Plattenkritik: The National – First Two Pages Of Frankenstein (4AD)Gut, dass es so gekommen ist

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Mit ihrem neunten Album kehrt die vielleicht wichtigste Popband der Welt zu alter Größe zurück. Findet Thaddeus Herrmann. Warum das so ist? Da ist er sich nicht ganz sicher. Hat wohl was mit Emotionen zu tun.

Try to keep my distance, talking of forgiveness, once upon a poolside, underneath the lights.

Am 4. April 2013 holte ich mir eine epische Erkältung. Ich stand mit Freund C im Innenhof eines Berliner Hotels, in dem damals gerne Musiker:innen abstiegen, und wartete – frierend um den Heizpilz schleichend – darauf, dass The National endlich ihr Record-Release-Konzert beginnen würden: „Trouble Will Find Me“ sollte wenige Tage später erscheinen oder war gerade gedroppt. Das erinnere ich nicht genau. Das Konzert hingegen erinnere ich noch sehr genau, nicht nur dank der Videos, die ich noch immer auf meinem iPhone habe. Dieser Abend in einem viel zu kalten Berlin blieb bislang meine einzige The-National-Show, praktisch ein Club-Gig. Wir waren vielleicht 200 Menschen. Sänger Matt Berninger war ein kleines bisschen angetrunken, das war ganz niedlich. Neben ihm stand ein Notenständer mit den Texten – die der neuen Songs hatte er offenbar noch nicht ganz verinnerlicht. Und er trank Bier aus einem bauchigen 0,3l-Glas. Das fand ich amtlich, sehr korrekt irgendwie. Nach dem Gig fuhr ich nach Hause, feierte einen Tag später meinen Geburtstag, und wiederum einen Tag später fiel ich um und stand erst nach drei Wochen wieder auf.

„Trouble Will Find Me“ war für mich der Abschluss einer Trilogie. Die Songs der drei Alben „Boxer“ (2007), „High Violet“ (2010) und eben „Trouble Will Find Me“ hatten mich davon überzeugt, dass gute Popmusik immer da sein würde, ganz egal, was in den Trend-Schubladen aktuell diskutiert, gefeiert und seziert wurde. Ich war zu dieser Zeit noch vor allem im Techno zu Hause, aber die US-amerikanische Band drückte auf meine Tränendrüsen und fand meinen Dopamin-Schalter. Tolle Musik. Schnörkellos, also angreifbar. Nicht modern, irgendwie aus der Zeit gefallen, bzw. an der Zeit vorbei. Selten wirklich laut, wenn aber, dann auf ungewöhnliche Weise. Und natürlich auch berechenbar, aber bei großen Songs ist das voll ok. Und so elegant die Musik, so verschroben-wundervoll die Lyrics. Fetzen aus der Realität, dem Alltag, den kleinen Problemen und Geschichten, die wir alle jeden Tag vielleicht nicht selbst erleben, aber doch nachfühlen können. Die Texte funktionieren wie ein Spotlight auf das popkulturell-geprägte Aufwachsen, sind eine Referenzmaschine der grobkörnigen Erinnerungen „an früher“. Und weil wir alle mittlerweile immer noch aufwachsen, wird das Früher zur Gegenwart. The National sind die Typen, die im Lieblings-Späti immer dann ihr Bier kaufen, wenn man selbst Nachschub braucht. Ein bisschen wie die Charaktere, die in den Paul-Auster-Filmen „Smoke“ und „Blue In The Face“ an der Ladentheke stehen, immer etwas zu erzählen haben. Die du seit Jahren kennst und eigentlich weißt, dass das alles Quatsch ist. Nur: Bei The National ist das natürlich alles andere als Quatsch. Immer wenn sie ihr Bier kaufen, haben sie neue Songs dabei, die die Welt im Gleichgewicht halten. Auch bei Regen.

I follow you everywhere, how you work the room, don't know how you do it, tangerine perfume

The National 2023

Foto: Josh Goleman

Kein Wunder, dass die Band immer größer und beliebter wurde. Zwischenzeitlich habe ich das jedoch nicht mehr verstanden, denn die beiden folgenden Alben – „Sleep Well Beast“ und „I'm Easy To Find“ – waren für mich eher unentschiedene Werke. Beide LPs hatten gute Tracks, gar keine Frage, funktionierten aber nicht mehr als 100 % wärmende Daunenjacken, als in sich stimmiges In-den-Arm-Nehmen. Vielleicht war das keine Überraschung. Die Band spielte 600 Shows in gefühlt 30 Tagen, füllte Stadien rund um die Welt. Anschauen wollte ich mir das nicht. Die Musik mit so vielen – wirklich: so vielen – Menschen zu erleben, war nichts für mich. Das nennt sich Karriere und fördert die Nachfrage. Bryce und Aaron Dessner produzierten, kuratierten, machten sonst was. Immer mehr Projekte, Verpflichtungen, Ideen. Soundtrack hier, Festival da, Taylor Swift immer präsent. Und dann? Dann kam Corona, irgendwie, wahrscheinlich.

Nicht neu, ganz im Gegenteil

Mit dem neuen Album besinnen sich The National auf das, was sie am besten können: Tracks schreiben, die große Emotionen triggern, ganz egal wie groß oder klein alles dahinter wirklich ist.

Die Gemengelage innerhalb der Band hat mich nie interessiert. Struggle, anderweitige Verwerfungen, Krisen: egal. Ich bin dann eben doch eher seltener im Späti. Das ist auch der Grund, warum ich die Entstehungsgeschichte des neuen Albums „First Two Pages Of Frankenstein“ nicht kenne. Ich will mich auch gar nicht reinlesen in den PR-getriebenen Erklärbären, wie das alles war und ist – und was das alles soll. Die elf neuen Songs stehen für sich. Musikalisch geht hier rein gar nichts voran, um das gleich zu Protokoll zu geben. Eher im Gegenteil. Und das ist der Clou. Das Album symbolisiert für mich einen Rücksturz in die Zeit der Trilogie, die ich schon erwähnt, gefeiert und ins Herz geschlossen habe in diesem Text. Diese Songs ... unfassbar gut. Und sie passen auch wieder auf das Geschichtenerzählen in den Lyrics. Mit dem neuen Album besinnen sich The National auf genau das, was sie am besten können: Tracks schreiben, die Emotionen triggern, ganz egal wie groß oder klein alles dahinter wirklich ist. Das gilt auch für die Features. Sufjan Stevens, Phoebe Bridgers, Taylor Swift ... geschenkt. Schön, aber nicht wichtig. Wichtiger scheint mir, dass der Spirit von „damals“ wieder den Puls des Hier und Jetzt vorgibt – und die Band hoffentlich noch lange begleiten wird. Hört ihr mich, Depeche Mode? Gut. Wollte nur sicher gehen.

I can't keep talking, I can't stop shaking, I can't keep track of what I'm taking.

Tracks wie „Eucalyptus“ führen die Zerbrechlichkeit und künstlerische Zerrissenheit der Band exemplarisch vor. Gut, der Song ist schon jetzt ein Hit und in die Analen der Indie-Hall-Of-Fame eingegangen – ist aber trotz allem „Whataboutism“ kein Song über genau dieses Thema. Und wie Matt Berninger über American-Spirit-Zigaretten und New-Order-T-Shirts („New Order T-Shirt“) singt und reflektiert, ist schon großartig. Kleine Geschichten, kleine Beobachtungen, die einfach wahr sind und denen wir uns nicht entziehen können und auch ganz und gar nicht wollen.

Bei aller Spröde des aktuellen Musikgeschäfts, bei allen unverzichtbaren Debatten, ist ein Album wie „First Two Pages Of Frankenstein“ wichtiger denn je. Die Platte ist ein Breather. Zwischen experimenteller Elektronik, den immer lauter zur Schau gestellten persönlichen Geschichten, holt uns The National in das Kollektive zurück, die gemeinsamen Erfahrungen, dir auch abseits von Twitter, Mastodon und Insta relevant sind und vor allem bleiben. Und zur Musik fallen wir uns für die kommenden 20 Jahre einfach in die Arme.

So wichtig, so schön. So wichtig. „First Two Pages Of Frankenstein“ ist die erste wirklich relevante Platte 2023 in meinem Kosmos. Abgesehen von Everything But The Girls „Fuse“.

This is the closet we've ever been. Don't make this any harder, everybody's waiting, walk-on's almost over, Teenagers on ice.

Unbekannter BekannterEin Portrait des Künstlers Martin Wong

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