„Musik schreibt und produziert Geschichte“Der Schlagzeuger Asher Gamedze im Interview

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Foto: Niclas Weber

Für den südafrikanischen Schlagzeuger Asher Gamedze ist Musik die Bewahrerin der Erinnerung. Damit verbindet er zwei wichtige Bereiche seines Lebens: die Arbeit an seiner Dissertation als Historiker mit der hinter den Trommeln. Dieser Tage erscheint sein zweites Album „Turbulence & Pulse”, eine „spekulative Praxis” seiner Improvisation. Christoph Benkeser hat mit ihm gesprochen.

Hinter ihm stapeln sich Ordner im Regal, rechts lugt das Schlagzeug in den Bildausschnitt. Asher Gamedze, Jahrgang 1989, blickt müde in die Laptopkamera. „Das ist mein Arbeitszimmer”, sagt der Südafrikaner – der Ort des Geschehens für viele seiner Professionen. Gamedze schreibt an seiner Doktorarbeit in Geschichte, organisiert politischen Aktivismus, spielt Schlagzeug.

Er theoretisiert über das Öffnen der Zeit für Gefühle, die sich an kein Zeitgefühl halten. Über die Produktion von Geschichte, die in der Musik immer schon enthalten sei. Und darüber, welche vergangenen Kämpfe die südafrikanische Gesellschaft aus dem Gefängnis der Gegenwart zu führen hat. Dieser Überbau läuft in seiner Musik zusammen. Gamedze vergegenwärtigt mit seiner Arbeit die Vergangenheit.

Asher, du arbeitest an deinem Doktortitel, bist Aktivist und nimmst Musik im Bereich des Free Jazz auf. Außerdem wurdest du erst 1995 geboren …
Ich kam 1989 zur Welt.

Oh, es gibt eine Wikipedia-Seite, auf der steht, dass …
Ich wusste nicht, dass es eine Wikipedia-Seite über mich gibt.

Doch, die gibt es. Mein Punkt ist aber: Bei dir laufen verschiedene Richtungen zusammen. Wie verbindest du sie?
Die einfachste Antwort wäre: Sie verbinden sich alle in mir. Auf einer tieferen Ebene fühlen sie sich aber wie dieselbe Lebenskraft an. Besonders das Musikmachen und die Forschung. In vielerlei Hinsicht fühlen sich die Praxis eines Historikers und jene eines Musikers wie dasselbe an – beide beschäftigen sich mit der Erinnerung und sind an ihr interessiert. Sei es die Erinnerung an musikalische Traditionen und das, was sie ausdrücken, sei es die Erinnerung an historische Ereignisse. Schließlich war Musik schon immer und überall auf der Welt eine Bewahrerin der Erinnerung. Sie schreibt und produziert Geschichte.

Du vergleichst die Arbeit eines Historikers mit der eines Musikers?
Natürlich ist die Arbeit an einer Dissertation eine andere, als wenn ich mich hinters Schlagzeug setze. Letztlich orientiere ich mich in beiden Bereichen an einem politischen Engagement, das all die verschiedenen Dinge, die ich tue, zusammenhält. Die Sache ist: Für jede dieser Tätigkeiten bleibt unterschiedlich viel Zeit. In den letzten Jahren habe ich mich weniger als Aktivist engagiert, weil ich intensiv an meinem PhD gearbeitet habe. Verschiedene Lebensabschnitte gehen mit verschiedenen Aktivitäten einher.

Ich finde deinen Gedanken zum Thema Erinnerung inspirierend. Das bringt etwas in die Musik, oder?
Ein Teil meiner Arbeit besteht darin, etwas zu verdeutlichen, was bereits in der Musik enthalten ist. Dafür habe ich eine bestimmte Sprache entwickelt, die sich unterschiedlich ausdrückt. Wenn wir uns zum Beispiel Musik anhören, die vor uns entstanden ist – und ich spreche vor allem von Schwarzer Musik –, kann man hören, was in ihr vor sich geht. Natürlich muss man diese Musik in ihrem Kontext verstehen. Was bedeutete also ein Lied im Moment, in dem es aufgenommen wurde? Zum Beispiel „Alabama” von Coltrane, „Tears for Johannesburg” von Max Roach oder im südafrikanischen Kontext die Musik von Miriam Makeba. Titel verweisen auf viel umfassendere philosophische und politische Konzepte, die in der Musik immer vorhanden sind. In der Art, wie ich die Dinge konzeptualisiere und ihnen einen Sinn gebe, habe ich einiges davon in meiner eigenen Arbeit deutlicher gemacht. Die Musik ist aber nie ein unbeschriebenes Blatt. Wir müssen genau hinhören – und dadurch etwas über die Kämpfe lernen, in die die Menschen zu dieser Zeit verwickelt waren.

„Man begegnet der Vergangenheit immer nur aus dem Gefängnis der Gegenwart.”

Die Geschichte ist voller Gegenwart, sie ist nie nur Vergangenheit.
Ganz sicher! Man begegnet der Vergangenheit immer nur aus dem Gefängnis der Gegenwart. Sei es bei der Lektüre eines Buches, das vor Jahren geschrieben wurde, oder bei einem Gespräch über das, was gestern passiert ist – zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart besteht immer eine komplexe Beziehung. Eines meiner Lieblingsbücher über die Produktion von Geschichte stammt von einem haitianischen Wissenschaftler namens Michel-Rolph Trouillot. In seinem Buch „Silencing the Past: The Power and the Production of History” untersuchte er, wie es dazu kommt, dass bestimmte Dinge, die geschehen sind, in der Erinnerung der Menschen zum Schweigen gebracht werden. Anders gesagt: Wir können die Vergangenheit nie wirklich kennen, denn alles, was wir haben, ist der Diskurs. Einmal geschehen, ist etwas vorbei. Andererseits gibt es die Tatsache, dass bestimmte historische Ereignisse materielle Spuren in der Geschichtsschreibung hinterlassen. Das kann etwas so Einfaches sein wie: Ein Haus wurde gebaut, und wir können als historische Tatsache sagen, dass es gebaut wurde. Das kann einige der eher postmodernen Geschichtsauffassungen infrage stellen, die besagen, dass alles relativ ist und es keine absolute Wahrheit in einer historischen Erzählung gibt. Natürlich ist die Erzählung mächtig, sie kann eine eigene Kraft entwickeln. Aber es gibt Dinge, die wir über die Vergangenheit wissen können, weil wir Beweise dafür haben.

Du wurdest während der letzten Jahre der südafrikanischen Apartheid geboren. Wie setzt du dich mit dieser Vergangenheit auseinander?
Die Vergangenheit ist Teil der gleichen Geschichte wie die Gegenwart. In Südafrika war die Apartheid ein massives soziales Projekt. Es ging um den Aufbau von Städten und um Landbesitzverhältnisse, von denen viele während der Kolonialzeit geschaffen worden waren. Daraus entstanden gewaltige materielle Formen, in denen Gesellschaften aufgebaut wurden. Sie herrschen noch heute vor. Es gibt keine Möglichkeit, die südafrikanische Gesellschaft zu verstehen, ohne zu verstehen, wie die Apartheid sie geformt hat. Schließlich wird die Gesellschaft noch immer von ihr geprägt. Ihre materielle Struktur – wirtschaftlich, geografisch und in Bezug auf unterschiedliche Klassen – bauen auf denselben Strukturen auf, die sie aufrechterhalten. Diese Strukturen liegen nicht in der Vergangenheit, sie betreffen uns noch immer, weil sie gegenwärtig durch die materielle Infrastruktur der Gesellschaft reproduziert werden.

Es ist wie ein Gespenst aus der Vergangenheit?
Ja, es ist so, als würde man über das Nachleben von Dingen sprechen. Sie haben ein gegenwärtiges Leben, das sich selbst reproduziert.

Du bist in Johannesburg aufgewachsen, richtig?
Ich wurde in Bristol im Vereinigten Königreich geboren. Ab 1995 habe ich in Joburg gelebt. Meine Mutter kommt aus Nordengland. Mein Vater stammt aus Swasiland, Südafrika. Ich glaube, er wollte immer zurück in seine Heimat. Als sich ihm die Gelegenheit bot, zogen wir um.

Bist du in einem musikalischen Haushalt aufgewachsen?
Es lagen nicht unbedingt viele Instrumente rum, und es fanden auch keine Jam-Sessions zu Hause statt, wie man es aus den Geschichten anderer Musiker:innen kennt. Eine meiner Schwestern hatte Keyboardunterricht, eine andere spielte Gitarre. Unsere Eltern ermutigten mich auch zur Musik, vor allem mein Vater. Seine Familie ist sehr musikalisch. Eine meiner Tanten ist professionelle Sängerin, aber seine ganze Familie kann singen - wahrscheinlich wegen der Kirche. Musik war also ein wichtiger Teil des Lebens meiner Eltern, aber sie hatten nie wirklich genug Zeit oder Geld, um Platten zu besitzen. Später im Leben fing mein Vater an, einen Haufen CDs zu horten, die er mochte, als er jünger war.

Möchtest du eine Erinnerung an diese Zeit teilen?
Ich erinnere mich an das erste Mal, als meine Familie einen CD-Player bekam. Es war ein JVC, der auch zwei Kassettendecks und ein Radio hatte. Die erste CD war eine Single von Stevie Wonder mit dem Titel „My Cherie Amour”. Davon abgesehen kann ich mich aber nicht daran erinnern, dass es viel Musik im Haus gab.

Du bist als Jugendlicher nach Kapstadt gezogen.
2009, um zu studieren. Seitdem lebe ich die meiste Zeit über hier.

Asher Gamedze Portrait

Foto: Dylan Valley

Vor kurzem habe ich mit David Durbach gesprochen. Er betreibt das südafrikanische Label Afrosynth. Als wir uns unterhielten, war er gerade dabei, von Johannesburg nach Kapstadt zu ziehen, weil die Lebensbedingungen dort angeblich immer schlechter werden.
Oh, ich möchte wirklich nicht in eine Debatte darüber einsteigen, wie Joburg von den weißen Kapstädtern gesehen wird. Kapstadt ist ein sehr spezieller Raum innerhalb der restlichen Teile Südafrikas, den die Leute häufig aus ihrer Perspektive in Kapstadt lesen.

Das heißt eher eurozentristisch.
So könnte man es beschreiben, ja. Das Land befindet sich in vielerlei Hinsicht in einer Krise. Einige davon spielen sich auf besondere Weise in Johannesburg ab, andere auf nationaler Ebene. Weiße Menschen in Kapstadt verstehen sie aber oft nicht ... na ja, es gibt ein Narrativ der weißen Mittelschicht, die Johannesburg auf genau diese Weise liest, wie du es beschrieben hast. Das hat mit dem zu tun, was Kapstadt historisch für den Rest Südafrikas war, sowie mit einer sehr realen Ressourcen-Krise. Kapstadt mag von einigen der schlimmsten Auswirkungen abgeschirmt sein, aber es ist wichtig zu erkennen, dass es sich um eine nationale Krise handelt und nicht um etwas, das nur Johannesburg betrifft.

Es ist gut, deine Sichtweise zu erfahren, danke! Vielleicht sprechen wir noch über dein Instrument: das Schlagzeug.
Ich habe Ende der Highschool angefangen, Schlagzeug zu spielen – meistens im Jam mit Freunden.

Zu diesem Zeitpunkt hattest du also bereits ein Interesse am Schlagzeug, wie kam es dazu?
Bei einem meiner Freunde stand zu Hause ein Schlagzeug rum. Ich habe es mir ausgeliehen, weil ich dachte, dass es Spaß machen könnte, ein paar Monate darauf herumzuklöppeln.

„Nichts hat mich je so angesprochen wie das Schlagzeug.“

Du hast es nie zurückgegeben, richtig?
Genau. Im Moment, in dem ich mich ans Schlagzeug setzte, sah ich eine tiefe und scheinbar endlose Reise vor mir. Das gilt wahrscheinlich für jeden, der ein Instrument spielt, mit dem er sich „unendlich” fühlt. Ich habe ja auch versucht, Gitarre zu spielen und sogar klassischen Gitarrenunterricht genommen. Aber nichts hat mich je so angesprochen wie das Schlagzeug. Daraufhin sah ich mir Jazz-, Metal- oder Reggae-Konzerte an. Das übertrug sich auch auf mein Spiel, weil ich begann, verschiedene Stile auszuprobieren. Es war eine Zeit in meinem Leben, in der ich jeden Gig annahm, der mir angeboten wurde. Auf diese Weise habe ich eine Menge Musik kennengelernt. Es läuft auf das hinaus, was die Leute als Free Jazz zu bezeichnen versuchen, aber letztlich ist es einfach mein Interesse an der Improvisation, das von Anfang an da war.

Vielleicht hängt es mit deiner Musik zusammen, mir kommt aber immer wieder der Begriff der Zeit in den Sinn.
Das ist eines meiner stärksten Interessen in der Musik. Wenn ich als Schlagzeuger eine Begabung entwickelt habe, ist sie das Aufzeigen eines Gefühls. Ich frage mich also immer: Wie sollte sich ein Musikstück anfühlen? Dieses Gefühl hat einen starken Bezug zur Zeit. Deshalb liebe ich Musik, die sich so anfühlt, als ob sie sich in mehreren Zeitebenen abspielt. Es geht um Dissonanz und Spannung, aber auch um eine autonome Bewegung der Musik. Natürlich, jeder und jede ist für die Zeit verantwortlich. Und jeder sollte an die Zeit denken. Dennoch hat der Schlagzeuger einen überproportionalen Einfluss auf das gesamte Zeitempfinden. Es geht darum, ob man gegen ein dominantes Gefühl spielt oder dieses dominante Gefühl ausspielt.

„Menschen, die eine radikale Veränderung in dieser Gesellschaft anstreben, können das niemals alleine schaffen. Selbst wenn man nur seine eigenen Songs spielt, ist man nie alleine.“

Mich interessiert die Art und Weise, wie du über dieses Gefühl sprichst. Könntest du es näher beschreiben?
Einer meiner Lieblingsausdrücke dafür ist der Titel meines neuen Albums: „Turbulence and Pulse”. Der Titel stammt von Fred Moten, einem Gelehrten aus den USA, der etwas über mein Spiel auf dem ersten Album sagte. Es geht um das Zusammenspiel von Bewegung, die turbulent und chaotisch ist, aber gleichzeitig auch wie ein Puls wirkt, der regelmäßig ist. Etwas Ähnliches kann man zum Beispiel im Schlagzeugspiel von Rashied Ali, Sunny Murray und Milford Graves hören. Sie haben die Zeit für vielfältige Gefühle geöffnet. Gleichzeitig kann man Elvin Jones mit dem Coltrane-Quartett zuhören, und man bekommt ein Feeling von unstillbarer, treibender Bewegung, ein unglaubliches Gefühl von Schwung. Das Unglaubliche daran ist, dass alle an ein Zeitgefühl gebunden sind.

Das erinnert mich an etwas, das du über „spekulative Praxis” gesagt hast. Du komponierst das Schlagzeug als Grundlage, auf der andere improvisieren können.
Ja. Die Komposition wird zum Anlass für unser gemeinsames Spiel, bei dem eine gewisse Magie entstehen kann, sofern wir eine Richtung einschlagen, die nicht vorab festgelegt ist.

Asher Gamedze Potrait 02

Foto: Dylan Valley

Die Idee eines Kollektivs ist in diesem Ansatz stark verankert, oder?
Auf jeden Fall. Ob es sich um eine Band, eine Familie oder ein politisches Kollektiv handelt, die Idee eines Ensembles, das sich zusammenfindet, um etwas zu organisieren, ist die Wurzel von allem. Ich meine: Menschen, die eine radikale Veränderung in dieser Gesellschaft anstreben, können das niemals alleine schaffen. Selbst wenn man nur seine eigenen Songs spielt, ist man nie alleine.

Es geht darum, die richtigen Leute zu finden, die einen beeinflussen.
Was in meiner Musik passiert, ist von Dingen geprägt, die nicht die Musik selbst sind. Es geht um die Beziehung, die man mit einer Person hat. Das drückt sich in der Musik aus. Deshalb habe ich die Leute, mit denen ich spiele, sehr bewusst ausgewählt. Sie alle teilen die Offenheit dafür, wohin uns die Musik führt.

Mir gefällt, wie du es formulierst: sehen, wo die Musik uns hinführt. Das setzt voraus, dass man Vertrauen hat in das, was passieren kann.
Richtig, allerdings wird es immer schwierig sein, das Improvisieren in Bezug auf Sprache und ein materialistisches Weltbild zu theoretisieren. Kein Wunder, dass es dieses klischeehafte Sprichwort gibt: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.

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