„Kritik üben und reflektieren, ohne gleich Zensur zu schreien“Jens Balzer über sein neues Buch „Ethik der Appropriation“

Jens Balzer Start Portrait

Foto: Sven Marquardt

Die Debatten über Cultural Appropriation in der Kulturwelt erhitzen seit Jahren die Gemüter. Cancel Culture auf der einen Seite, das Proklamieren von Zensur und Faschismus auf der anderen Seite – die Fronten scheinen unwiderruflich verhärtet. Es werden Reggae-Konzerte in Bern wegen Dreadlocks auf der Bühne abgebrochen. Modelabels, Rapper:innen, aber auch Köch:innen und Restaurants werden der kulturellen Aneignung bezichtigt. Das Thema beschäftigt Social Media und Feuilleton gleichermaßen. Der Autor und Musikjournalist Jens Balzer beschreibt in seinem neuen Buch „Ethik der Appropriation“, dass indes Kultur ohne Aneignungsprozesse gar nicht denkbar ist, und fordert zum sachlichen Diskurs und zum Zuhören auf. Über das Thema diskutiert Balzer auf dem kommenden Festival Pop-Kultur mit Aida Baghernejad und Julian Werner. Im Interview mit Das Filter erklärt er, welche Rolle Winnetou in seiner Auseinandersetzung spielt und dass wir einen angepassten Umgang mit Begriffen wie Aneignung benötigen. Auch weil die Aneignungsdebatte hierzulande genauso angeeignet wurde.

Aus welcher Motivation, aus welchem Gefühl heraus ist dein Buch „Ethik der Appropriation“ entstanden? Wie ordnest du die Schrift selber in die aktuellen Diskurse ein?
Ich habe diverse pophistorische Bücher geschrieben. Dabei bin ich immer wieder auf das Thema der Cultural Appropriation gestoßen. Da war zum einen ein Buch über die 70er. Da ging es unter anderem darum, warum die Linke Palästinenser-Tücher trug. Das Arafat-Tuch war ein beliebtes Fashion-Item und in West-Deutschland so gesehen eine erste Form der Appropriation. Zuletzt habe ich ein Buch über Pop und Schlager geschrieben. Die deutsche Popgeschichte ist ohne kulturelle Aneignung gar nicht denkbar. Als Kind bin ich einmal im Jahr mit meinem Vater zu den Karl-May-Spielen nach Bad Segeberg gefahren und auch da ist das Thema präsent. In den letzten Jahren gab es viele erhitzte Debatten, die wir alle kennen. Marc Jacobs, der Models mit Dreadlocks ausstattete. Kendrick Lamar, der einen Shitstorm erntete, weil er sich Kung Fu Kenny nannte. Das ging in verschiedene Richtungen und da gab es sehr schrille, krasse und polarisierte Diskussionen. Das sind Diskussionen, die richtig, wichtig und nachvollziehbar sind. Andererseits fällt das oft auf einen begrifflichen und intellektuellen Stand zurück, von dem ich dachte, dass wir den in den 90ern bereits erreicht hätten. Das wurde in den frühen Post-Colonial-Studies diskutiert. Unter anderem in der Spex, von Paul Gilroy, der „Black Atlantic“ geschrieben hat, was für mich bis heute ein Schlüsselwerk ist. Aber auch Texte von Stuart Hall und Édouard Glissant. Die extrem polarisierten Debatten der Gegenwart fallen auf einen Reflektionsstand zurück, den es in den frühen Post-Colonial-Studies schon mal gab. Daher wollte ich versuchen, das Phänomen von allen Seiten zu betrachten.

Du beschreibst das auch aus einer persönlichen Perspektive.
Das betrifft meine eigene Erfahrung. Wie stehe ich als alter, weißer Mann dazu, der als kleiner Junge Winnetou toll gefunden hat?

Darf ich mich dazu überhaupt äußern?
Das auch. Die Frage war, woher kam überhaupt die Begeisterung in Deutschland für diese Winnetou-Figur. Um so mehr man reinzoomt, desto mehr hat das mit der historischen Entlastung mit der eigenen NS-Vergangenheit zu tun – diese Täter-Opfer-Umkehr. Man sympathisierte plötzlich mit den bedrohten Indianern, die von einem Genozid bedroht werden. Meine Idee bzw. Herausforderung war, das so aufzuschreiben, dass man aus der polarisierten Debatte herauskommt. Dass wir uns einen Augenblick besinnen und fragen: Worum geht es da eigentlich? Ohne, dass es ständig um Cancel Culture auf der einen und „White Privilege“ auf der anderen Seite geht.

Ist das vielleicht auch eine Frage der Generationen? Auch weil die Gen Z, der häufig die Cancel Culture zugeschrieben wird, den diskursiven Background der Vergangenheit, wie du ihn schilderst, vielleicht auch gar nicht kennt?
Das ist aber erstmal niemandem vorzuwerfen. Wenn man eine emanzipatorische Sicht darauf werfen möchte, dann muss man einerseits erkennen, dass es unterschiedliche Identitäten gibt. Es gibt eine Schwarze Kultur und eine weiße Kultur. Das ist notwendig, um diese Debatten zu führen. Dann ist die andere emanzipatorische Position völlig nachvollziehbar, die sagt: Wir sind nur frei, wenn wir nicht identisch sind, und indem wir den Identitätszwang abwerfen. Die bleibende Frage ist: Wie kann man diese beiden unversöhnlichen Pole miteinander in Kommunikation bringen? Wir wollen beides. Wir wollen Identitäten verteidigen und wir wollen uns gegen Identitäten verteidigen. Gerade bei Gilroy und Glissant gab es in den 80er- und 90er-Jahren Ansätze, wie man damit umgeht. Und das scheint mir in den heutigen Debatten verloren gegangen zu sein. Ich mache aber der 25-jährigen Aktivistin keinen Vorwurf, dass sie diese Texte mal gelesen haben soll. Viel mehr könnte es sich lohnen, das mal zu lesen.

Jens Balzer Ethik der Appropriation Cover

Jens Balzer, „Ethik der Appropriation“ ist bei Matthes & Seitz erschienen.

Du bemühst dich um Moderation und ein Konzept der Versöhnung. Wie erklärst du dir, dass in den letzten Jahren das Thema so groß geworden ist? Auch aus Sicht der Medien? Salopp gefragt: Haben wir keine anderen Probleme?
Andere Probleme gibt es ohne Frage. Das könnte man aber über jeden kulturellen Diskurs sagen. Es gibt immer wichtigere Dinge, als Musik zu machen. Wir haben es dennoch mit einem erneuten Erstarken imperialistischer Mächte zu tun. Da gehört Kulturimperialismus immer dazu. Das ist zwar kein Thema in dem Buch, aber das imperialistische Verhältnis von Russland gegenüber der Ukraine, so wie der russische Versuch die ukrainische Kultur auszulöschen – das spielt eine Rolle. Da wäre der nächste Schritt, zu überlegen, wie Debatten der Cultural Appropriation darauf übertragbar sind. Wieso das Thema medial so groß ist? Das ist genau die Spirale, aus der ich gerne rauskommen will. Es gibt auf der einen Seite ein gut funktionierendes Zusammenspiel von überhitzten, wahrscheinlich jungen Aktivist:innen aus Ortsgruppen in Hannover, Bern und anderswo, die gerne mal Unsinn machen. Unsinn deshalb, weil ich dabei an meine Zeit im Fachschaftsrat Germanistik in den 80ern denke oder an die Rote Flora in Hamburg, wo wir ebenfalls ständig dachten, im Recht zu sein und all das verbieten zu müssen, was wir auf der falschen Seite der Geschichte hielten. Dann gibt es das große konservative Feuilleton, – das sah man gerade bei der Dreadlock-Geschichte in Bern –, das nahezu darauf gewartet hat, dass irgendein Linker irgendeine Dummheit macht, um dort mit großen Truppen einzureiten und alles platt zu machen. Beide Pole schaukeln sich hoch. Die mediale Macht, die sagt, dass Cancel Culture ein neuer Faschismus sei, ist hier aber wesentlich größer, als die Macht der Aktivist:innen, die sich eher auf Twitter und Instagram austoben. Ob man die Seiten miteinander versöhnen kann, weiß ich nicht. Dafür scheinen mir die Rollen zu verfestigt. Aber allen, die dieser Polarisierung müde sind, wollte ich zumindest ein Denkangebot machen. Und jeder, der mir widerspricht, das sei zu kurz gedacht oder denkt, ich verwende die falschen Begriffe, den möchte ich herzlich willkommen heißen, darüber zu reden: Hauptsache wir denken überhaupt über das Thema nach.

Du hattest das Reggae-Konzert in Bern angesprochen und gerade von der konservativen Seite fällt hier oft das Wort Zensur wie auch der Faschismus-Vergleich.
Bei der NZZ war dann plötzlich die Rede vom Völkischen. In Paul Gilroys „Black Atlantic“ gibt es aber auch die Auseinandersetzung mit dem Black Nationalism. Auch Gilroy selbst benutzt den Begriff des Völkischen. Ihm geht es darum, dass man den HipHop nicht als afroamerikanische Kultur eingemeinden kann, weil es jamaikanische Wurzeln hat und die diasporische Kultur darin eine wesentliche Traditionslinie ist. Es gibt den Begriff also auf beiden Seiten. Es ist aber was völlig anderes, wenn Paul Gilroy damit hantiert oder ein konservativer Vogel von der NZZ.

„Welches Bild des Reggae haben wir, wenn weiße Schweizer sich hinstellen und Two-Tone-Musik machen? Welches Bild wird konsumiert? Zudem, wenn etwas Indigenes verteidigt werden soll, sollte man sich fragen, was ist das Indigene am Reggae? Es sind unzählige Traditionslinien, die in den 50ern und 60ern dazu geführt haben, dass in Jamaika amerikanische und afrikanische Musiken mit Tanzstilen aus der Karibik zu Reggae zusammen gefunden haben.“

Du umgehst das Begriffspaar Appropriation und Appreciation, also kulturelle Aneignung und Wertschätzung, was heute immer wieder benutzt wird. Sollte man von negativer Aneignung immer dann sprechen, wenn ein kolonialer Hintergrund zu finden ist? Wenn Weiße Profit aus Schwarzer Kultur schlagen?
Das ist genau der Ursprung der Debatte. Es geht um Kolonialismus, Post-Kolonialismus und Sklaverei. Die Basis ist die Kritik afroamerikanischer Künstler:innen und Historiker:innen, dass sich Weiße der Schwarzen Kunst bemächtigen, und dadurch die Schwarzen Pionier:innen unsichtbar gemacht werden. Und es sollte für alle klar sein, dass verspottende Arten der Appropriation wie Blackfacing nicht akzeptabel sind. Wie beschreibt man aber den Ausbeutungsprozess? Ein Teil hat bestimmt ökonomische Aspekte, aber ein anderer Teil ist im Kontext des kolonisierenden bzw. de-koloniserenden Denkens ein bisschen komplizierter. Es geht nicht nur um Ökonomie. Welches Bild des Reggae haben wir, wenn weiße Schweizer sich hinstellen und Two-Tone-Musik machen? Welches Bild wird konsumiert? Zudem, wenn etwas Indigenes verteidigt werden soll, sollte man sich fragen, was ist das Indigene am Reggae? Es sind unzählige Traditionslinien, die in den 50ern und 60ern dazu geführt haben, dass in Jamaika amerikanische und afrikanische Musiken mit Tanzstilen aus der Karibik zu Reggae zusammen gefunden haben. So gesehen ist Reggae eine fast post-moderne, eklektizistische Musikform. Die Soundsystems kamen aus Jamaika in die Bronx, aus dem Toasting entstand der Rap. Das ist eine Kette von Ereignissen, die zu diesen Sounds geführt hat. Wenn es aber heißt, es müsse etwas Indigenes geschützt werden, setzt man die Kultur Jamaikas mit etwas ursprünglich Stammeshaftem gleich. Das scheint mir in der Wahrnehmung genauso kolonialistisch. Das muss man strukturell analysieren.

Die von dir geforderte Ethik der Appropriation ist eine intellektuelle, gesellschaftliche und kulturelle Leistung, die in Zeiten von extrem verkürzten Debatten und Social Media fast unmöglich scheint. Wie kann man das Konzept handhabbar machen bzw. praktisch umsetzen? Wie schafft man es, zu sensibilisieren? Die Realität ist häufig komplexer, als man wahrhaben möchte. Bob Marleys Vater war weißer Soldat, was zum einen dazu führte, dass der Vater mach der Geburt seines Kindes aus der Armee entlassen wurde, wiederum aber auch Bob Marley von der Schwarzen Community nie akzeptiert wurde.
Bob Marley wurde auch deshalb zum internationalen Star, weil ihm Chris Blackwell ein traditionelles „weißes“ Rock-Outfit übergezogen hat. Dabei ist der frühe Dancehall-Marley doch viel interessanter als der späte Blackwell-Marley. Ich sehe mich allerdings nicht richtig zuständig, praktische Lösungsansätze zu finden – wenn ich das nur wüsste (lacht). Aber es muss möglich sein, sich über solche Fragen zu verständigen, ohne dass jemand gleich Zensur schreit. Da ist zum einen die Aufgabe der Kritik, zu sagen, das ist vielleicht nicht in Ordnung oder denkt mal darüber nach, was ihr da macht. Und jene, die in die Kritik geraten, können anfangen, darüber zu reflektieren und ggf. Konsequenzen daraus ziehen. Natürlich darf man weiße Menschen fragen, ob es wirklich so geil ist, Dreadlocks zu tragen. Sie fragen, was deren Perspektive auf eine Kultur ist, die offenbar nicht ihre ist. Das sind Diskussionen, die man führen kann, ohne dass gleich eine Band von der Bühne geholt wird oder Konzerte abgesagt werden. Viele Journalist:innen sagen, dass man das Tempo ein bisschen aus den Debatten rausholen sollte, statt nur auf Twitter-Hashtags zu gucken. Und zu fragen, ob am Ende alles nicht nur instrumentalisiert wird, um der Linken eins rein zu drücken. Damit es am Ende heißt: die Woken sind alles nur Idioten. Es ist möglich, Kritik zu üben und zu reflektieren, ohne gleichzeitig Zensur zu schreien.

„Wir sollten anfangen, miteinander zu reden. Das Zuhören vermisse ich. Von deutscher Seite aus sollten wir wissen, dass auch die Aneignungsdebatte angeeignet wurde. Das kommt eindeutig aus den USA, Großbritannien und dem karibischen Raum. Wenn wir diskutieren, was die Karl-May-Spiele mit der westdeutschen Verdrängung der Shoah zu tun haben, dann muss man die Begriffe anpassen und überdenken.“

Aber offenbar waren es weder Menschen aus Jamaika noch aus Afrika, die dort ihr „Unwohlsein“ geäußert haben.
Das sehe ich auch so. Wir sollten wieder anfangen, miteinander zu reden. Das Zuhören vermisse ich. Von deutscher Seite aus sollten wir wissen, dass auch die Aneignungsdebatte angeeignet wurde. Das ist etwas, das eindeutig aus den USA, Großbritannien und dem karibischen Raum kommt. Nicht, dass die Begriffe für die hiesigen Debatten nicht fruchtbar sein können und es ist bei weitem nicht so, dass uns das alles nichts angeht. Aber man muss nachdenken, wie man sie benutzt und die intellektuelle Leistung fehlt häufig bei den Debatten auf Sozialen Medien wie Twitter, Facebook und Instagram.

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Pop-Kultur 2022

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