„Nicht auf den Stühlen tanzen“Stefan Goldmann und Stefan Ulrich über Strom – dem ersten Festival für elektronische Musik in der Philharmonie Berlin

Stefan Ulrich Stefan Goldmann Phil start

Stefan Goldmann (links) und Stefan Ulrich (rechts) haben Großes in der Philharmonie Berlin vor. | Foto: Ji-Hun Kim

Seitdem Andrea Zietzschmann Intendantin der Berliner Philharmoniker ist, stellt sich das legendäre Konzerthaus bewusst und mit viel Engagement zum Neuen in ungewohnte Kontexte. An diesem Wochenende findet zum ersten Mal das elektronische Festival Strom statt. Die volle Bandbreite elektronischer Musik könnte hier neu lokalisiert und in neue Bezüge gestellt werden. Wie Clubsounds und das andächtige architektonische Meisterwerk von Hans Scharoun zusammen kommen sollen, erklären Kurator Stefan Goldmann und Stefan Ulrich, persönlicher Referent der Intendantin der Berliner Philharmoniker.

Wie ist die Idee für das Festival entstanden?
Stefan Ulrich: Das ist das dritte Jahr unter unserer Intendantin Andrea Zietzschmann. Nach einer Übergangsphase haben wir seit dieser Spielzeit Kirill Petrenko als neuen Chefdirigenten. Frau Zietzschmann ist ein Mensch, der immer nach neuen Wegen und Möglichkeiten sucht. Zum einen, das im besten Sinne Althergebrachte weiterzuführen. Aber eben auch nach ganz neuen Formaten. Dazu gehört, sich etwas zu überlegen, das so noch nie stattgefunden hat – und das ist tatsächlich die elektronische Musik. Die hat vor allem als Festival bei uns noch nie so stattgefunden. Frau Zietzschmann verfolgt die Idee, mehr Festivals in unserem Haus zu realisieren. Nicht nur Elektronik, sondern auch in anderen Musikbereichen. Beginnen wollen wir aber mit dem elektronischen Strom-Festival.

Wie ging es weiter?
Stefan Goldmann: Stefan rief mich dann irgendwann an. Ich vermute mein musikalischer Hintergrund bot sich für so ein Konzept an. Zwar mache ich elektronische Musik, aber ich habe viel im Bereich europäische Konzertmusik gemacht. Nicht direkt Klassik, aber neue Musik, mit Ensembles, für Musiktheater und Ballett. Dadurch habe ich möglicherweise einen breiteren Hintergrund, der auch für die Philharmonie das Thema zugänglicher macht. Die Situation ist für uns beide neu. Das ist aber auch das Spannende daran. Die Frage ist ja, wie man solch eigentlich getrennte Bereiche überhaupt zusammenbringen will. Häufig gibt es die klassische Fusion aus Orchester X und Producer Y. Das ist aber zum Standard geworden, genauso wie Live-Remixe, wo Proben von Orchestern mitgeschnitten werden, dann bearbeitet und drei Tage später so aufgeführt werden. Solche Anfragen bekomme ich auch immer wieder, sage das aber meist ab. Wir wollen diesen Standard-Crossover vermeiden. Die Philharmonie macht daher im Rahmen des Festivals eher eine Art Bestandsaufnahme der Bandbreite elektronischer Musik, die sinnvoll mit diesem Ort interagieren könnte. Wir haben das Orchester, Auftragswerke und all die Dinge, die naheliegend erscheinen, erstmal bewusst außen vor gelassen. Die Künstler sollen sich mit diesem Ort auseinander setzen dürfen, wie sie es für richtig halten.

Stefan Ulrich: Das ist ein wesentlicher Punkt. Wir bieten den Ort an. Die Philharmonie steht weiterhin für analoge, klassische Orchesterwerke. Wir fordern Stefan Goldmann und die Künstler auf, sich auch künstlerisch bewusst zu machen, an was für einem Ort sie spielen. Die Räumlichkeiten, die wir bespielen, sind allesamt eine große Herausforderung. Uns war von vornherein klar, dass wir nichts kopieren wollen, was wir ohnehin nicht darstellen können. Wir sind kein Club und müssen auch nicht so tun, als wären wir einer. Das Alleinstellungsmerkmal sind die Räume. Hier im Foyer kann man sich eine Clubatmosphäre durchaus vorstellen. Im Saal aber eher nicht.

Philharmonie Großer Saal Peter Adamink

Der große Saal der Berliner Philharmonie. Hier spielen Kruder & Dorfmeister, Ryoji Ikeda, Cristian Vogel und viele mehr. | Foto: Peter Adamik

Es ist interessant zu sehen, dass immer mehr Konzerthäuser sich Pop und anderen Spielarten öffnen. Wie erklärst du dir das?
Stefan Ulrich: Konzerthäuser haben zuallererst einen kulturellen Auftrag. Jetzt sagt keiner aus der Politik, dass wir uns um elektronische Musik zu kümmern hätten. Aber es ist wohl so, dass wir publikumsorientiert arbeiten möchten. Diesen Auftrag nehmen wir ernst. Und wir möchten auch Leute ins Haus holen, die für klassische Konzerte sonst eine hohe Hemmschwelle haben.

Jetzt müssen wir doch über E und U reden.
Stefan Goldmann: Das sind Begriffe aus der GEMA-Satzung, die ansonsten kompletter Unsinn sind. Für Leute, die Adorno verschlungen haben, gibt es auf der einen Seite E-Musik und auf der anderen die kommerzielle Kulturindustrie.

Und Jazz. Den mochte Adorno aber auch nicht.
Stefan Goldmann: Aus dieser Sichtweise sind alle dazwischen verwirrte Leute, die nicht kommerziell genug sind, es aber eigentlich sein müssten. Das ist eine Sichtweise, die unhaltbar geworden ist, nicht erst seit Techno. Zugleich ist aber Clubkultur etwas, deren Aufkommen mit einer Ablehnung vieler Dingen einherging. Es wurden konventionelle Spielstätten ignoriert, ebenso etablierte Labels und die dazugehörige Presse. Alles wurde von Null aufgebaut. Raves wurden in Kellerlöchern veranstaltet. Es gab eigene Fanzines, eigene Plattenlabels. Es wurde eine völlig eigene Musikwirtschaft neu aufgesetzt. Da ging es eben nicht darum, in Institutionen zu gehen, sondern eigene Strukturen aufzubauen. Das ist irgendwann groß genug geworden, dass es sich wieder selbst institutionalisiert. Man ist ein Stück weit zu dem geworden, wogegen man sich ursprünglich positioniert hatte. Die Inhalte sind aber auch andere geworden. Anfangs ging es um einzelne Geräte – was man aus ihnen schöpfen kann und was für Kontexte darum herum aufgebaut werden können. So ist etwa Acid House quasi an einem Nachmittag entstanden. Die Künstler entwickeln sich aber alle weiter und dann kann es passieren, dass die Produktionen nicht mehr nur für eine Techno-Clubnacht geeignet sind. Es gab immer wieder DJs, die experimenteller wurden und sich dann irgendwann am Ausgehpublikum um sechs in der Früh die Zähne ausgebissen haben. Aus dieser Reibung entsteht eine Bewegung der Inhalte, die irgendwann an einen Punkt gelangt, an dem es plötzlich total Sinn macht, in einem bestuhlten Konzertsaal zu spielen. Was für alle Beteiligten besonders ist, ist diese Möglichkeit, elektronische Musik in einer Architektur zu erleben, die so nah am Hören gebaut ist. Das wurde uns bei den Anfragen an die Künstler auch deutlich. Das ist für alle etwas Neues, alle sind motiviert. Jeder Künstler wird an dem Festival sein eigenes Konzept für die Philharmonie entwickeln. Das Haus wird dadurch zu einer Projektionsfläche für künstlerische Ideen. Das finden wir spannend.

Philharmonie Foyer

Foto: Ji-Hun Kim

Man kann bei dem Zusammenbringen von Techno und Klassik ja sehr viel sehr falsch machen. Wie habt ihr das Thema diskutiert? Viele hochangelegte „ernste“ Elektronikprojekte scheitern katastrophal. Gerade die komplexe Akustik des Hauses birgt einige Herausforderungen.
Stefan Ulrich: Da müssen wir mutig sein und sagen: Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Das ist das erste Mal, dass das hier stattfindet. Als Experiment, das hoffentlich gelingen wird. Bis ins letzte Detail kann man nichts planen. Gerade die Akustik ist ein interessantes Thema. Wir haben Akustiker im Haus, aber es kommen auch welche von außen für das Wochenende dazu. Dazu hat Stefan auch noch mal einen großen Erfahrungsschatz. Aber wie gut das alles funktioniert, sehen wir erst an den beiden Abenden. Da sind wir aber wieder bei unserer Intendantin, die für neue Impulse steht und für solche Themen brennt. Das Risiko spielt beim Neuen immer eine Rolle.

Stefan Goldmann: Das größte Minenfeld haben wir damit geräumt, indem wir gesagt haben – keine Orchestermusiker.

Was sagen die überhaupt zu dem Festival?
Stefan Ulrich: Von großem Interesse bis zum großen Fragezeichen. Aber ich kann mir gut vorstellen, dass es danach auch von Seiten der Orchestermusiker mehr Interesse geben könnte, gemeinsame Sache zu machen. Ich halte das für möglich, aber das ist zum Zeitpunkt alles nur Spekulation.

Wie ist das Programm entstanden? Gab es eine Zielsetzung?
Stefan Goldmann: Am Anfang haben wir das ausgiebig diskutiert. Berlin ist eine Stadt, die schon alles gesehen hat. Wir können kaum mit Sachen auffahren, die es überhaupt noch nicht gab. Es gibt eine Reihe von Festivals und Spielstätten, die schon sehr viel abdecken. Da in die Konkurrenz zu gehen, erschien sinnlos. Dadurch ist viel herausgefallen. Cristian Vogel ist aber ein gutes Beispiel für unseren Ansatz. Er hat einen engen Bezug zu Berlin, etwa durch seine vielen Veröffentlichungen für Tresor. Zugleich hat er schon sehr früh und nachhaltig den Möglichkeitsraum von Techno erheblich erweitert. Derweil hat er sich aber von den Clubs verabschiedet. Er spielt dort nicht mehr, komponiert, arbeitet an experimenteller Musik mit Installationen. Cristian hat aus unerfindlichen Gründen lange nicht mehr in der Stadt gespielt. Da lag es auf der Hand, ihn einzuladen. Aber auch Leute wie Kink, Voiski und Nina Kraviz in einen neuen Kontext zu stellen. Mir war es wichtig, die Bandbreite des Spektrums elektronischer Musik abzubilden. Von Ryoji Ikeda, Robert Henke, bis hin zu Kruder & Dorfmeister und Deena Abdelwahed. Das Besondere wird der für alle Beteiligten neue räumliche und akustische Kontext sein.

Stefan Ulrich: Es gibt keine Agenda. Es werden aber Grenzen eingerissen. Jeder kann von jedem nur profitieren. Das ist für typische Konzertbesucher und Clubgänger doch eine Win-Win-Situation. Es gibt hier durchaus Orchestermusiker, die das alles hinterfragen. Immer wenn etwas Neues entsteht, muss man diese neuen Ideen auch durchsetzen. Dem stellt man sich dann halt. Ich habe aber bislang viele tolle Gespräche geführt. Bei vielen rennt man offene Türen ein. Das muss ich wirklich sagen.

Stefan Ulrich Stefan Goldmann vor der Philharmonie

Zuversichtlich: Stefan Ulrich und Stefan Goldmann vor dem Konzerthaus. | Foto: Ji-Hun Kim

Bei einem Haus wie der Philharmonie von einem Stammpublikum zu sprechen, ist vielleicht despektierlich. Aber ihr kennt eure Klientel ja genau. Es gibt ja schon den Wunsch, dass viele von diesen Leuten auch zum Strom kommen.
Stefan Ulrich: Ich möchte eine Geschichte erzählen. Eine ältere Dame rief neulich bei uns an der Kasse an und sie fragte zu dem Festival: „Wird es denn richtig laut?“ Als unsere Mitarbeiterin erzählte, dass es schon laut werden könne, meinte sie nur: „Gut, dann hinterlegen Sie mir zwei Karten!“ Die Dame kennt sich im Haus offenbar gut aus. War schon viele Male hier. Das ist eine Einzelgeschichte und nicht repräsentativ, aber zeigt, dass die Idee aufgehen könnte. Wir begrüßen und freuen uns sehr darauf, wenn an dem Wochenende auch das Klassikpublikum zahlreich erscheint.

Stefan Goldmann: Man kann es auch so sehen, dass durch so eine Veranstaltung vielen, auch älteren Menschen, der Zugang zu elektronischer Musik überhaupt erst ermöglicht wird. Weil am Wochenende um 4 Uhr morgens vor dem Berghain Stunden anzustehen und im schlimmsten Fall nicht reinzukommen, ist ja auch eine Schwelle für viele.

Darf man auf den Stühlen tanzen?
Stefan Ulrich: Auf den Stühlen tanzen? Bitte nicht! (lacht). Das wäre schade um die Stoffbezüge. Aber wir hoffen sehr, dass die Verhaltensweisen hier nicht reduziert oder eingeschüchtert werden, nur weil es beim klassischen Konzert vielleicht etwas anders ist. Das wäre schade. Man sollte sich hier frei bewegen können, wie man möchte.

Foyer Philharmonie Peter Adamik

Fast wie im Club: Das Foyer der Berliner Philharmonie | Foto: Peter Adamik

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