Plattenkritik: Duet Emmo – Or So It SeemsZwischen Pop und elektronischem Experiment, 1983

Duet Emmo Or So It Seems Banner

Elektronische Musik war nie generischer als 2022. Der Dancefloor sucht nach neuer Crowd, Künstler:innen sind pleite, Festival-Bookings nicht mehr das, war sie mal waren. Halten wir einen Moment inne. Und hören ein Album von 1983, das heute wiederveröffentlicht wird. Damals trafen sich drei Musiker über den Jahreswechsel im Studio, um eine Platte aufzunehmen, die noch heute nachhallt. Zwischen Pop und Geräusch entstand hier ein Gesamtkunstwerk, das dem elendigen Begriff der „Zukunft“ ein fluides Korsett spendierte.

Ich bin zwar nicht raus aus dem Alltag als Musikredakteur, irgendwie dann aber eben doch. Ich höre mir nicht mehr alles an, was die Promo-Maschinen in meine Inbox pumpen, habe mich von bestimmten Verteilern sogar abgemeldet. Noch vor wenigen Jahren wäre das ein unvorstellbarer Move gewesen, heute jedoch ist es fast eine Befreiung. Ich finde es immer schwieriger, Musik überhaupt noch ernst zu nehmen, was vor allem mit den erwähnten Promo-Maschinen zu tun hat. Deren Macher:innen haben das Storytelling für sich entdeckt und stricken – auf Wunsch der Musiker:innen, Labels oder aus eigener Motivation – die absurdesten Geschichten um Releases herum, oft gespickt mit persönlichen Details der Urheber:innen, deren Kommunikation in die Öffentlichkeit allein schön übergriffig ist. Ein falsch verstandener Versuch, „Nähe“ zum Publikum aufzubauen. Ist das die Bankrotterklärung eines respektvollen Umgangs miteinander? Die nicht zu vermeidende Konsequenz nach zu vielen Jahren Streaming? Der rettende Strohhalm, um die Fans weiter bei der Stange zu halten? Lächerlich. Und vor allem perfide. Da empfinde ich solch wirklich informative Sätze geradezu als Wohltat:

Daniel Miller (The Normal / Silicon Teens und Gründer von Mute), Edvard Graham Lewis und B.C. Gilbert (von Wire, Dome und weiteren Soloprojekten) waren mit ihrer eigenen Arbeit beschäftigt, nahmen sich aber Zeit, um zwischen dem zweiten Weihnachtsfeiertag und Silvester 1981 – 1982 mit Ingenieur Eric Radcliffe in ihrem bevorzugten Studio Blackwing in London ein Album aufzunehmen.

Duet Emmo Danile Miller Graham Lewis BC Gilbert Porträt 1982

Foto: Angela Conway

Mehr muss ich nicht wissen. Wie erfrischend! Hier sind artists auf keiner journey, hier wird nichts reflected. Tatsächlich treffen sich einfach drei Jungs und machen über die Feiertage Musik. Und produzieren nebenher einen Klassiker, der nun – fast 40 Jahre später – erstmals wieder auf Vinyl veröffentlicht wird.

Um einigermaßen am Ball zu bleiben, studiere ich mehr oder weniger gewissenhaft die Newsletter meiner liebsten Online-Läden. Diese Mailings sind randvoll mit kantiger, eher schwierig vermarktbarer Musik. Ich lese die Texte zu den Releases, höre rein und denke: Ja, toll, aber hört doch einfach die Originale. „Or So It Seems“ ist so ein Original.

Schauen wir uns die Besetzung an: Daniel Miller produzierte mit „TVOD / Warm Leatherette“ 1978 eine 7" als „The Normal“, die nicht nur den ungewollten Startschuss für sein Label Mute Records markierte, sondern bis heute als Prototyp elektronischer Popmusik nachhallt und Gewicht hat. Seine eigene musikalische Karriere hat er – leider! – nicht wirklich verfolgt. Und doch als „Silicon Teens“ noch ein Album vorgelegt, mit dem sich auch heute noch jede Party in wohlig-warmer und doch futuristisch-kickender Nostalgie im besten Sinne zerstören lässt.

Und dann sind da noch die beiden „Wires“ – Bruce Gilbert und Graham Lewis. Zu ihrer Band fand ich nie wirklich einen Zugang. Vielleicht müsste ich meinen lieben Freund Oliver Doerell anrufen – ein anerkannter Auskenner – und mir die popmusikalische Tragweite erklären lassen. Doch ich fürchte, dass ich die Arbeit der Musiker:innen immer noch nicht wertschätzen könnte. Graham Lewis' Solo-Projekt „He Said“ verstehe ich hingegen bis in den letzten Edit. Und war vor ziemlich genau einem Jahr einfach zu verpeilt, um die familiären Verbindungen zu begreifen. Shame on me.

Miller, Gilbert und Lewis nahmen also ein gemeinsames Album auf. Das klingt oberflächlich so, wie man sich eine um elektronische Experimente gespannte Arbeit vorstellt. Doch Anfang der 1980er-Jahre war in Sachen elektronischem Pop schon viel passiert. Und es ist wundervoll, diesem Ineinandergreifen der unterschiedlichen musikalischen Gewerke hier nachzuspüren. Natürlich ist das Album voller Geräusch und Industrial-Referenzen. Natürlich ist das nicht durchgehend erträglich. Aber „Or So It Seems“ ist eben auch Pop und/oder Dancefloor. Die ohnehin schon mehr als fette Bassline des Titel-Tracks wird von den drei Boys in „Heart Of Hearts (Or So It Seems)“ nochmals neu kontextualisiert. Mit deepen elektronischen Drums – wohl geschuldet der Erfahrung von Miller mit den 12"-Mixes von Depeche Mode – und einem Groove, der Noise und Pop in einem Slammer vereint. Es ist genau das, was ich heute oft bei Musiker:innen vermisse. Dinge zuzulassen. Die positiv beschienene Idee, dem Schmerz und Struggle, dem konstanten Abarbeiten eine anschlussfähige Hand entgegenzustrecken.

Anschlussfähig ist „Or So It Seems“ bis heute. Natürlich atmen die Tracks den Geist des Analog-Disorientierten. Wahrscheinlich war über die Feiertage rund um das Blackwing-Studio auch einfach kein Späti zu finden, der ein angemessen gekühltes Dosenbier offerierte. Und – Bier hin oder her – natürlich treffen hier auch drei musikalische Charaktere aufeinander, deren Schnittmenge auf dem Papier vielleicht groß schien, in echt und Wirklichkeit dann aber doch deutlich verblasste. Das ist eine – meine – These. Vielleicht sangen, pfiffen und beatboxten alle drei aber auch den B-Teil der 12"-Version von Depeche Modes „Just Can't Get Enough“. Und die beiden Engineers Eric Radcliffe und John Fryer – über die ungebingt mal ein Buch geschrieben, mindestens aber eine Video-Doku gedreht werden müsste – wussten nicht, wie ihnen geschah.

Das Klanguniversum von Duet Emmo war 1983 kantig. Und ist es 2022 immer noch. Ein gutes Zeichen. Die Tracks passen nach wie vor oder wieder in die Zeit, strahlen aber natürlich ob ihres Alters eine gewisse abgehangene Coolness aus. Da sind wir wieder beim „Original“. In der Mischung aus Wehmut, technischer Überforderung, radikaler Produktion und offenherziger Melancholie ist „Or So it Seems“ nicht nur ein Zeugnis der Zeit, in der das Album produziert wurde, sondern auch ein Fixpunkt der Musikgeschichte. Das galt damals wie heute.

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