Homo sacerBuchrezension: Der Fall Julian Assange von Nils Melzer

Assange

Was wir zurzeit am Falle Julian Assanges erleben, ist der Versuch, die Pressefreiheit dann zu killen, wenn sie wirklich wirklich wichtig wird, nämlich wenn es um Kriegsverbrechen geht: Mit allen Mitteln wird hier ein Exempel statuiert, Folter inklusive. Dies konstatiert kein Geringerer als der UN-Sonderberichterstatter für Folter, Nils Melzer. Jan-Peter Wulf hat sein Buch gelesen.

Es mag etwas kokett klingen, aber ich meine es ernst. Ich möchte mich bei Julian Assange ausdrücklich entschuldigen. Dafür, dass ich, wie so viele Menschen, gedacht habe, ja, schon ein mutiger Leaker, aber am Ende ein Arsch. Der mit seinem mindestens misogynen Verhalten den Bogen sehr überspannt hat und nun muss er eben sehen, wo er bleibt. Hat der nicht vergewaltigt? In Schweden? Gleich zweifach? Eine Dokumentation im letzten Jahr hat mir schon vor Augen geführt, dass die Dinge etwas anders sind. Aber so richtig und vollumfänglich tut es erst dieses Buch. Das hat kein Investigativjournalist geschrieben, sondern der Schweizer Nils Melzer. Der ist Jurist, Uniprof und vor allem ist er seit 2016 Sonderberichterstatter über Folter des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen.

Melzer hat auch ein schlechtes Gewissen gegenüber Assange, das merkt man. Er hat nämlich bis 2019 ganz ähnlich gedacht, ein Gesuch der Anwälte Assanges, sich dessen Lebensbedingungen/Flucht, die Vorwürfe und die gesamte Causa unter dem Aspekt der Verletzung der Menschenwürde einmal anzuschauen, lehnte er beim ersten Mal ab. Der Mann hat mehr als genug zu tun, er kann nach eigenem Bekunden ohnehin schon nur einen Bruchteil der Anfragen, die ihn aus der gesamten Welt erreichen, bedienen. Erst spät, so Melzer, habe er erkannt, dass er einer Täuschung unterlegen sei, was den Fall Assange betrifft. Jenem Narrativ eines narzisstischen, ja soziopathischen Mannes, der zwar Verbrechen publik gemacht, wegen seines eigenen verbrecherischen Verhaltens aber letztlich selbst schuld an seinem Schicksal ist und sich vor seiner gerechten Bestrafung in eine Botschaft flüchten musste.

Als Melzer schließlich seinen Fehler einsah, hockte Assange bereits nicht mehr in der ecuadorianischen Botschaft, in die er rund sieben Jahre zuvor geflohen war, sondern war bereits in das Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh in London überführt worden. Es war sogar so, dass seine Ankündigung, Assange in seiner UN-Funktion besuchen zu wollen, dazu geführt hatte, dass Ecuador dem gebürtigen Australier und WikiLeaks-Gründer die Staatsbürgerschaft aus formellen Scheingründen entzogen und somit den Weg für die Inhaftierung freigemacht hatte. Statt wie sonst einen offiziellen Empfang der Gefängnisleitung zu bekommen, mussten sich Melzer und seine beiden begleitenden Experten in die Schlange stellen, Verzögerungsspielchen mitspielen, Schikanen ertragen. „Soft harassment“ nennt sich das, erklärt der Folterexperte, die zeigen soll: Die britische Regierung interessiert sich nicht für den Besuch. Der UN. Assange zeigt alle Anzeichen für Folter. Die muss nämlich nicht immer physisch vollzogen werden, psychisch führt sie, „ohne Umwege“, zum gleichen Ziel, schreibt der Autor, der schon viel gesehen haben dürfte. Ziel sei immer mentale und emotionale Ebene. Einschüchterung, Isolation, Willkür, Demütigung, Androhung einer drakonischen Strafe (bis zum Tode in einer Isolation in einem US-Spezialgefängnis sitzen), Dauerüberwachung mit Kameras in der Botschaft – das Ergebnis ist klar: Assange ist ein Folteropfer. Was hier geschieht, ist ein Verbrechen. Sogar ein Kriegsverbrechen, betont der Autor.

Begleitend oder alternativ zum Buch ist auch dieses lange Gespräch zu empfehlen.

Doch wie kam es dazu? Hatte Assange nicht selbst ein Verbrechen begangen? Mehrere? Melzer rollt den gesamten Fall aus und geht auf jedes noch so kleine Detail ein, von den veröffentlichten Dateien amerikanischer Kriegsverbrechen bis zu dem, was offenbar in Schweden geschehen ist. Vergewaltigung? Die beiden Frauen, mit denen dort er Sex hatte, wollten ihn via Polizei eigentlich dazu zwingen, einen HIV-Test zu machen. Assanges Verhalten in diesem Zuge kann man moralisch durchaus kritisch betrachten. Doch dass es letztlich zu einer Anzeige, einem langjährigen und schließlich mangels Beweisen eingestellten Verfahren kam, ist ein Lehrstück für das Wirken, ja den Missbrauch ideologischer Staatsapparate auf internationalem Level. Inklusive einer Instrumentalisierung von #metoo, so Melzer.

Schweden, England, Ecuador, die USA und (aufgrund obskurer Abwesenheit auch Australien) haben, mit teils an den Haaren herbeigezogenen Begründungen und Verfügungen, für Assanges Entrechtlichung gesorgt. Mit dem Ziel, ihn für immer fertig zu machen. Im Sinne Agambens ist Assange nachgerade ein vogelfreier „homo sacer“, ein nackter Mensch, frei von Rechten, an dem ein Exempel, und das ist entscheidend, statuiert werden soll: Wenn du, Journalist/Publizist, Staatsgeheimnisse „verrätst“, dann stellen wir dich kalt. Journalismus: Statt vierter Gewalt im Staat also Staatsverrat. Das, so Melzer, ist der Versuch, die Pressefreiheit zu beenden. „Die USA wollen dem investigativen Journalismus die Zähne ziehen.“ Deswegen, so schreibt er, sei der Fall Assange als (Folter-)Fall auch so herausragend. Schlimmere Folter gebe es immer, aber diese ragt über den Menschen, der sie erleiden muss, weit hinaus. Weil es, noch einmal, um die Zukunft der Pressefreiheit geht. Potentielle Nachahmer Assanges sollen weltweit abgeschreckt werden. In der Person Assange werde das System des Leakens verfolgt und bestraft: Nicht die enthüllten Verbrechen stehen im Mittelpunkt, sondern die Scheinwerfer richten sich auf den Überbringer der schlechten Botschaft. Und der wird als Vergewaltiger, Hacker und Spion geframt, und die Öffentlichkeit teilt das und diskutiert über die Katze oder das Skateboard Assanges, mit dem er durch die Botschaft rollt. Was er gar nicht tut. Schaut man genau hin, sieht man selbst hier, wie degeneriert und körperlich beeinträchtigt er ist.

Wir brauchen Vertraulichkeit statt Geheimhaltung, fordert der Autor. Wenn Dokumente unter dem Mantra der Geheimhaltung nur noch geschwärzt, faktisch unbrauchbar, die Öffentlichkeit erreichen, wo bleibt dann das Vertrauen? Gefragt seien Mut, Einsicht und Weitsicht statt Leugnung und Selbsttäuschung, formuliert er und das klingt dann fast hilflos. Obama habe Scheindiplomatie walten und Assange in der Botschaft versauern lassen, dabei hatte der Friedensnobelpreisträger Chelsea Manning, die Assange Dokumente zukommen ließ, am Ende seiner Amtszeit begnadigt. Muss Assange erst versuchen, sich das Leben zu nehmen wie Manning?

Dass er sich töten werde, würde er in die USA ausgeliefert, hat er angekündigt. Donald Trump erklärte mehrfach seine Liebe zu WikiLeaks, freilich als die Plattform ihm dienlich war. Ein von Melzer aufgesetztes Gnadengesuch (übrigens rhetorisch geradezu meisterhaft auf den Horizont des 45. Präsidenten abgestimmt, in voller Länge im Buch zu lesen) ließ er unbeantwortet. Ob sein Nachfolger Joe Biden, der Julian Assange mal als High-Tech-Terroristen bezeichnete, so mutig und weitsichtig sein wird wie Melzer es von einem Staatsmenschen im 21. Jahrhundert einfordert?

Was wir jedenfalls alle tun können: In Fällen wie diesem genauer hinschauen. Das Anfang 2021 in England gefällte Urteil, Assange könne aufgrund seines gesundheitlichen Zustands bis auf Weiteres nicht ausgeliefert werden, ist nicht mal ein Pyrrhussieg, denn die gesamte rechtliche Logik der Anklage wurde bestätigt. Aufgeschoben, alles andere als aufgehoben. Es ist mit dem Schlimmsten zu rechnen, zumal das Urteil auch noch eine Revision ausgehebelt hat. Das Buch „Der Fall Julian Assange“ ist dafür sehr gut geeignet, sich in diesem genaueren Hinschauen zu üben, auch wenn es etwas Zeit und Kraft kostet. Der Teufel steckt im Detail, aber er heißt nicht Julian Assange.

Der Fall Julian Assange – Geschichte einer Verfolgung von Nils Melzer ist 2021 bei Piper erschienen, hat 336 Seiten und kostet 22 Euro.

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