Hängengeblieben 2018Unser großer Jahresrückblick

Hängengeblieben 2018 - lede

Ein Sommer ohne Märchen, eine AKK ohne 4711 auf dem Dancefloor, Daten ohne Schutz aber mit Verordnung und jede Menge Ehrenmänner in der Heißzeit des Jahrhunderts: alles in 8K und 5G. Wie auch die letzten Jahre gibt es dieses Jahr den großen Das-Filter-Jahresrückblick. Was ist hängengeblieben von 2018? Wie immer subjektiv, perspektivisch und independent erklären unsere Autoren und Redakteure, was ging in den Bereichen Musik, Kultur, Technik, Gesellschaft und Medien. Auf ein gutes 2019. Euer Das-Filter-Team.

259

Anzahl der Todesfälle durch missglückte Selfies im Zeitraum Oktober 2011 bis November 2017. Die Dunkelziffer wird höher geschätzt. Selfie-Tod gilt bislang nicht als anerkannte Todesursache.

Ji-Hun Kim

Ausgezeichnet

SirPlus heißt das alternative und ökologische Unternehmen in Berlin, das jetzt mit dem „Next Economy Award“ ausgezeichnet wurde. Das ist der wichtigste Preis, der von der Bundesregierung in der Sparte Nachhaltigkeit vergeben wird. SirPlus hat sich in Berlin bekannt gemacht mit der Gründung von jetzt insgesamt vier Läden, in denen Lebensmittel verkauft werden, die sonst in der Mülltonne landen würden. Rund 1.000 Tonnen Lebensmittel konnten in Kooperation mit Bauern und Konzernen in den eineinhalb Jahren des Bestehens bereits gerettet werden: krumme Gurken, zu klein geratene Kartoffeln, zerbrochene Möhren beispielsweise. Aber auch frische Lebensmittel mit nahem Ablaufdatum stehen in den Regalen. SirPlus beschäftigt mittlerweile 70 feste Mitarbeiter, darunter viele ehemalige Langzeitarbeitslose und zugewanderte Menschen. „Rund 200.000 Menschen in Berlin zählen inzwischen zu unseren Kunden und schätzen die preisgünstigen Lebensmittel“, sagen die Gründer Raphael Fellmer und Martin Schott.

Monika Herrmann

Bitcoin-Gif

Bitcoin und Co.

Wertverlust ausgewählter Kryptowährungen innerhalb des letzten Jahres
Bitcoin: -75,17 %
Ethereum: -86,56 %
Litecoin: -89,94 %

(Stand: 20.12.2018)

Blaumänner und Blautöne

Blaumänner

Foto: Grandfilm

Für zwei der besten Filme des Jahres brauchte man 2018 jede Menge Sitzfleisch. A Fábrica de Nada über eine Fabrik in der Nähe von Lissabon, in der eigentlich nichts mehr hergestellt wird, deren Arbeiter sich aber trotzdem nicht einfach wegrationalisieren lassen wollen, und die diese daher kurzerhand besetzen, hat eine Laufzeit von 177 Minuten. An Elephant Sitting Still erzählt die Geschichte eines Tages in einer chinesischen Vorstadtsiedlung und lässt sich dafür ganze 230 Minuten Zeit. Zwei Filme aus zwei Kontinenten angesiedelt im Arbeitermilieu, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Während der portugiesische Regisseur Pedro Pinho seine Protagonisten singen, tanzen, diskutieren und auch streiten lässt und dabei fest von der politischen Wirkmacht des Kinos und der Kunst überzeugt zu sein scheint, hat Hu Bo aus China den Glauben an die Welt und ihre Bewohner ganz offensichtlich lange verloren oder auch nie gehabt. Lange Gesichter in düsteren Blautönen, wohin man auch schaut, Miserabilismus in Reinform, und trotzdem entwickelt der Film beginnend mit seiner zweiten Stunde einen einzigartigen Sog, der sich erst in der großartigen und leicht versöhnlichen Schlusssequenz auflöst, in der eine ungleiche Reisegruppe in der Nacht Federfußball spielt. An Elephant Sitting Still gewann bei der Berlinale 2018 den Kritikerpreis. Diesen konnte sein Regisseur jedoch nicht mehr persönlich entgegennehmen, er hatte sich bereits im Oktober 2017 mit nur 29 Jahren das Leben genommen.

Tim Schenkl

Buchhandlung

Ein unvollständiger Rückblick auf die Buchhandlung als politischen Ort im Jahr 2018: Im Frühjahr werden die Buchhandlung Leporello im Süden von Berlin-Neukölln und ihr Inhaber Heinz Ostermann wiederholt Ziel von rechten Anschlägen. Im März verkündet die Dresdner Buchhändlerin Susanne Dagen und Inhaberin des Buchhaus Loschwitz, die wegen ihrer Nähe zu Pegida umstritten ist, ihren Plan bei der Stadtratswahl 2019 für die Freien Wähler zu kandidieren. Etliche Buchhandlungen schließen aus bekannten Gründen: Amazon, zu wenige Leser*innen – eine davon ist die Bielefelder Buchhandlung Luce, die 42 Jahre lang als das Herz des Bielefelder Campus galt. Im Oktober lädt die Berliner Buchhandlung Montag den stellvertretenden Focus-Politikchef Alexander Wendt wieder aus, da dieser die „Erklärung 2018“ (ein Aufruf, der sich gegen Angela Merkels Einwanderungspolitik richtete und u.a. von dem österreichischen Identitären Martin Lichtmesz, Dieter Stein von der Jungen Freiheit, Matthias Matussek und Karlheinz Weißmann unterschrieben wurde) mitzeichnete. Margarete Stokowski sagt im November in der Münchner Buchhandlung Lehmkuhl eine Lesung ab, da diese rechte Bücher verkauft. Die Zeit veröffentlicht ein Pro-und-Contra zur Absage, die Autorin sieht sich zahlreichen Anfeindungen ausgesetzt.

Susann Massute

Cebit

Cebit

Die Geschichte der Cebit ist wohl die traurigste Parabel zum digitalen Fortschritt in Deutschland. Am 12. März 1986 wurde sie erstmalig als eigene Messe eröffnet, den Kinderschuhen als Teilbereich der Hannovermesse deutlich entwachsen. Am 15. Juni diesen Jahres schlossen sich zum letzten Mal die Pforten der einst weltweit großen und bedeutenden Messen für Informationstechnik auf dem Hannoverschen Messegelände. Kontinuierlich bergab gingen die Besucherzahlen schon seit über zehn Jahren – zuletzt rapide. Von 200.000 (2017) auf 120.000 (2018). Kaum zu glauben, dass '95, als Bill Gates vor Ort das gleichnamige Windows-Betriebssystem vorstellte, über 750.000 Besucher zur Cebit anreisten – in den darauffolgenden Jahren sollten es noch einmal mehr werden. Es war nicht nur die große Zeit von Microsoft: SAP wurde zur Standard-Software im Business-Bereich, Nokia eroberte den Mobilfunkmarkt – selbst die Dotcom-Blase wurde noch gut weggesteckt. Dann aber kam das Internet aufs Handy und DSL brachte neues Tempo für den Heimanschluss – nur in Deutschland nicht, vielleicht nicht einmal auf dem Messegelände in Hannover. Und vielleicht war das sogar entscheidend. Jedenfalls: Eine neue Generation digitaler Unternehmen wurde geboren – Salesforce, Google, Facebook, Twitter und überhaupt: das ganze „Web 2.0“-Ding. Als das erste iPhone erschien, war die Cebit bereits auf dem absteigenden Ast, Gewinn wurde ab 2002 nur noch auf der Skala der Irrelevanz verzeichnet. Großer Andrang herrschte in den letzten Jahren nur noch in der E-Sports-Halle. Nun ist es ganz vorbei – mit dem „Centrum für Büroautomation, Informationstechnologie und Telekommunikation“. Vielleicht wird sie ja wieder eingegliedert in die Hannovermesse. Vielleicht haben wir demnächst auch ein wirklich flächendeckendes Mobilfunk- oder Breitbandnetz. Wer weiß das schon?

Benedikt Bentler

Diesel

Nirgends lässt sich das ewig absurde Ringelreihen zwischen Politik und Wirtschaft besser beschreiben als in der immer noch aktuellen Dieselaffäre. Die Regierung gibt neue Abgaswerte vor, der Firma Bosch gelingt die Konstruktion feinsinniger Apparate diese Reglementierungen zu umgehen, die Täuschung fliegt auf. Anstatt diesen Moment ernst zu nehmen, wird weiter getarnt, getäuscht und bezichtigt, als wäre die sofortige Findung pseudo-intelligenter Schuldzuweisungen die einzig mögliche Geistesleistung aller Beteiligten. Zugegeben, hier geht es um mächtig große Summen, die, wie schon bei vielen vorhergegangenen Skandalen, nur in den Taschen der Steuerzahler zu finden sein werden. Jetzt folgen Fahrverbote, Entschädigungsforderungen und ein Ende der Farce ist nicht in Sicht. Allen großen Automobilkonzernen liegen die Pläne für Dieselmotoren vor, die die aktuellen Maximal-Werte weit unterschreiten, der Diesel aber ist gerade verbrannt. Jetzt werden erstmal Benziner gepusht, und wenn sich der Staub gelegt hat, so denkt man, kann man die Archive wieder einen Spalt öffnen.

Martin Raabenstein

Deppen Leerzeichen

Deepe Leerzeichen

Es geht ihm nicht gut, dem verbindenden Strich zwischen zwei Hauptwörtern, wie er in der deutschen Sprache eigentlich gesetzt wird. Er verblasst, man sieht ihn immer weniger. Stattdessen Service Point, Damen Toilette, Hand Creme. Warum? Marketing-Bullshit, die (gar nicht mehr so) neue Rechtschreibung, die auch die ewige „Strasse“ als Kollateralschaden hervorgebracht hat, mobiles Schreiben – hier einen Strich zwischen Komposita zu setzen, ist besonders anstrengend. Wenn nicht mal mehr Unternehmen, die ihr Geld mit Schülern verdienen, sich die Mühe machen, dann muss man wohl leise Servus sagen.

Jan-Peter Wulf

#DJsAreIdiots

Dass DJs nicht immer die hellsten Kerzen auf der Torte sind, kann man sich vorstellen, war aber auch viele Jahre egal. Dafür haben sie ja aufgelegt. Wortlos, Platten statt Taten sprechen lassen. Nun sind DJs heute aber große Popstars, die meisten sind nebenbei Influencer, bzw. eigentlich Influencer mit sich am DJ-Pult als hauptsächlichem Bildmotiv und müssen natürlich mit der Welt da draußen kommunizieren. Trauriger Höhepunkt war der vom BDS initiierte Boykott #DJsForPalestine im September, der sich zahlreiche Szene-Helden wie Ben UFO, Laurel Halo, The Black Madonna, Caribou, Four Tet und viele mehr reflektionslos anschlossen und verkündeten, nie wieder in Israel spielen zu wollen. Dass solche Formen des Boykotts nicht nur unterirdisch dämlich sind, sondern auch kontraproduktiv und in diesem Falle auch antisemitisch, scheint unseren heiß geliebten Role Models egal zu sein. Sich derart vor den Karren spannen zu lassen und dann auch noch zu glauben, man hätte die Deutungshoheit inne. Wie um alles in der Welt kann man nur so strunz sein? Mindestens genauso leergekokst präsentierte sich EDM-Superstar-DJ Martin Solveig bei der Verleihung des Ballon d’Ors an die norwegische Fußballerin Ada Hegerberg. Solveig kennt Frauen offenbar nur halbnackt aus käsigen Gogo-Großraumclubs und fordert die beste Fußballerin der Welt auf der Bühne einfach mal auf, doch mal eine Runde zu twerken. Ob das jetzt Solveigs Mann- oder DJ-Dasein geschuldet ist – Nun, es wird beides sein.

Ji-Hun Kim

DJsAreIdiots

Echo

Die deutsche Popwelt muss im nächsten Jahr ohne die Echo-Verleihung auskommen. Der Eklat um die antisemitischen Zeilen und den Auftritt von Kollegah und Farid Bang hat das Schicksal des bislang „wichtigsten“ deutschen Musikpreises – als dieser wurde er zumindest bezeichnet – besiegelt. Wer weiß, wäre es um Holocaust-Vergleiche allein oder bloß den peinlichen Auftritt gegangen, hätte das Klassentreffen der Major-Portfolios zierenden Künstler vielleicht überlebt. Dann hätte man sich auch 2019 wieder für die meistverkauften Tonträger selbst feiern können – live und im Fernsehen. Dem ist nicht so, und das ist wahrscheinlich gar nicht so schlecht. Man wird sich sicher etwas irgendwas Neues ausdenken. Ob's dann besser wird? Ist mindestens fraglich, aber eines steht wohl fest: Die Wertung wird nicht ausschließlich auf Basis von Plattenverkäufen vorgenommen werden. Fürs Publikum gibt's den Grand Prix, also wird's wohl was mit Jury, ganz wie die großen Vorbilder aus UK und den USA. Das kann dann ebenso gut nach hinten losgehen, wie die in den letzten Jahren verstärkte Kritik an zu weißer Grammy-Preisträgerschaft und der Männer-Dominanz unter Oscar-Gewinnern gezeigt hat. Mal schauen was kommt. Dem musik- und popkulturell mangelhaften Echo nachweinen, wird vorerst zumindest niemand.

Benedikt Bentler

Enlightenment Now

Vielleicht das Sachbuch des Jahres. Auf fast 600 Seiten der ganz große Aufschlag des amerikanisch-kanadischen Experimentalpsychologen Steven Pinker: Wir leben heute in der besten aller Zeiten. Nie gab es so wenig Hunger, Leid, Krieg, Unfreiheit. Pinker hat tief in den Archiven gegraben und fährt unzählige Statistiken auf, um uns die Chimäre auszutreiben, die Welt sei heute so schlecht wie nie. Die zunehmende Abwendung von Religionen ist für ihn Teil des Aufklärungsprozesses, in dem wir uns befinden. Kurz: Alles gut, nur eines müsse der Globus in den Griff kriegen – das mit dem Klima, und auch hier glaubt Pinker fest an den progress durch Wissen, Forschung, Innovation. Doch während er sein Thema retrospektiv sehr langfristig ausbreitet und uns immer wieder zeigt, wie schlimm es früher war, ist er prospektiv mitunter recht kurzsichtig. Sonst würde er nicht allen Ernstes vorschlagen, die Kernenergie wieder auszubauen, weil sie im Vergleich zu anderen Energiequellen bislang viel weniger Todesfälle verursacht hat.

Jan-Peter Wulf

Female Indie

Vorschlag einer Erweiterung feministischer Mode: Ein Pullover mit der Aufschrift „The Future (of independent music) is female“. Die Frauen an den Gitarren und hinter den Mikrofonen und mit den Drumsticks in der Hand sind laut und leise, emotional und rebellisch, witzig und traurig, technisch versiert und gutaussehend – kurzum alle Zuschreibungen, die Männer in dem Genre ja schon seit jeher erfahren. Auch wenn ein paar versprengte Musikkritiker 2018 immer noch schreiben, dass „Frauen klimpern“ oder ihnen gern paternalistische Ratschläge geben. Die Liste toller Alben von weiblich besetzten Bands im Jahr 2018 ist jedenfalls lang: Caroline Rose, Snail Mail, Soccer Mommy, Forth Wanderers, Haley Heyndericks, Slothrust, Boygenius, Frankie Cosmos – um ein paar zu nennen. I-Tüpfelchen: Die zwei Berliner Herzenseroberinnen Laura und Andreya von Gurr bescheren uns Weihnachtsgrüße gemeinsam mit Eddie Argos.

Susann Massute

Fentanyl

Die gefährlichste Droge der Welt dürfte derzeit Fentanyl sein. Das synthetische Opioid soll alleine in den USA im Jahr 2017 für 29.000 Todesfälle gesorgt haben. Tendenz steigend. Man kann das nun zynisch finden, aber Fentanyl ist offenbar so effizient, dass es am 14. August 2018 erstmalig als Bestandteil der Medikamentenmischung zur Hinrichtung des Doppelmörders Carey Dean Moore hinzugefügt wurde. Fentanyl soll nun die Droge sein, die eine noch längere Todesliste aufweist als Heroin. Auch Prince starb 2016 an einer Überdosis jenes Medikaments. Mac Miller dieses Jahr auch. Ein Ende dieses schrecklichen Trends ist vor allem in Amerika vorerst nicht abzusehen.

Ji-Hun Kim

Flugscham

Jeden Tag dasselbe auf Facebook: Wir sehen Postings von Freunden und Bekannten, die uns über ihr Boarding informieren. Irgendwie ist das ins-Flugzeug-steigen immer noch ein wichtiges Element des modernen demonstrativen Konsums. Freiheit, Mobilität, Horizont erweitern. Widen your world. Stimmt ja auch, aber der globale Flugverkehr macht schon heute fünf Prozent des CO2-Ausstoßes aus, Tendenz steigend. Dagegen kann man gar nicht ankompensieren. Nie zuvor wurde so viel geflogen wie 2018, über 200.000 Flüge an einem einzigen Tag verbuchte Flightradar24. Sollten wir uns schämen? Ja, sagen zumindest die Schweden: Dort wurde nun der Begriff „Flygskam“ geprägt, es gibt große Gruppen, deren Mitglieder sich Tipps für alternative, nicht-abgehobene Formen des Reisens zuspielen und die Zahl der Flugreisen nimmt tatsächlich leicht ab, während Bahnfahrten wieder beliebter werden und sogar die teils (wie bei uns) eingemotteten Nachtzüge wieder aufgegleist werden. Wird es auch bei uns ein Trend? Es gibt erste Anzeichen. So bekam kürzlich der Berliner Senat medial eins auf den Deckel, weil selbst die Mitarbeiter der Umwelt- und Klimaschutzverwaltung häufiger mit dem Flieger als mit der Bahn nach Frankfurt oder Köln/Bonn reisen. Wir bleiben dran.

Jan-Peter Wulf

Grün

Es grünt so grün wenn Politikerträume blühn. Im vierten Jahrzehnt ihrer Existenz waren die Grünen im absoluten Umfragerausch, die Regierungsübernahme schien greifbar, selbst eine Kanzlerschaft nicht auszuschließen. Die Euphorie hat sich wieder abgekühlt, aber dennoch, was lange gereift und durch verschiedenste Häutungen nun endlich im Bewusstsein der deutschen Wählerschaft angekommen ist, kann nicht nur im schwarzen Bayern punkten, auch im Nachbarland Baden-Württemberg zeigt der ökologisch aufgemuskelte Kosmopolit auf zukünftige und notwendige Änderungen und Visionen. Fatal an dieser konstruierten Zielgeraden ist nur, dass auch die Gegenseite des politischen Spektrums nicht nur massiv aufgerüstet hat, sich vielmehr sehr effektiv wildernd der selben Strategien politischer Meinungsbildung bedient. Wer glaubt, man müsse nur mit erhobenem Finger auf Logik und Wissenschaft verweisen, um grundlegende gesellschaftliche Umwandlungen herbeizuführen, muss nur ganz kurz über den Zaun nach Frankreich blicken. Müll zu trennen und diesen gegebenenfalls sogar drastisch zu reduzieren, ist etwas essentiell anderes, als die langfristig notwendige Trennung vom eigenen Auto durchzusetzen. Die Franzosen errichten gerade Barrikaden auf den Champs-Elysées, das machen sie gerne. Soweit wird es auf dem Kurfürstendamm nicht kommen – eine intelligente und bürgernahe Heranführung an diese explosiven Themen hingegen sind dringend anzuraten, um der Rechten unseres Landes nicht zusätzlichen Brennstoff auf deren Fackeln zu gießen. Inzwischen geht es in Frankreich um mehr als nur als die Steuern auf Benzin. On vera.

Martin Raabenstein

Hannah Gadsby – Nanette

Hannah Gadsby Gif

Wenn es einen Standup-Comedy-Auftritt in diesem Jahr gab, den man sehen sollte, dann ist es Hannah Gadsbys „Nanette“. In dieser einfühlsamen, sehr persönlichen Performance erläutert Gadsby ihren Abschied vom Comedy-Business, denn – so viel kann ich vorweg nehmen – als lesbische Frau, die nicht einem femininen Körperklischee entspricht und die unfassbar traumatische Erfahrungen machte, will sie sich nicht mehr über sich selbst (und damit auch über Menschen, die ihre Geschichte teilen) lustig machen. Humor heilt kein Trauma. Das Zusehen ist eine emotionale Achterbahnfahrt: Man ballt wütend die Fäuste über ihre misogynen Erfahrungen, man weint wie ein Kind, wenn man die seelischen Verletzungen der jungen Hannah in Tasmanien hört und lacht laut auf, wenn die studierte Kunsthistorikerin Picasso entzaubert. Es ist ein bisschen ironisch, dass dieser letzte Auftritt vielleicht auch ihr erfolgreichster ist. Es geht jedoch weiter: Gadsby ist Gerüchten zufolge als nächster Oscar-Host im Gespräch.

Susann Massute

Hashtag-Aktivismus

Der politische Diskurs unter einem Hashtag ist 2018 gewiss nichts Neues. Bereits 2013 wurde #BlackLivesMatter groß und 2017 war das Jahr von #MeToo. Interessant ist zum einen die Fortführung von eben jenen Hashtags, unter denen Menschen Diskriminierungs- und Ausgrenzungserfahrungen teilen. Im letzten Jahr waren, vor allem im deutschsprachigen Raum, #MeTwo (initiiert von Ali Can) wichtig für Menschen mit Migrationshintergrund und #unten (initiiert von der Wochenzeitung der Freitag) für Menschen, die von Klassismus und Armut betroffen sind. Das Stichwort der Stunde: Intersektionalität. Eine alleinerziehende, türkische Frau hat es mitunter noch schwerer als ihre deutsche Leidensgenossin. Die Tatsache aufgrund verschiedener Persönlichkeitsmerkmale Opfer von verschiedenster Diskriminierung zu sein, ist besonders traurig, aber in der Kommunikation über Twitter und in der Öffentlichmachung eben jener Erfahrungen liegt auch ein bestärkendes Moment. Diskriminierung lässt sich nicht mit Hashtags aus der Welt räumen, aber sie können ein Anfang für gesellschaftliche Veränderung sein und Menschen verbünden, die das vorher vielleicht nicht getan hätten. Zweites Stichwort: #unteilbar. Die zwei großen zivilgesellschaftlichen Bündnisse und Veranstaltungen in diesem Jahr – #wirsindmehr und #unteilbar – tragen den Hashtag bereits im Namen. #wirsindmehr entspringt aus der Tradition der Konzerte gegen Rechts: Nach den fremdenfeindlichen Ausschreitungen in Chemnitz besuchten im September über 65.000 Menschen die Stadt um Feine Sahne Fischfilet, Die Toten Hosen, Kraftklub, Marteria, Casper, KIZ, SXTN und Trettmann zu sehen. Bei der #unteilbar-Demonstration (Motto: Für eine offene und freie Gesellschaft – Solidarität statt Ausgrenzung) kamen am 13. Oktober in Berlin über 240.000 Menschen zusammen, was alle Erwartungen übertraf. #wirsindmehr ist auf Platz 1 in der Twitter-Jahresauswertung zu den populärsten Debatten-Hashtags, #unteilbar findet sich auf Platz 5.

Susann Massute

Influencer

Dass Instagram einen großen Impact auf viele Lebensbereiche hat, ist nun keine Neuigkeit mehr. Seitdem dieser Kanal aber im Mainstream fest verankert ist, tun sich ganz eigene Dynamiken auf. In den USA geht jetzt nämlich der Trend um, dass viele junge Leute Postings als #Werbung bzw. #Ad kennzeichnen, obwohl sie gar kein Geld dafür bekommen haben. So wären Postings „authentischer“ heißt es – ich bekomme Schürfwunden vom Kopfkratzen. „Hui, hast du gesehen? Die Caro macht jetzt Kampagne mit Gucci! Voll fly! Wie macht die das?“ Content für solche Fotos sind ja in der Regel Klamotten und Accessoires. Stichwort #OOTD. Da sich aber die wenigsten normalen Menschen jeden Tag ein neues Outfit leisten können, widmen sich viele Tausende neuerdings dem sogenannten „Bulimie-Shopping“. Jeden Tag dutzend Kartons bei Zalando, Otto, Asos bestellen, Foto machen, alles wieder zurück als gratis Retoure – wie asozial kann man eigentlich sein? Social-Media-Experten gehen aber davon aus, dass der Milliarden-Instagram-Werbemarkt allmählich gesättigt sein könnte. Das dürfte auch daran liegen, dass bei den meisten Influencern um die 90 Prozent der Follower schlichtweg gekauft wurden. In Russland gibt es Automaten in der U-Bahn, an denen man Follower für wenig Geld aus armen Ländern erwerben kann. Duden, Oxford Dictionary und Wikipedia sollten derweil anfangen, die Artikel zu Authentizität neu zu schreiben.

Ji-Hun Kim

Jair Bolsonaro

Ein neues Schreckgespenst hat 2018 die politische Bühne betreten: Jair Bolsonaro. Am 22. Oktober wurde er per Sichtwahl zum Präsidenten Brasiliens gewählt, seit wenigen Tagen ist sein Kabinett komplett – pünktlich zum Jahresbeginn kann das Regieren losgehen. Was das bedeutet bleibt abzuwarten, doch seine Ansichten, Ankündigungen und Wahlversprechen lassen keinerlei Gutes ahnen.

Ein Auszug seiner Ansichten und Ideen:

  • Keine Ermittlung gegen Polizisten, die im Einsatz Kriminelle töten (brasilianische Sicherheitskräfte töteten im vergangenen Jahr bereits über 5.000 Menschen)
  • Menschenrechte schützen vor allem Verbrecher
  • Das Waffenrecht muss liberalisiert werden
  • Keine neue Schutzgebiete im Amazonasgebiet, dafür weitere Rodungen – und das Umweltministerium könnte man gleich ins Landwirtschaftsministerium eingliedern

Ein Auszug seiner Aussagen:

  • „Ich bin homophob und stolz darauf.“
  • „Wir werden unser Land von der ideologischen Färbung unserer auswärtigen Beziehungen befreien.“
  • „Meine Säuberungen werden umfassend sein.“
  • „Brasilien zuerst.“

Benedikt Bentler

Kommunikation

Der französische Philosoph Tristan Garcia legt mit seinem bei Suhrkamp aktuell erschienenen Buch „Wir“ eine sehr verständliche Erklärung vor, warum konstruktive Kommunikation zwischen unterschiedlichen sozialen Interessengruppen nicht mehr möglich zu sein scheint. Von unserem Autor Franck Eckert wunderbar im Detail erklärt, liegen den identitätsstiftenden Gemengelagen der divergierenden Gruppierungen jeweils andere Gewichtungen zugrunde. Wählt man, vereinfachend gesprochen, unter vielen verschiedenen drei solcher Begriffe aus, so ist schnell verständlich, warum eine Reihung Hautfarbe/Geschlecht/Nationalität mit der Reihung Nationalität/Geschlecht/Hautfarbe wenig, beziehungsweise gar nichts anzufangen weiß. Garcia erklärt dies durch die absteigende Wichtigkeit dieser hierarchisch gestapelten Bezeichnungen. Das „Wir“ kann es nur in der eigenen Interessenzusammensetzung geben, nicht aber im alles überspannenden, solidarischen „Wir“ sämtlicher Beteiligten. Wiewohl die Kritiker Garcias genau hier ansetzen, um eben jene fehlende Sehnsucht an Solidarität zu bemängeln, ist Garcias Ansatz ein hilfreiches Instrument zur täglichen Betrachtung gesellschaftlicher Fragmentierung.

Martin Raabenstein

Kylie Jenner

kylie jenner gif

Welche Rolle Influencer im Mediengeschäft spielen können, hat im Frühjahr Kylie Jenner bewiesen. Die angeblich jüngste Milliardärin aller Zeiten und wichtige Protagonistin der obszön-dekadenten Kardashian-West-Jenner-Sippe twitterte im Februar: „Sooo does anyone else not open Snapchat anymore? Or is it just me... ugh this is so sad,“ Was für die meisten ein einfacher Rant ist, sorgte in diesem Falle dazu, dass Snapchat danach binnen kürzester Zeit 1,3 Mrd. Dollar an Börsenwert verlor. Mit Macht kommt eben auch Verantwortung. Das wissen wir spätestens seit Donald Trump.

Ji-Hun Kim

Albert Serra

Albert Serra. Foto: Roman Ynan

Liberté

Die Amtszeit von Chris Dercon an der Berliner Volksbühne dauerte nur kurz. Bereits nach fünf Monaten wurde der ehemalige Leiters der Tate Modern mit Schimpf und Schande wieder aus der Stadt gejagt. Ob zu Recht oder Unrecht ist sicherlich nicht so eindeutig zu beurteilen. Fakt ist jedoch, dass der Nachfolger Frank Castorfs in Berlin nie wirklich eine Chance hatte. Zum Konzept Dercons zählte, vermehrt internationale Kunstschaffende im Haus am Rosa-Luxemburg-Platz zu präsentieren. Mit dem thailändischen Goldene-Palme-Gewinner Apichatpong Weerasethakul und dem katalanischen Fassbinder-Wiedergänger Albert Serra gehörten dazu auch zwei Regisseure, die bis dato weniger mit Arbeiten am Theater als als Filmemacher in Erscheinung getreten waren. Während Weerasethakul mit „Fever Room“ eine vorher bereits andernorts aufgeführte Video-Installation recycelte, schickte Albert Serra sich gemeinsam mit seinem unter anderem aus Ingrid Caven, Helmut Berger und Anne Tismer bestehenden Ensemble an, etwas genuin Neues zu erschaffen. Dabei kam „Liberté“ heraus: eine fast dreistündige Denkfigur über Moral, persönliche Freiheit und sexuelle Ausgelassenheit, angesiedelt in der Zeit kurz vor der französischen Revolution. Inszeniert wurde das Ganze von Serra komplett ohne Ortswechsel in einem einzigen Tableau Vivant, welches so dunkel gehalten wurde, dass es für die Zuschauer häufig schwer auszumachen war, welcher der mit Mikroports ausgestatteten Schauspieler eigentlich gerade seinen Text sprach. Klingt anstrengend, mögen einige jetzt denken, war es in gewisser Weise natürlich auch, doch gleichzeitig glich die Vorstellung auch einem nicht enden wollenden, absolut faszinierenden, minimalistischen Fiebertraum und stellte darüber hinaus eine äußerst gelungene und konsequente Umsetzung von Serras radikaler Filmästhetik für die Bühne dar. Von so etwas darf es an der Volksbühne gerne auch in der Zukunft mehr geben!

Tim Schenkl

Max Haiven

Max Haivens „Art after Money, Money after Art“ ist nur auf den ersten Blick ein Buch über den kapitalistischen Realismus des Kunstbetriebs. Auf den zweiten bietet es ein Panorama über die grundsätzliche Beschissenheit der Welt angesichts der Dynamiken von Finanzialisierungsprozessen, die aus jedem künstlerischen Widerspruch ihren Vorteil schlagen können und ihn somit gegen sich selbst verkehren, soll heißen noch mehr Dividenden abknapsen. Haivens denkbar luzide erläuterten Beispiele aus der Welt der „money art“ sind ohne weitere Vorkenntnisse in ökonomischer Theorie oder Kunstgeschichte verständlich und setzen allem angemessenen Zynismus eine provokative Idee entgegen: Was, wenn wir Geld abschaffen - und die Kunst gleich mit? Auch das klingt zuerst bescheuert, bescheuerter als die Gesamtsituation jedoch keineswegs. Ein wichtigeres Buch wurde lange nicht geschrieben. Jetzt muss es nur gelesen werden. Von Banksy zuerst.

Kristoffer Cornils

Mandy

Man weiß ja eigentlich immer schon nach fünf Minuten, ob einem der Film gefällt oder nicht. Mandy musste nur King Crimsons „Starless“ im Vorspann ausklingen lassen, um mich voll und ganz für sich einzunehmen. Mandy ist badass und gleichzeitig ganz sanft: Ein zum Leben erwecktes Airbrush-Gemälde direkt von der Kirmes, mit Greifvögeln und feurigen Himmelspanoramen und so ‘nem Scheiß, zu- und weggedröhnt von Jóhann Jóhannssons grandioser Gitarren- und Synthie-Mukke, die fast den gesamten Film durchzieht. Wer behauptet, Mandy sei Nicolas Cages großes Comeback, lügt zwar nicht, unterschlägt aber, was Andrea Riseborough als die Titelheldin und Linus Roache als Sektenführer Jeremiah alles an den Tisch bringen. Panos Cosmatos’ Film ist im Kern der denkbar krudeste B- oder C-Film-Trash; da aber alle Beteiligten die beste Arbeit ihres Lebens abliefern – allen voran der viel zu früh verstorbene Jóhannsson –, ist Mandy tatsächlich der einzige Film 2018, der die große Leinwand und die damit hoffentlich einhergehende geile Sound-Anlage zwingend nötig gehabt hat. Dass Mandy es hierzulande überhaupt ins Kino geschafft hat, ist den – ja! – HELDEN von Drop-Out Cinema zu verdanken. So geht Filmverleih!

Alexander Buchholz

Mein Gesicht gehört Taylor Swift

Man stelle sich das mal vor. Man ist Fan von einem Star und dieser Star kommt zum Konzert in Stadt. Tickets gekauft, schick gemacht, aufgeregt angestellt, schnell rein in die Halle, um sich die besten Plätze im teuren Pit zu sichern. Aber da steht eine Videoleinwand, auf der Aufnahmen des Stars gezeigt werden, die die Fans noch nie gesehen haben. Also bleibt man stehen und schaut gebannt auf den Screen. Was die Fans von Taylor Swift am 18. Mai im Rose Bowl in Pasadena, Kalifornien aber nicht wussten: Die Leinwand war eine Falle, dahinter Kameras aufgestellt. Jeder wurde fotografiert. Und die Bilder in Echtzeit an ein Computerzentrum übermittelt und dort mit einer Datenbank abgeglichen. Das Team von Frau Swift suchte nach bekannten Stalkern des Popstars. Hinweisschilder? Fehlanzeige. Und offenbar in den USA auch nicht notwendig. Dort gelten Konzerte als private Veranstaltungen – und beim Hausrecht gibt es wenige Einschränkungen. Wo die Bilder wie lange gespeichert wurden, bleibt unklar. Und die Konzert-Branche in den Staaten gibt sich optimistisch. Gesichtserkennung soll schon bald den Einlass bei Veranstaltungen schneller und sicherer machen. Keep smiling.

Thaddeus Herrmann

Miteinander

Es war kein gutes Jahr für die Menschenrechte, für den gegenseitigen Respekt und das friedvolle Miteinander – wie immer eigentlich. Da leben wir in unseren vermeintlich aufgeklärten Blasen des strukturierten Globalismus und preisen das Weltbürgertum als Totschlagargument gegen Hass und Gewalt. Geholfen hat das alles nichts. 2018 verging kaum ein Tag, an dem man sich nicht gewünscht hätte, nicht zur Spezies Mensch zu gehören und so das Fremdschäm-Cocooning zum neuen Imperativ erklären zu können. Warum funktioniert das nicht mit dem Miteinander? Einen Erklärungsansatz liefert Ben Judah in seinem Reportage-Band „This Is London“. Der Journalist wanderte monatelang durch die britische Hauptstadt, von Bezirk zu Bezirk, um die sich im steten Wandel befindlichen sozialen Strukturen der Nachbarschaften erst zu verstehen und dann zu analysieren. London ist in diesem Zusammenhang kaum mehr als ein Platzhalter für jede Stadt auf der Welt, egal ob groß oder klein. Denn die Menschen, die Judah trifft, könnten in ihren Umständen überall leben. Von prekär bis superreich, vom rumänischen Obdachlosen über den polnischen Bauarbeiter, die russische Oligarchen-Tochter bis zur arbeitslosen Mutter aus der Vorstadt: Sie alle haben mit durchaus vergleichbaren Machtstrukturen zu kämpfen und rennen gegen die gleichen Wände – nur mit unterschiedlich starker Wucht. Judahs Reportagen fügen sich so zu einem faszinierenden wie schmerzhaften Sittengemälde zusammen, die vor allem eines offenlegt: Nach oben buckeln und nach unten treten, liegt im Kern der menschlichen DNA. Missvertrauen liegt im Kern der menschlichen DNA. Und das Verfangensein in Strukturen liegt im Kern der menschlichen DNA. Und genau daran scheitert das Miteinander. Das ist per se keine neue Erkenntnis, aber in der multikulturellen Vielschichtigkeit einer Stadt wie London erschütternd auf den Punkt erzählt. Judah hält uns allen einen Spiegel vor. Schauen wir hinein, sehen wir, dass es so nicht weitergeht – nicht weitergehen kann.

Thaddeus Herrmann

Musikjournalismus

Musikjournalismus gif

Kein Film hat den Musik-Nerd so treffend porträtiert wie High Fidelity, diesem unsäglichen, nie enden wollenden Insider-Talk ein größeres Monument errichtet. Betroffene werden diesen Vergleich nicht mögen, aber: Sie werden sich nicht mehr in gedruckter Form dagegen verwehren können. Der deutsche Musikjournalismus hat keine Print-Heimat mehr. Was sagt das über unseren Alltag, über den Generationenbaum und die Mehrheit der hier (noch) Lebenden, die genau mit diesem Nerdsprech groß geworden und daran gewachsen sind? Die Frage ist nur noch unter nostalgischen Gesichtspunkten interessant, das Musikjournalsterben war ein langer und schmerzhafter Prozess und ist hiermit final abgeschlossen – heutzutage greift der interessierte Babyboomer zur Apothekerzeitung und nicht mehr zur Spex. Wohin also mit dem ganzen „Und dann hat der Gitarrist diese seltsame Vision im Himalaya gehabt und zack da war er, dieser himmlische Lick“? Auf den Müll damit oder ab in die Wildnis des unüberschaubaren Webs. Der Musictalk, ob nun wie in den Anfängen unsicher tapsig und bauchgesteuert oder später hochintellektuell unterfüttert hat sich selbst abgeschafft. Wenn sich heutzutage ein Jugendlicher zu einem Kauf entscheiden möchte, beraten ihn zehn seiner Smartphone-Buddies, und kein Diedrich Diederichsen mehr. Schade, eigentlich, ja, aber für wen?

Martin Raabenstein

Not welcome

„You’re worth a trillion dollars, why do you need our $3 billion when we have crumbling subways, crumbling public housing, people without healthcare, public schools that are overcrowded?“

Corey Johnson, Pressesprecher der Stadt New York, bei einer Anhörung im Rathaus zum Bau eines neuen Hauptquartiers von Amazon in New York. Das Unternehmen entschied dieses Jahr, einen neuen, zweiten Unternehmenssitz neben Seattle aufzubauen und konnte die Rosinen picken. Die US-amerikanischen Bundesstaaten überboten sich gegenseitig mit Steuervorteilen für den Online-Händler, um sich und ihrer Bevölkerung die Arbeitsplätze bei und die Wirtschaftskraft von Amazon zu sichern. Der Widerstand in Brooklyn dürfte jedoch nichts bewegen: Der Kapitalismus siegt erneut.

Thaddeus Herrmann

Offener Brief

Eine unvollständige Sammlung offener Briefe im Jahr 2018

Offener Brief Gif

15. Januar 2018
Absender/in: zahlreiche Kunst- und Kulturschaffende
Empfänger/in: Documenta-Aufsichtsrat
Betreff: Die Zukunft der Documenta, gegen Schuldzuweisungen gegen die Documenta-Geschäftsführerin Annette Kulenkampff und Forderung nach einem internationalen Expertenbeirat

27. Februar 2018
Absender: CCC – Chaos Computer Club
Empfänger/in: Heiko Maas, Brigitte Zypries, Monika Grütters, Peter Altmaier, Axel Voss, Angelika Niebler und Sylvia-Ivonne Kaufmann
Betreff: Europäische Upload-Filter-Regelung verhindern

1. Juli 2018
Absender: Markus Stillger, Mitglied des Fanclubs »Freunde der Nationalmannschaft«
Empfänger: DFB-Präsident Reinhard Grindel
Betreff: Das deutsche WM-Debakel und die katastrophale Arbeit der DFB-Spitze

4. Juli 2018
Absender/in: Kuratorin Felizitas Stilleke sowie zahlreiche Kunstschaffende aus der Theaterszene
Empfänger: Frank Castorf
Betreff: Replik auf Castorfs sexistische Äußerungen im SZ-Interview

22. Juli 2018
Absender: Fußballspieler Mesut Özil
Betreff: Besuch mit dem türkischen Präsidenten Erdogan

7. September 2018
Absender/in: Allgemeiner Deutscher Fahrradclub e.V.
Empfänger/in: Bundesminister Andreas Scheuer
Betreff: Mangelnde Radverkehrsförderung im Verkehrsetat im Bundeshaushalt 2019

21. September 2018
Absender/in: über 8.500 Kulturschaffende
Empfänger: Horst Seehofer
Betreff: „Seehofer muss gehen“ – Sabotage der Arbeitsfähigkeit der Bundesregierung, Darstellung von Migration als vermeintliche Ursache von Problemen, Hans-Georg Maaßen

26. September 2018
Absender/in: verschiedene Professor/innen für Gestaltung, Typografie und Grafikdesign, u.a. Markus Dreßen, Fons Hickmann, Tanja Prill, Sascha Lobe
Empfängerin: Stiftung Buchkunst
Betreff: Wider „das schöne (deutsche) Buch“ – Kritik an der Preisvergabe zum schönsten, deutschen Buch und Einsatz für „einen alternativen und transnationalen buchästhetischen Diskurs“

28. September 2018
Absender: ein anonymer Polizist
Betreff: Ein Polizist möchte aus moralischen Gründen nicht mehr an den Einsätzen im Hambacher Forst teilnehmen

11. Dezember 2018
Absender/in: CORRECTIV-Redaktion
Empfänger/in: Justizministerin Katarina Barley, Finanzminister Olaf Scholz
Betreff: „Journalismus ist kein Verbrechen“ (Ermittlungen gegen CORRECTIV-Chefredakteur)

Susann Massute

Offene Türen

Ich bin im letzten Jahr öfter mal im Knast gewesen. Als Journalistin habe ich Interviews mit Häftlingen gemacht. Ich wollte wissen, wie das so läuft hinter Mauern und Stacheldraht. Und – ich war angenehm überrascht über die Offenheit der Männer dort. Noch vor ein paar Jahren war das anders. Sicherheit und Ordnung statt Begegnung lautete das Konzept in der Berliner Justizvollzugsanstalt Moabit. Das ist eine U-Haft, wo erst mal alle landen, die einer Straftat bezichtigt werden, egal ob sie die wirklich begangen haben oder nicht. Alle der rund 1.000 Insassen in Moabit warten hier auf ihren Prozess. Werde ich verurteilt oder kann ich wieder gehen? Ein Häftling nannte das „Leben in der Warteschleife“. Doch es gibt Abwechslung in Moabit: Niemand muss ständig in der Zelle sitzen und warten. Es gibt Arbeitsgelegenheiten, Yoga- oder Meditationsgruppen, einen Chor, etliche Gesprächskreise und seit kurzem sogar eine Art Familientreffen für die Väter. Einmal im Monat kommen die Kinder zu ihnen in den Knast. Dann wird gespielt, getobt oder gebastelt. Sogar die Geburtstage der Kinder werden neuerdings im Knast gefeiert. So richtig mit Torte und Brause. Die Papas besorgen alles, weil die Kinder selbst nichts mitbringen dürfen. Es gibt sie eben noch: die Sicherheitsvorschriften. Ich habe von den Vätern erfahren, was diese Treffen für sie bedeuten. „Wir fühlen uns auch als Straftäter wertgeschätzt, wir sind weiter die Väter unserer Kinder“, sagen sie. Und die Kinder? Die wollen nach den Treffen oft gar nicht mehr gehen, sondern bei Papa schlafen. Geht natürlich nicht. Mich hat diese neue Offenheit beeindruckt. Geplant ist auch – zumindest in Berliner Knästen –, dass alle Häftlinge mit Tablets ausgestattet werden. Telefon und Fernsehen haben die über 4.000 Gefangenen in Berlin übrigens schon länger in ihren Zellen. Na bitte, geht doch.

Monika Herrmann

Oscar

Erinnert ihr euch noch an #MeToo? Das war 2017, und die Bewegung startete maßgeblich in Hollywood. Hollywood, dieses glamouröse, schillernde, aber auch menschlich zutiefst verrottete System. Man gelobte Besserung, man hat seitdem einige Stars (Weinstein, Spacey, Cosby) als Bauernopfer exkommuniziert und 2018 hätte das Jahr sein können, in dem der wichtigste Filmpreis der Welt, der Oscar den Faden aufnimmt und den Diskurs konstruktiv fortführt. Frances McDormand hielt eine tolle Rede. Unterm Strich gingen aber von 33 möglichen Oscars gerade mal sechs an Frauen. Die niedrigste Quote der letzten sechs Jahre. So sieht gesellschaftlicher Fortschritt leider nicht aus.

Ji-Hun Kim

Plastik Will Smith Gif

Plastik (1 – 2): Trinkhalm

Der Verlierer des Jahres ist der Plastiktrinkhalm. Tut uns leid. Nicht.

Jan-Peter Wulf

Plastik (2 – 2): Pazifik

The Ocean Cleanup

Es war am 8. September, als sich die Welt plötzlich ein bisschen besser anfühlte. An diesem Tag machte sich von San Francisco aus „The Ocean Cleanup“ auf den Weg in Richtung Great Pacific Garbage Patch, dem Teil des Pazifiks, in dem sich ob der Strömungsverhältnisse in den vergangenen Jahrzehnten rund 80.000 Tonnen Plastikmüll angesammelt haben. Die riesige, schleppnetzartige Konstruktion soll genau diesen Müll einfangen und bis zum Abtransport halten. 2013 war das Projekt von dem damals erst 18-jährigen Niederländer Boyan Slat ins Leben gerufen worden. Kritiker hatten die Machbarkeit immer wieder angezweifelt und fühlen sich kurz vor Jahresende bestätigt. In den zwei Monaten, in denen das „System 001“ nun unterwegs ist, konnte noch kein Plastikmüll gefangen werden. Die Macher geben hingegen Entwarnung und sind weiter davon überzeugt, dass die ambitionierte Initiative funktionieren könne: Das System bewege sich aktuell einfach nicht schnell genug und könne deshalb den Müll nicht festhalten. Zwar habe man den Grund dafür noch nicht gefunden, alle anderen Aspekte des Projekts würden aber funktionieren. An einer Lösung werde bereits gearbeitet. Der Great Pacific Garbage Patch zwischen Kalifornien und Hawaii ist eine von fünf Zonen in den Ozeanen, in den sich Müll besonders stark sammelt, den subtropischen Wirbeln.

Thaddeus Herrmann

Queerness im Club

Von Planningtorocks „Powerhouse“ bis Lotics „Power“: Queere Pop- und Club-Musik war niemals stärker, niemals präsenter als 2018. Auf allen Repräsentationsebenen wurden loud und proud die Zu- und Selbstbeschreibungen neu verhandelt. Doch es gab auch kritische Stimmen, eine vor allem. Nachdem Terre Thaemlitz 2017 mit dem Multimedia-Kunstwerk „Deproduction“ der Community heteronormative Bedürfnisse und bloßen Essentialismus vorwarf, folgten dieses Jahr zwei EPs, die das Ganze Dancefloor-ready zurecht spachtelten. Nicht allerdings, als wäre es rein beim friendly fire geblieben: Als DJ Sprinkles drehte Thaemlitz beim vielleicht besten Panorama Bar-Set der letzten drei Jahre für alle das House-Verständnis auf links um: Statt auf Beat gemixter Übergänge gab es Ambient-Wolken, statt „Can You Feel It“ „Sinnerman“. Selten war laut so leise, Ekstase so ernüchternd. Ähnliches lässt sich auch von James N. Murrays „City of the Night“ sagen, das beste übersehene House-Not-Quite-House-Album des Jahres: in tiefe Melancholie getränkte Tunes, die an der Oberfläche Großstadteinsamkeit einfangen und darunter mit einer theoretisch umrahmten Story über Cruising am Ende der AIDS-Ära auflauern. Hier wird keine Stimme, sondern eine Stimmung laut - und bewirkt dabei vielleicht noch mehr als jede Ansage.

Kristoffer Cornils

Selbstbestäubung

Das auf Interviews basierende Buch „iGen“ (deutscher Titel: „Me, my Selfie and I“) der in San Diego lehrenden Professorin Dr. Jean M. Twenge vermittelt einen guten Eindruck der Wünsche und Vorstellungen der Generation Z. Wer sich zudem den deutschen Wikipedia-Eintrag zu eben dieser Generation zu Gemüte führen möchte oder den noch kritischer formulierten über die Generation Snowflake, kann sich für Schnappatmung entscheiden oder einfach weiter beobachten. Keine Nachfolge-Generation hatte jeweils eine Carte Blanche, alle sind mit sprachlos offenen Mündern, mal laut, mal leise kommentiert worden. Hinzu kommt noch, dass sich unsere Gesellschaft eine immer längere Adoleszenz leisten zu können glaubt. Wir werden also erst in ein, zwei Jahrzehnten wissen, wie sich diese Menschen tatsächlich mit und in ihrer eigenen Alterung sozial integrieren – oder eben auch nicht – und grundsätzlich neue, für uns Ältere möglicherweise unverständliche Verbindungen formen. Nimmt man den Begriff „Schneeflöckchen“ in seiner schlimmsten Deutungsform ernst, sind so dargestellt emotional hoch bewaffnete, schutzzonensichere und helikopterverstörte Wesen „No target bullits“, tödliche Blindgänger, deren mögliche Konsequenz sich so keiner auszumalen wagt. Auch die alten Ägypter haben über ihre Nachkommen geflucht, mag es dabei bleiben. Offen die Zukunft ist, sagt Yoda.

Martin Raabenstein

Sexismus

Es gab mehr Aufreger in der Sportwelt in diesem Jahr als das Treffen der Fußballer Mesut Özil und Ilkay Gündogan mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Und Hoeneß. Gegen diesen Scheiß ist das hier richtig scheiße. Und bestätigt so ziemlich jede beschämende Klischee eines patriarchischen Rollenverständnisses, die faktisch jegliches Verständnis vermissen lässt. 2018 spielten bei der Darts-WM zum ersten Mal auch Frauen mit. Gegen Männer. Das kam beim „Experten“ Gordon Shumway, der beim Leitmedium „Sport1“ als Moderator arbeitet, gar nicht gut an. Die nächste Darts-WM guckt er am heimischen Laptop.

Thaddeus Herrmann

Sound Spatialization

Monom 05

Spatialization – ein Begriff der ungewohnt neu klingt und beim ersten Aussprechen nur selten mit Leichtigkeit über die Zunge kommt. Doch hinter diesem Begriff steckt einer der größten, vielleicht sogar der größte (live-)musikkulturelle Hype, den Berlin in diesem Jahr erfahren hat und der uns im Laufe des kommenden Jahres mit Sicherheit noch öfter begegnen wird. Es geht um räumlichen Klang, 3D-Sound, 4D-Sound – präsentiert als audiovisuelles Gesamtpaket wie beim „Hexadome“ im Martin Gropius Bau, oder als rein akustische Erfahrung, ermöglicht durch 48 im Raum verteilte 360°-Lautsprecher wie im „Monom“ im Berliner Funkhaus. Fast scheint ein unausgesprochener Wettbewerb der Kollektive um die beste Raumklang-Technologie, das bestkuratierte Lineup, die beste audiovisuelle Live-Experience begonnen zu haben. Aus inklusivem, partizipatorischem Rave wird exklusive Rezeption. In den Ring gestiegen ist zuletzt noch das Spatial Lab, mit der Veranstaltung „Contentious Constant“ im Zeiss-Großplanetarium an der Prenzlauer Allee. Die Sound-Technologie hier: Ambisonics. Video? Full-Dome-Projektion – versteht sich ja von selbst. Wieder „immersive“, wieder „ultra-high-resolution“ of everything, wieder zum stabilen Ticketpreis von 30 Euro ausverkauft. Mal sehen was noch kommt, wir bleiben dran, wie bisher auch:
Über das Hexadome im Berliner Martin-Gropius-Bau
Felix K und Ena über das Soundsystem 4DSOUND im Berliner „Monom“

Benedikt Bentler

The Year In Drake

Von allen Drake-Jahren war 2018 vermutlich das schlechteste. Nachdem Pusha T ausgeplaudert hatte, Drizzy sei Vater eines unehelichen Kindes, bekam die schöne Drake-Welt auf einmal Schlagseite. Nicht wegen des Patchwork-Papa-Daseins, sondern vielmehr wegen der Geheimhaltung desselben. Da bretterte auf einmal die Realität in das Drakesche Rollenspiel, das eben nicht nur den Player kannte, sondern auch den liebeskranken Junggesellen oder den unverstandenen Wimp. Drizzys Inszenierungen von Männlichkeit waren oft anders, weniger misogyn und moderner als im Rap üblich. Aber nun wirkte ein Track wie „I’m Upset“, in dem sich der Champagne-Papi über Unterhaltsforderungen beklagt, bloß noch unangenehm kleinkrämerisch. Und auch musikalisch war „I’m Upset“ nur einer von ziemlich vielen eher mittelmäßigen Tracks, die zusammen dann „Scorpion“ ergaben, das mit unübersehbaren Opus-Magnum-Anspruch ausgestattete, äh, Doppelalbum. Gute Singles, ok. Streaming-Rekorde eingestellt, check. Aber man erinnere sich zum Beispiel an das unsägliche Michael-Jackson-Feature, das selbst der Jackson-Familie peinlich war. Oder daran, wie Drake sich in „Talk Up“ ausgerechnet vom Rap-Opa Jay-Z die Butter vom Brot stehlen ließ. Auf „Scorpion“ klang der 6-God auf einmal lazy. Die Kids scheint eh anderes zu kümmern: Während Drakes Management Will Smith anheuerte, um mit der „In My Feelings“-Challenge den Social-Media-Grind des Jahres zu lancieren, kam es auf den Straßen von L.A. nach der Beerdigung von XXXTentacion zu spontanen Ausschreitungen.

Christian Blumberg

VIVA

25 Jahre VIVA und ein Ende: Am 31. Dezember um 13 Uhr wird der Musik-Fernsehsender abgeschaltet. Seinerzeit von Popkomm-Kopf Dieter Gorny als deutsche Antwort auf MTV gestartet, war es für Moderatoren wie Charlotte Roche, Sarah Kuttner, Stefan Raab, Matthias Opdenhövel oder Oliver Pocher das Sprungbrett in die TV-Karriere. Der Sender ist schon seit 2004 Teil des MTV-Unternehmens Viacom und teilte sich zuletzt einen Programmplatz mit Comedy Central und 0,1% Marktanteil. Ganz persönlich verbinde ich mit VIVA vor allem die Technoshow „Housefrau“ mit Mate Galic und Sabine Christ, das anarchische „Zwobot“ auf VIVA 2, „Mixery Raw Deluxe“ mit Falk Schacht und jede Menge Zeitverlust beim Betrachten entbehrlicher Dance-Music-Videos. Schön war’s, damals. Das erste Video, was auf dem Sender damals lief, hier noch mal für euch.

Jan-Peter Wulf

Wohnungssuche in Berlin

Missgünstiges Nicken allenthalben: Ja, wir auch hier, schon wieder. Irgendeine Uhrzeit, zum wiederholten Male in derselben Straße, der Kader der Unglücklichen besteht überwiegend aus denselben Gesichtern wie beim letzten Mal. Es ist eins, von der zunehmenden Wohnungsnot und den Immobilienspekulationen ausländischer Investoren oder Unternehmen wie der Deutsche Wohnen aus den Medien zu erfahren. Es ist ein anderes, dabei zu sein, wenn 65m² laminierter Wohnraum bei 12€/m² ohne EBK oder Balkon 50 oder mehr verschiedene Parteien anlockt. Zu denken: Fuck, schon wieder so eine Scheißmutti mit ihrem Blag. Zu denken: Eine italienische Freundin zu haben ist im Zweifelsfall noch besser als ein türkischer Ehemann. Zu denken: Guck, die Bonzenkinder wieder. Zu denken: Guck, die geben gleich den Wisch vom Amt noch mit ab. Wer wissen will, wie das Kapital genau Neid, Missgunst, Verachtung und andere Ismen produziert, musste 2018 nur zehn Minuten eher als auf ImmobilienScout24 angegeben für den Besichtigungstermin zur Wohnung im 3. OG links auftauchen und auf das hässliche Blubbern der inneren Stimme horchen.

Kristoffer Cornils

Zwischen den Jahren

Ist „zwischen den Jahren“ nicht ein schöner Ausdruck? 2018 ist so gut wie vorbei, 2019 hat noch nicht angefangen – wir sitzen von Adventskalenderschokolade gefüllt und müde vom Vorweihnachtsstress im Dazwischen. Und es ist vielleicht die allerschönste Zeit, die Betriebe und das Telefon stehen still, wenig bis keine Verpflichtungen locken nach draußen, man schaut nur kopfschüttelnd zurück: „Was für ein Jahr!“ und traut sich kaum nach vorn zu blicken.
Das Team von Das Filter wünscht euch, lieben Leserinnen und Lesern, eine herrlich stille Zeit im Dazwischen (und natürlich auch ein frohes Fest sowie einen angenehmen Jahreswechsel).

2019 gif

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