Dubplate-Tausch unter den Schleierwolken modularer KlassikSpecial Request, Pessimist & Karim Maas, Caterina Barbieri – drei Alben, drei Meinungen
31.5.2019 • Sounds – Gespräch: Christian Blumberg, Kristoffer Cornils, Thaddeus HerrmannZwischen Breakbeats im Springbreak-Modus, gräulicher Sound-Design-Suspense und kompositorisch überzeugendem Modular-Narrativ steht die Roundtable-Gang dieses Mal auf dem Standstreifen der Musikkritik und blickt in den Sonnenuntergang der Genreschubladen. Paul Woolford aka Special Request hat auf „Vortex“ seinen eigenen Breakbeat-Jungbrunnen erst gemauert, dann befüllt und ist schließlich beherzt hineingesprungen. Darkness raus, Neon rein – da nimmt das Continuum wie von selbst Reißaus. Vielleicht trifft es auf der Flucht irgendwo Pessimist und Karim Maas, die auf ihrem gemeinsamen Album ihre Breakbeat-Eskapaden Breakbeat-Eskapaden sein lassen und grau-grummelnde Langsamkeit zur neuen Final Frontier der Klangforschung erklären. Über all das kann die Italienerin Caterina Barbieri nur lächeln, auch wenn das Cover ihres neuen Album tatsächlich grau ist. Denn sie legt eine Synthesizer-Platte biblischen Ausmaßes vor. Eine Platte, für die Bob Moog sich selber exhumieren würde, nur um am Grab von Don Buchla eine Oszillator-Kerze anzuzünden. Mit anderen Worten: Alles wie immer, wenn zum Illbient am runden Tisch Erdbeeren an Mitsubishi-Schaum serviert werden.
Special Request - Vortex (Houndstooth)
Thaddeus: Was bisher geschah: Paul Woolford hat sich in den vergangenen Jahren so dermaßen erst in die Breakbeats reingedreht, dass er sich sofort danach über die Bassdrum-Leiter wieder in das Brit-Rock-approvte Mega-Studio abseilte und seinen Sound fast schon unverschämt hochgejazzt hat, dass ihm gar nichts anderes übrig blieb, als von vorne anzufangen, um sich morgens noch mit Respekt im Spiegel anschauen zu können. Das ist „Vortex“. Kreuz und quer durch die Rave-Historie, quietschebunt, mal breakig, mal gabberig, mal einfach nur prollig und meistens sehr humorvoll. Das Problem könnte nur sein, dass diesen Humor heute niemand mehr so richtig versteht. Aber das wird die Zeit dann irgendwann zeigen. Vielleicht. Vielleicht auch nicht.
Christian: Also mein Humor ist das. Nach dem letzten, sehr ernsthaften Album hätte Woolford sich ja auch ans große Autoren-Techno-Album wagen können. Und dann saß er da, vier Meter Mischpult vor sich. Und dachte: „Ach scheiß drauf, lass mal lieber Spaß haben”. Woraufhin er das Tempo hoch gezogen und all diese geil überdrehten Sachen gemacht hat. Wie in dem tollen Titelstück mit seinem exzessiven Pitching – das es übrigens auf Vinyl in zwei Versionen gibt: Einmal bei 150 bpm, dann nochmal in Woolfords „altem“ Tempo bei 135. Gerade hintenraus lockert das Album die Zügel nochmal, es funktioniert da plötzlich als Mix. Und endet mit „A Gargantuan Melting Face Floating Effortlessly Through The Stratosphere“ mit einem wirklich denkwürdigen Track, der wie Hardcore aus Ponyville klingt. Man könnte meinen, Woolford sei wieder 20 Jahre alt.
Thaddeus: Das klingt alles erstaunlich befreit von was auch immer. Berechnend, klar, aber auch befreit. Gefällt mir ganz gut. Vor allem weil die überbordende Schwere seiner Bässe seiner letzten Produktionen wirklich zu viel für meinen Geschmack wurde. Dieses Doc-Scottige von anno 1996 hat sich einfach erledigt. Ich fand es zwar ganz gut, dass er das zu Beginn von Special Request so zitathaft einsetzte, irgendwann jedoch wurde es zum prägenden Teil seiner eigenen Sprache. Und das hat nicht funktioniert – oder nicht mehr funktioniert, es erschöpfte sich. Die Tracks hier sind einfach ein Ausflug ins Rave-Museum – ein ernstgemeinter Ausflug. Da lasse ich mich gerne drauf ein. Auch das Spiel mit dem Wording von damals ist gut. „Ardkore Dolphin“. So kacke kann kein Mix-Tape klingen, dass es so einen Titel verdient hätte.
Christian: Super Name. Ich würde alles ungehört kaufen, was so heißt. Solche Titel sind aber auch Teil dessen, was vielleicht ein Trick des Albums ist. So entfesselt spaßig und ungestüm das wirkt, dahinter steckt auch erkennbar viel Arbeit, viel ausgefeilte Produktion.
Kristoffer: Hi.
Thaddeus: Na? Wir haben schon mal angefangen. Uns lag ein Break quer. Alles so vortexig hier.
Kristoffer: Gut, dann übernehme ich einfach mal, spiele aber den Ball gleich zurück. Inwiefern „berechnend“, Thaddi? Als Behauptung ist das sehr interessant.
Thaddeus: Berechnend im Sinne von: Woolford hat die Zeit, in der diese Musik ursprünglich erfunden und gefeiert wurde, miterlebt. Wer dann heute so eine Platte macht, erinnert sich ganz automatisch an die „besten Momente“. Er weiß, was er tut. Ist auch vollkommen ok so, auch wenn die Geschichte eigentlich auserzählt ist.
„Das ist eigentlich ein Statement gegen den Zeitgeist im Geiste des Zeitgeists. Irre meta!“
Kristoffer: Da würde ich zumindest halb widersprechen. Auserzählt vielleicht schon, aber das hindert die Clubszene allenthalben ja nie, die Sache nochmal runterzuleiern. Diese irren, flipperigen Hardcore-Geschichten, Gabber, hochgepitchter Techno mit Trash-Ornamentalik – das ist alles sehr, sehr now, wiedergekäut von einer Generation von Techno-Kids, die zwar nicht dabei waren, deshalb aber umso mehr aufdrehen. So wie auch gesamtgesellschaftlich die Neunziger endlich (?) die Achtziger als den Fixpunkt unserer Nostalgie abzulösen scheinen. Fantazia, Fila, whatever: Es gibt eine große Bewegung, die zurück zu den Breaks, zur Ekstase und zur kongenialen Blödheit der frühen Rave-Ära zurück will. Geht 2019 unter ganz anderen Vorzeichen natürlich schlicht nicht, hat sich als Ästhetik aber langsam etabliert. Und jetzt kommt ein Dabeigewesener reingegrätscht und lässt in Windeseile so ein Album – wohl der Auftakt einer Viererserie – rausflutschen. Das ist eigentlich ein Statement gegen den Zeitgeist im Geiste des Zeitgeists. Irre meta! Unterhalb der Metaebene mach’ ich mir im Keller aber ein Knicklicht an und werf’ ‘ne Mitsubishi. Funktioniert schon schön als Platte.
Thaddeus: Volle Zustimmung. Ich verstricke mich hier schon wieder in ungewollter Skepsis den hehren Absichten des Urhebers gegenüber. Da lenke ich lieber schnell ab und droppe ein Zitat aus einem Buch aus den 90ern, dessen Titel und Autor mir zwar entfallen, eben jenes Zitat aber in Erinnerung geblieben ist: „Fuck the Filas, you never hear them coming.“
Kristoffer: So hatte ich das mitnichten verstanden! Tatsächlich aber habe ich mich gefragt: Wie berechnend interveniert hier jemand in die allgegenwärtige Break-Manie als einer, der sie vor ein paar Jahren erst massiv mit angestoßen hat?
Christian: Ist es nicht immer schwierig, jemandem kühle Berechnung zu unterstellen, nur weil er etwas macht, was dem Zeitgeist Tribut zollt oder davon beeinflusst ist? Das klingt gleich so vorwurfsvoll nach „Fähnchen im Wind“. Moden sind aber doch etwas zum sich Anziehen.
Kristoffer: Das muss damit ja gar nicht gesagt sein! Berechnend kann in dem Fall ja auch heißen: Das ist ein künstlerisches Statement, das den aktuellen Trend vorzuführen versucht.
Christian: Vorführen klingt aber wieder so nach: Ich halte den jungen Harddancer*innen jetzt mal den Spiegel vor. Ich bin mir echt nicht so sicher, ob „Vortex“ so viel Meta in sich trägt, oder ob das nicht eher ein Album sein soll, das am Meta bewusst vorbei steppt.
Kristoffer: Okay, vorführen ist natürlich als Begriff sehr suggestiv. Ich denke nur eben, dass Woolford ja schon sieht, was gerade abgeht – der ist informiert. Für eine neuere EP hat er Anastasia Kristensen als Remixerin engagiert, die gehört auch zu den Techno-DJs, die viel Breaks und Freude in ihre Sets einstreuen. Deswegen hatte ich mich nur gefragt, wie bewusst „Vortex“ sich da positioniert.
Christian: Super informiert, das auf jeden Fall. Bewusst auch. Aber gerne wertfrei.
Kristoffer: Ich verlass mal die Metaebene und betrete den Boden der Tatsachen: Glaubt ihr, das läuft als LP bei euch noch in ein paar Monaten durch? Ich finde sie super, ich habe einen irren Spaß dran. Aber wie bei allem, was tendenziell, na ja, witzig und überdreht ist, stellt sich bei mir schnell die Langeweile ein. Noch ist das nicht der Fall, aber ich seh’s schon kommen, dass ich „Vortex“ beim Jahresendlistenschreiben nicht mehr im Kopf haben werde.
„Hören wir „Vortex“ lieber als Compilation oder einfach nur als Angebot von Tracks, die man früher in DJ-Kreisen auf Dubplate getauscht hätte.“
Thaddeus: Das ist auch vollkommen in Ordnung. Ich halte diese Sammlung von Tracks auch nicht wirklich für ein Album. Hören wir es lieber als Compilation oder von mir aus einfach nur als Angebot von Tracks, die man früher in DJ-Kreisen auf Dubplate getauscht hätte. Auch die wenigen Künstler*innen, die damals schon Alben veröffentlicht haben, hielten es genau so. Gut, man könnte argumentieren, dass es bei Altern-8 eine Ausnahme gab, aber auch nur, weil das so einen Novelty-Effekt hatte. Das sind Tracks – Punkt. An die erinnert man sich mal, hört wieder zwei, drei, skippt ein bisschen rum und fertig. Das macht die Stücke nicht schlechter, aber als zusammenhängendes Etwas höre ich das nicht.
Kristoffer: Shuffle-Mode-Ardkore! In deiner Workout-Playlist bleiben doch aber bestimmt ein paar hängen, oder Christian?
Christian Sicher. Als subversives Element in meiner 'Deep Focus'-Playlist würde ich es auch gerne sehen. Jahresendlisten machen mag ich dagegen nicht, aber wenn, dann würde sich „Vortex“ wahrscheinlich nicht gerade aufdrängen. Vermutlich bleibt es nicht hängen. Aber ach, was bleibt schon? Hier und jetzt höre ich das tatsächlich sehr gerne.
Kristoffer: Also doch was für den Zeitgeist. Den dreht aktuell auch Pessimist weiter, das aber entschieden in Richtung Zukunft, was all things Hardcore Continuum angeht. Das zweite Mal auf LP-Länge, diesmal im Verbund mit Karim Maas.
Pessimist & Karim Maas – s/t (Pessimist Productions)
Thaddeus: Ich oute mich mal gleich zu Beginn als Nichtauskenner. Karim Maas? Nope – keine Berührungspunkte bislang. Habe ich dann nachgeholt, die digitalen Brösel zusammengekehrt und dachte: Hmm, nicht viel verpasst. Diese Platte hier aber finde ich gut.
Kristoffer: Ging mir genauso. Pessimist lief ständig auf dem Radar mit, aber – und das ist mein Outing hier heute - ich habe auch nicht immer unbedingt das Interesse an den neuesten D’n’B-Derivaten. Beziehungsweise mochte ich es immer dann am liebsten, wenn es über ein dickes Soundsystem lief. Interessant ist, wie wenig bei mir hängenbleibt, wenn ich’s im heimischen Arbeitszimmer rotieren lasse. Ich habe dieses Album bestimmt zehn Mal gehört, aber es ist nichts hängengenblieben außer einer gräulichen Grundstimmung. Das spricht nicht unbedingt gegen die Platte, die ich jetzt – quasi – ja zum ersten Mal höre, seitdem ich das letzte Hörerlebnis wieder vergessen habe. Vielleicht geht es nur mir so? Oder zieht sie etwa auch an euch vorbei?
Thaddeus: Wie Schleierwolken. Ich erinnere jedes Mal das Gleiche: Schweres Dräuen, langsame Beats, die ab und zu etwas akzentuieren wollen oder sollen, was ich nur noch nicht klar ausmachen kann im Nebel. Fühlt sich aber gut an, irgendwie. Eine sehr dunkelgraue Tapete. Die dabei aber praktisch zu keinem Zeitpunkt unangenehm wirkt – wie ich früher Platten in diesem Stil immer empfunden habe. Jungs: Kommt das Illbient-Revival?
„Den Stücken gelingt eine Eindringlichkeit, oder sogar eine Tiefe, die eben nicht über so offensichtliche Atmo-Flächen funktioniert.“
Christian: Ha! Diese Vokabel schoss mir beim ersten Track auch durch den Kopf. Allerdings weiß ich gar nicht mehr, was das eigentlich genau war: Illbient. Es gibt hier auch viel Noise-Schwaden, ja, aber eben auch sehr minimalistische Stücke, die mit sehr prägnanten Sounds arbeiten. Die lösen für mich ein bisschen ein, was uns letztes Mal die King Midas Sound versprochen hatte. Diesen Stücken gelingt eine Eindringlichkeit, oder sogar eine Tiefe, die eben nicht über so offensichtliche Atmo-Flächen funktioniert.
Kristoffer: Ich glaube, ich würde hier alles rausschmeißen, was nicht mindestens eine Ruhepuls-Kickdrum hat. Denn sonst klingen diese wabernden Noise-not-Noise-Granularflächen und verstimmten Chords halt nach Dark Ambient, wie er dir bei Bandcamp auf Pay-What-You-Want Basis hinterhergeworfen wird. Vielleicht haben wir hier dann auch die Arbeitsaufteilung entschlüsselt: Pessimist ist der Typ am Drumcomputer. Das funktioniert nämlich super, ist spartanisch, aber selbst in sich schon sehr atmosphärisch. Ein Aufräumer, der Rest ist Sound Design. Passt mir in den Kram, nur weiß ich noch nicht ganz, wann ich es hören würde.
Thaddeus: Wobei sich Maas bei meiner Recherche nun nicht gerade mit Sound Design hervorgetan hat, was er aber, deiner Aufteilung folgend, ja bedienen müsste. Seine Tracks, die ich gehört habe, waren wie leergefegt und pendelten von sehr langweilig bis super nervig, weil er die Breaks nicht einmal cuttet. Das fand ich schon sehr underwhelming, um ehrlich zu sein.
Kristoffer: Hier sitzt jedoch alles an Beat sehr formschön im Raum. Nicht zu viel, nicht zu wenig, es pulst alles wunderbar bedrohlich vor sich hin. Ein bisschen rhythmischer Horror, der sich nie kathartisch entlädt.
Christian: Suspense?
Kristoffer: Ja, das ist das Stichwort!
Thaddeus: Soll mich gruseln, tut es aber nicht. Auch ok. Rauscht halt ziemlich unrauschhaft rein und durch und raus.
„Im Grunde ist diese LP der Dienstag nach „Vortex“.“
Kristoffer: Im Grunde ist diese LP der Dienstag nach „Vortex“. Und das finde ich persönlich eigentlich ganz geil, vielleicht auch gerade weil bei mir dienstags mittlerweile in der Regel der Chemiehaushalt stimmt – da kann ich die Simulation dieses Gefühls auch mal so als Virtualität gutheißen. Womöglich erklärt das auch, warum ich mir keinen einzigen Ton merken kann: Jeder Pillenkater ist spätestens am Freitag wieder verflogen.
Thaddeus Mit den Arpeggios von Caterina Barbieri kann man ganz gut fliegen. Boarding!
Caterina Barbieri – Ecstatic Computation (Editions Mego)
Kristoffer: Geflogen bin ich damit tatsächlich. Irgendwann letzten Herbst in der Musikbrauerei beim Eavesdrop-Festival. Barbieri kannte ich natürlich durch ihre Platten auf Important, sonderlich spannend fand ich ihre Musik allerdings nicht. Aber was ein gutes Soundsystem eben so ausmacht: Plötzlich war der Raum erfüllt mit wabernden Trance-Sequenzen, wie Lorenzo Senni sie immer haben wollte und doch nie hinbekommen hat. Das baute sich auf und auf und auf und auf und … ja, die Kickdrum blieb aus. Schien mir dann nochmal fünf Minuten später aber umso geiler, so dermaßen zappeln zu müssen. Wo Pessismist und Karim Maas ihre Suspense loopig-langsam aufbauen, ist sie bei Barbieri von der ersten Sekunde an da. Und wie! Wenn ich das richtig sehe, hat sie damals diese Platte gespielt. Und die gehört für mich zu einer der besten des Jahres, was sich (fast) zur Halbzeit ja selbstbewusst sagen lässt. Grandios.
Christian: Mir war der Barbieri-Hype bislang immer ein wenig rätselhaft. Zu daddelig, mit zu viel Synthesizer-Romantik aufgeladen, manchmal sogar zu proggy. „Ecstatic Computation“ aber ist anders: Da wird zwar auch fleißig sequenziert, aber – Kristoffer hat es ja schon gesagt – klanglich ist das Album auch Senni auf Methadon. Überhaupt ist das hier klangtechnisch so gut, Barbieri hätte meinetwegen aus nur einem einzigen ihrer pneumatischen Patches ein ganzes Album bauen können.
Kristoffer: Nicht nur klanglich ist das überragend. Ich war etwas erstaunt, dass das nun auf Editions Mego rauskommt – dafür erscheint mir dieses Album schlicht zu durchkomponiert. Klar gibt es das hin und wieder auch mal auf Mego, aber meistens steht doch der Sound im Vordergrund. Barbieri allerdings baut wirklich ein unglaublich kohärentes Narrativ mit Maschinchen, welche andere nur zum Plinkern und Plonkern verwenden.
Thaddeus: Mir will Christians Romantik-Verortung nicht aus dem Kopf. Die habe ich bisher bei ihr nämlich nie gehört – hier aber schon. Und zwar ganz weit vorne, trotz aller Drehungen und Wendungen, durch die sie sich hindurch arbeitet. Das hat etwas sehr Offenherziges, so als wäre ein Knoten geplatzt. Keine leichte Aufgabe, sich aus ihrer Sicht darauf einzulassen. Denn sie spielt sie ja zum Großteil mit an und für sich ganz offensichtlichen Strukturen und Sounds, die einen besonders vorsichtigen Umgang erfordern, weil mit ihnen schon viel gearbeitet wurde. Wie sie das alles jedoch zu etwas Neuem verbindet, ist beeindruckend.
Kristoffer: Mich würde interessieren, welche Definition von Romantik ihr hier anlegt oder abgrenzt? Im Sinne von möglichst, ähm, entgrenzt? Im Sinne von: Stimmung? Schwingung? Das ist ein schwammiger Begriff, das will ich genauer wissen.
Christian Da war ich nicht präzise, pardon. Ich meinte damit erstmal nur diese Art der Romantisierung oder Überhöhung von Modularsynthesizern. Also dass man denen etwas Auratisches andichtet und dann ganz ehrfürchtig davorsteht, wenn man irgendeinen Sound zusammengesteckt hat. Weniger Romantik im Sinne einer am Metaphysichen kratzenden Entgrenzungs- und Erfahrungsmusik.
Kristoffer: Ha! Ich habe ja schon mit meinem auratischen Erlebnis angefangen, tatsächlich aber sah dieser Gig weniger aus wie ein Instagram-Video von Richard Devine, sondern vielmehr wie die Arbeit einer Person, die halt diese und jene Maschine verwendet, um daraus genau das zu extrahieren, was sie für ihr kompositorisches Vorhaben braucht. Da war wenig Buchla-Hype spürbar, und meiner Meinung nach ist es das ebenso wenig auf dieser Platte. Thaddi hört das aber schon - oder doch eine andere Art von Romantik?
„Barbieri ist einfach Musik. Sehr erfrischend.“
Thaddeus: Ich nenne diese Art von Sequenzen immer romantisch. Können wir das Thema wechseln? Zum Beispiel zurück zu Richard Devine. Den Punkt finde ich sehr treffend. Wenn man mit Modularsynths Autorennen fahren könnte, wäre Devine immer ganz vorne mit dabei. Einfach, um anzugeben. Das ist schon ein Mucker, manchmal auch der eher schlimmen Sorte. Dieses Eurorack-Gewichse höre ich hier nicht. Barbieri ist einfach Musik. Sehr erfrischend. Ein Highlight im Modular-Dschungel, den ich als immer unmusikalischer wahrnehme, weil da meistens nur die Anzahl der verwendeten Patch-Kabel als Anhaltspunkt für Komplexität und Aussagekraft herangezogen wird. Bei Barbieri spüre ich nur ganz wenige Kabel, dafür aber umso schönere und wichtigere.
„Und dann die Chöre! Die Chöre! Es wird biblisch, Leute.“
Kristoffer: Unterschreibe ich voll, obwohl Devine ja durchaus auch sehr tolle Musik machen kann. Dennoch: Dieses angeblich Immersive, das im Modularumfeld immer so hervorgehoben wird, ist meistens reine Esoterik. Und die fehlt hier dankbarerweise, obwohl wie gerade im Track „Arrows Of Time“ plötzlich die Akkorde vom Himmel scheppern, als wollten sie die Mauern von Jericho niederdrücken. Und dann die Chöre! Die Chöre! Es wird biblisch, Leute. Aber nicht auf die dumme, platte Art. Sondern, und ich betone das nochmal, in einem Modus, der mir wesentlich kompositorischer scheint als die ersten freidrehenden Trance-Sounds es am Anfang vermuten lassen. Barbieri hat einen Plan, und den zieht sie durch – auf die bestmögliche Weise. Deswegen kickt dieses eigentlich himmel(!)schreiende Pathos nämlich dann doch: Weil es einen Ruhepol auf dieser Platte darstellt, die sonst die Sinne völlig überfordert. Ein Moment der totalen Konzentration nach sehr viel Chaos. Das ist toll.
Thaddeus: Bei diesem Stück musste ich zunächst stutzen. Ich hörte die Chöre und dachte, oh, oh: Das entgleitet ihr jetzt gleich richtig. Tut es aber dann doch nicht. Selbst die auf mich diffus wirkende Struktur löst sich am Ende sinnstiftend auf.
Kristoffer: Eben genau das meine ich und deswegen habe ich bei dem Schlagwort der Romantik nachgehakt. Es geht hier meiner Meinung nach eben nicht um eine Entgrenzung auf Seiten der Komponistin, höchstens um eine in der Hörerfahrung. Das wirkt ja doll, plötzlich diesen Einschub zu haben. Und dennoch: Das ist so alles präzise geplant, fadet aus und es geht im nächsten Moment wieder ganz anders weiter, obwohl zuvor viel ineinander floss. Weil das Stück sehr genau und sehr richtig dort reinmontiert wurde. Das verträgt sich mit meiner Definition von Romantik nicht. Barbieri ist eher Klassikerin. Strenge Formen, die viel Pomp tragen, aber deren Rücken stark genug ist, um eine Menge davon zu schultern.
Thaddeus: Ok, ok, Dottore Cornils.
Christian: Musik für virtuelle Säulenhallen. Ok. Jemand wie Oneohtrix Point Never benutzt übrigens oft ganz ähnliche Klangwelten als Ausgangsmaterial: Chöre, Cembalo. Aber der schneidet so etwas dann auseinander und verfremdet es – eher so postmoderne Techniken. Während Barbieri doch etwas konstruiert: Komposition, aber auch Erfahrung. Und zumindest in diesem ganzheitlichen Wollen ist es dann doch wieder romantisch.
Kristoffer: Ich wünschte mir, Daniel Lopatin wäre in diese Richtung abgebogen, statt Gniedelpop zu machen - aber umso besser, jetzt haben wir Barbieri!