nach 30 Jahren wieder neu auf Vinyl auf. Hören wir doch mal, ob die IDM (Intelligent Dance Music) gut gealtert ist – oder eben nicht.

Calling all Techno-Rentner:innen. Erinnert ihr euch, wie wir 1992 in den in der Republik verstreuten Plattenläden standen und uns die Compilation vom noch vergleichsweise neuen Label Warp aus Sheffield angepriesen wurde? LFO, Tricky Disco, Nightmares On Wax und Sweet Exorcist hatten uns bis zu diesem Zeitpunkt nordenglische Bleeps entgegengepustet. Einen perfekten Kontrapunkt in einer Zeit, als dieser in den Clubs noch gar nicht erfunden war bzw. keine Rolle spielte. Anything went, wenn wir ehrlich sind. Und das ist auch genau der Grund, warum die Zeit damals wirklich besser war. Eine 12" war Gold. Und was nicht passte, wurde passend gemacht. Wir hörten Breaks, Acid, House und Techno und erst alles zusammen ließ uns die Hände in die Luft reißen. Wir bauten uns unsere eigenen Klanggebilde im Kopf. Abfahrt & Chill – am besten gleichzeitig.

Den Chill-Faktor wuchteten Steve Beckett und Rob Mitchell – die Gründer von Warp – mit der ersten von insgesamt zwei „Artificial Intelligence“-Compilations auf eine wirklich schlecht animierte CGI-Bühne. Aber über das Artwork reden wir gleich. Schauen wir uns zunächst das Line-up der Künstler (ja, alles Männer) an: Aphex Twin (hier noch als The Dice Man), Musicology (B12), Autechre, I.A.O. aka Kevin Downie aka The Black Dog, Speedy J, Up! (Richie Hawtin) und der damals noch nicht so alte alte Orb-Mann Alex Paterson. Da kann ja eigentlich wenig bis gar nichts schiefgehen.

Damals hat sich das bestimmt auch so angefühlt.

Es liegt mir fern, dieses Damals mit heute zu vergleichen – aber bestimmte Parameter haben sich eben doch verändert und manchmal auch erledigt. Die Zusammenführung dieser Künstler mit all ihren ganz unterschiedlichen musikalischen Entwürfen ist löblich. Auch wenn es faktisch wahrscheinlich eher so ablief: „Yo, hast du einen Track, der nicht so volle Kanne ballert?“ „Na klar.“ „Cool, schick mal, wir machen eine Compilation.“ Ist ja auch komplett egal. So läuft das Business halt. Was zu diesem Zeitpunkt der Akquise vielleicht noch nicht klar war: Diese Compilation war einer der Grundsteine für zeitgenössische elektronische Musik jenseits des Dancefloors, auch wenn einige der Tracks ganz schön dancefloorig klangen bzw. immer noch klingen. Und diese Compilation war auch der Startschuss für die „Artificial Intelligence“-Serie auf Warp, die mit Alben von Aphex Twin, Autechre, B12, Richie Hawtin und Black Dog die Welt veränderte. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem klar wurde, dass 4/4-Zauberer sowieso das machen, worauf sie Lust haben. Damals waren wir noch nicht so weit. Wir brauchten Orientierung und Fächer in Plattenläden.

Wie war oder ist das also mit dem „Altern“? Naja, „your mileage may vary“, wie es heißt. Dabei geht es weniger um die musikalische Ausrichtung per se, als vielmehr darum, was wir heute als „anders“ – also nicht als 4/4 im Dancefloor-Kontext – wahrnehmen. Natürlich hat sich genau dieser einstmals so manifeste Klang zum Glück ebenfalls fundamental gewandelt. Der Umgang mit, die Näherung an diese Compilation bleibt also auch 2022 fluide. Das ist schon ganz gut so. Denn auch wenn Richie Hawtin bei „Spiritual High“ einfach auf die klassische Zwölf haut, die 909 flattern lässt und den Rave einfach mit detroitigen Klischees wattiert (ein Beispiel unter vielen): Die zehn Tracks dokumentieren Künstler in ihrer Entwicklung, auf ihrem Weg, beim Finden ihrer wirklichen Bestimmung und Komfortzone. Egal ob das nun die (vielleicht?) erste Version von Autechres „The Egg“ ist, einem Track, der nur kurze Zeit später auf ihrem Debütalbum „Incunabula“ als „Eggshell“ endete. Oder „Polygon Window“ von Aphex Twin, dem titelgebenden Namen seines Projekts, mit dem er mit dem Album „Surfing On Sine Waves“ nur ein Jahr später dem Warp-Label einen der vielleicht wichtigsten prägenden Stempel aufdrückte. Gut, danach drehte er durch, kaufte Panzer und fand Patch-Label sexier als Melodien, aber geschenkt.

Im Wohnzimmer

Schauen wir noch auf das Artwork. Was sehen wir hier? Bestimmt keine typisch-britische Lounge in der Doppelhaushälfte, aber doch bemerkenswerte Dinge: eine Kompaktanlage (keine MK2s), einen irgendwie gearteten Thermobecher und einen Androiden in C3PO-Gold – spliffend. Dazu Pink-Floyd- und Kraftwerk-Vinyl auf dem Wohnzimmerboden. Was das heißt? Vielleicht zunächst, dass Androiden keine DJs sind. Schien damals als gesetzt, heute aber alles andere als klar. Die Spielerei mit schon damals amtlichen Klischees ist eigentlich ganz niedlich, weil nah dran an der Realität. Und genauso naiv war es damals halt. Wenn Musicology aka B21 ihren Track „Telefon 529“ mit einem Sample von Kraftwerks „Telefonanruf“ beenden ... na und? War so, ist so. Urheberrechts-Anwält:innen: trinkt einen toxischen Cocktail und spuckt Blut auf dem Klo.

Die Ästhetik von „Artificial Intelligence“ dachte sich damals Phil Wolstenholme aus. Sheffield Massive. Heute kaum vorstellbar, dass das damals Eindruck machte. Aber wir mochten Lava-Lampen und die Zukunft. Wir schauten ab 1993 die X-Mix-Videos von K7 und empfanden Laser als versöhnlich.

Wolstenholme

Designer Phil Wolstenholme (links) und Warp-Chef Steve Beckett, Sheffield, 2009. Foto: Thaddeus Herrmann

Natürlich ist die zweite Ausgabe der Artificial Intelligence besser. Zwei Jahre später war aber auch die Musik einfach nochmals um Lichtjahre nach vorne marschiert. Diese Compilation klingt heute wie eine Live-Reportage aus dem Kommandozentrum der Entscheider:innen, wie die Twitter-Coverage einer Zeitenwende. Dancefloor ja/nein. 4/4 ja/nein. Hauptsache dabei ja/nein. 30 Jahre später heißt die Antwort mit Wucht und Nachhall: ja!

PS:
Ich kaufte die Compilation damals auf CD, wenn ich mich recht erinnere. Gefunden habe ich sie nicht mehr. Was vielleicht auch damit zu tun hat, dass CDs in den frühen 1990er-Jahren oft mit diesem goldenen Coating gepresst wurden. Das sah schick aus, oxidierte aber oft nach wenigen Jahren. Auf meiner Polygon-Window-CD züchte ich mittlerweile Pilze – abspielen kann ich die schon lange nicht mehr. Vinyl? Super. Aber irgendwie auch egal. Wie vieles von damals. Leider.

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