„Gangs sind in der Corona-Krise eine Ordnungsmacht“Interview mit Julia Jaroschewski und Sonja Peteranderl vom BuzzingCities Lab

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In Städten wie Ciudad Juárez hat der Drogenkrieg Spuren hinterlassen – auch während der Pandemie hält die Gewalt an.

Steigende Corona-Infektionszahlen, Gesundheitssysteme vor dem Zusammenbruch und Gangs, die Ausgangssperren verhängen: Lateinamerika ist das neue Epizentrum der Corona-Pandemie.

Es scheint eine Ewigkeit her zu sein, als im Februar 2020 nach nur acht Tagen das Corona-Krankenhaus in Wuhan fertiggestellt wurde. Von der Krise, die in Asien und Europa zu diesem Zeitpunkt bereits bleibende Spuren hinterließ, war in Lateinamerika noch nicht viel zu bemerken: Der Sommer war gerade in den Endzügen und der Karneval verwandelte die Großstädte Brasiliens wie in jedem Jahr in eine schwitzige Suppe aus Paraden, Partys und Samba. Social Distancing? Wohl eher das Gegenteil war zu beobachten, obwohl dies bereits im März vom brasilianischen Gesundheitsministerium empfohlen wurde. Während das Land den Zika-Virus oder die AIDS-Epidemie erfolgreich in den Griff bekommen hat, scheitert es an COVID-19. Derzeit liegt es auf Platz zwei der meisten Infektionen und Todesfälle, nur getoppt durch die USA. Selbst die Infektion des Präsidenten Jair Bolsonaro reichte nicht aus, die Schwere der aktuellen Situation zu verdeutlichen: vielmehr nutzte er die Medienpräsenz, um die Pandemie noch weiter herunterzuspielen. Ideologisch ganz Trumps populistischem Vorbild folgend, entfalten die Handlungen und das fehlende Eingreifen des brasilianischen Hasardeurs ihre desaströse Wirkung. Und auch in anderen Ländern Lateinamerikas ist die Lage brisant: Lokale Gangs postulieren sich als Robin Hoods, in dem sie Essen ausgeben, Ausgangssperren verhängen und diese gewaltsam durchsetzen. Freund und Helfer? Wohl kaum, denn gerade wirtschaftlich schwächere Länder sind für diese Form der Macht- und Einflusserweiterung anfälliger, die zu stetig wachsender Korruption und möglicherweise zu weiterer Entdemokratisierung beiträgt. Wir haben mit der Investigativjournalistin Julia Jaroschewski und SPIEGEL-Lateinamerika-Korrespondentin Sonja Peteranderl gesprochen. Beide berichten seit mehr als zehn Jahren aus Lateinamerika.

Sie sind Gründerinnen des Think Tanks BuzzingCities Lab und analysieren Kriminalitätstrends, Sicherheitspolitik wie den globalen Drogenkrieg und alternative Strategien sowie Technologie.

Ein Gespräch über die Ausbreitung des Coronavirus in Lateinamerika, die Rolle von Gangs und Kartellen - und Wege aus der Krise.

Ihr seid viel in Lateinamerika unterwegs, habt beide lange in Brasilien und Mexiko gelebt und gearbeitet. Wie empfindet ihr die Corona-Krise und wie ist die Stimmung in den Bevölkerungen Lateinamerikas?

Julia Jaroschewski: Brasilien steht nach den USA weltweit an Platz zwei bei den betroffenen Ländern und hat mehr als vier Millionen bestätigte Corona-Infektionen und fast 127.500 Todesfälle. Der rechtskonservative Präsident Jair Bolsonaro hat die Krise von Anfang an heruntergespielt und gesagt, es würde sich nur um eine kleine Grippe handeln – inzwischen haben er und seine Frau sich selbst angesteckt. Das Land steckt in einer Regierungskrise, mehrere Gesundheitsminister wurden ausgetauscht, weil sie die Linie von Bolsonaro nicht mehr mittragen konnten. Einige Gouverneure haben direkt strenge Maßnahmen getroffen und sehr schnell Gastronomie, Geschäfte und Strände geschlossen, während Bolsonaro das Virus noch verharmlost hat. Die Pandemie polarisiert die Bevölkerung noch stärker als zuvor: Ein Großteil steht hinter den Corona-Schutzmaßnahmen und verzweifelt an Bolsonaro – es gibt aber auch viele Bolsonaro-Anhänger, die für ihn protestieren.

Wie begegnet Mexiko der Krise – und gibt es bei den Präventionsmaßnahmen enorme Unterschiede zwischen den verschiedenen Ländern Lateinamerikas?

Sonja Peteranderl: Länder wie Argentinien oder El Salvador haben sofort reagiert, die Grenzen geschlossen und strenge Ausgangssperren durchgesetzt – weil sie fürchten, dass ihnen sonst ein Zusammenbruch ihrer Gesundheitssysteme droht. Mexiko hat zwar nicht-essentielle Wirtschaftsbereiche geschlossen und die Bewohner wurden angewiesen, zu Hause zu bleiben – aber es gab keinen obligatorischen, landesweiten Lockdown. Es ist ein schwieriger Balanceakt: Die Länder in Lateinamerika versuchen, die Ausbreitung von Corona einzudämmen und gleichzeitig die Wirtschaft irgendwie am Laufen zu halten. Viele Menschen sind im informellen Sektor beschäftigt, und vor allem die Ärmsten werden von der Coronakrise hart getroffen.

Julia Jaroschewski: In Armenvierteln leben die Menschen sehr beengt und haben kaum Möglichkeiten, sich zu schützen. Auch haben viele ihre Jobs verloren. In den brasilianischen Favelas haben sich Bewohner und lokale Organisationen zusammengeschlossen, die Lebensmittel und Desinfektionsmittel verteilen und Bewohner über Hygienemaßnahmen aufklären. In der Favela Providência in Rio de Janeiro bauen etwa Aktivisten Wasserleitungen und öffentliche Waschbecken, damit sich die Bewohner wenigstens die Hände waschen können. In vielen Favelas fällt das Wasser immer wieder aus oder die Menschen haben gar keinen Zugang zu Wasser.

Mexico Corona 02

In Lateinamerika trifft die Pandemie ärmere Menschen besonders hart– viele können es sich nicht leisten, zu Hause zu bleiben.

In Lateinamerika haben Gangs die Durchsetzung von Lockdowns in die Hand genommen. Welches Ausmaß hat die Gewaltbereitschaft bei Missachtung dieser Ausgangssperren angenommen?

Julia Jaroschewski: In Lateinamerika kontrollieren Gangs die Armenviertel, in Ländern wie Brasilien, El Salvador und teils auch Mexiko zwingen sie den Handel, die Läden und Märkte dazu, zu schließen, sie haben Partys verboten, weisen die Bewohner per WhatsApp an, Masken zu tragen und sich an die Ausgangssperren zu halten. Sie drohen damit, dass sie die Menschen bei Missachtung der Ansagen bestrafen. Und die meisten halten sich eher daran als an Vorgaben von Staat und Polizei. Weil sie wissen, welche Konsequenzen drohen. Wer sich nicht an die Regeln der Gangs hält, wird verprügelt, gefoltert, im Extremfall auch getötet.

Sonja Peteranderl: Online zirkulieren Videos von Gangs aus Zentralamerika, die Menschen zur Bestrafung mit einem Baseballschläger gegen die Kniekehlen schlagen – das soll andere Bürger disziplinieren. Gangs treten in der Krise als Ordnungsmacht auf und zeigen damit auch die Schwäche des Staates auf. Sie versuchen, ihre eigene Macht auszubauen und sich als Helfer zu präsentieren. In Mexiko karren schwer bewaffnete Männer mit Pickups Lebensmittelpakete heran und verteilen sie an die Bevölkerung. Trotzdem gehen die Gewalt, die kriminellen Geschäfte und auch die Konflikte zwischen den Gangs natürlich trotz Pandemie weiter.

Geht die Strategie der Gangs auf, als Helfer wahrgenommen zu werden?

Julia Jaroschewski: Trotz ihrer Not können die Menschen die Situation immer noch recht gut analysieren und wissen, dass Gangs die Situation ausnutzen. Trotzdem sind sie den Banden ausgeliefert und folgen deren Anordnungen. Masken oder Ausgangssperren sind aber Präventionsmaßnahmen, bei einem akuten Corona-Ausbruch können die Gangs auch nichts mehr machen- Dennoch erhalten sie eben mit ihren Aktivitäten ihren Status als Ordnungsmacht, weil der Staat absent ist. Um so wichtiger ist es, dass lokale Organisationen und NGOs gerade in dieses bestehende Machtvakuum eintreten – damit es eben nicht nur die Gangs sind, die hier aushelfen.

Welche Auswirkungen könnte die Einflussnahme der Gangs langfristig auf die Bevölkerung haben und was bedeutet dies für die Politik? Was müssten Regierungen und globale Akteure jetzt gezielt angehen, um der wachsenden Einflussnahme der genannten Gruppen entgegenzuwirken?

Sonja Peteranderl: Das Misstrauen in den Staat und die Politik ist gerade in sich selbst überlassenen Vierteln sehr groß. Das könnte zukünftig eine noch stärkere Abwendung von der Politik, aber auch populistische Tendenzen befördern. Lateinamerikas Staaten haben zwar Hilfsprogramme für ärmere Menschen und kleine und mittlere Unternehmen aufgelegt, aber oft reichen die Mittel nicht oder die Hilfe kommt nicht an. Für Jugendliche aus Armenvierteln bieten Gangs auch ohne Bildung eine wenn auch fragwürdige Karriere und einen gewissen Status. Gleichzeitig haben die Regierungen sozialen Problemen und organisierter Kriminalität in der Coronakrise und auch zukünftig noch weniger entgegenzusetzen. Personal, Budget, Ressourcen werden gerade auf die Eindämmung der Gesundheitskrise konzentriert und die Wirtschaftseinbrüche werden die Mittel in Zukunft auch langfristig einschränken.

Julia Jaroschewski: Die Coronakrise zeigt nur noch stärker das strukturelle Problem von Staaten auf, die sozial zu wenig in Erscheinung treten. In diesem Vakuum entstehen illegale Parallelherrschaften, die sich über die Jahre immer stärker manifestieren und etablieren. Zudem werden in Brasilien etwa weiterhin brutale Polizei-Operationen durchgeführt, bei der auch Dutzende Jugendliche und Kinder getötet worden sind, der Staat wird daher teils als Bedrohung angesehen. Die Regierungen müssten viel stärker in benachteiligte Regionen investieren - in Bildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten, Sicherheit, Wasser und Kanalisationssysteme, eine angemessene Krankenversorgung.

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In Mexiko sind mehr als 65.000 Menschen an den Folgen einer Corona-Infektion gestorben.

Die Aktivitäten von kriminellen Organisationen wie Gangs, Mafiosi, Taliban oder japanischer Yakuza – sei es die Durchsetzung von Lockdowns oder die Verteilung von Hilfspaketen – sind ein globales Phänomen. Politisch nutzen natürlich verschiedene Akteure die derzeitige Lage für sich, sowohl in den Regierungen, als auch in kriminellen Organisationen. Gibt es Reaktionen auf diesen Trend?

Sonja Peteranderl: Es ist nichts Neues, dass Gangs und andere bewaffnete Organisationen in Krisen als Helfer einspringen, bei Überflutungen oder Erdbeben, aber auch im Alltag . Dennoch ruft das Phänomen gerade viel Aufmerksamkeit und Erstaunen hervor, zumindest bei Menschen, die sich noch nicht intensiv mit organisierter Kriminalität auseinandergesetzt haben. Gangs, aber auch Terrororganisationen wie die Taliban betreiben gerade kräftig Eigen-PR und verbreiten Bilder und Videos von ihren Hilfsaktionen in den Sozialen Netzwerken. Die wiederum von den Medien aufgegriffen werden. Auch Regierungen betreiben viel symbolische Sicherheitspolitik in der Krise: So wollte sich etwa El Salvadors Präsident mit einer harten Hand gegen die Gangs beliebt machen und hat Zellen verbarrikadieren lassen, Mitglieder verfeindeter Gangs in eine Zelle gesperrt. Auslösen könnte das aber, dass rivalisierende Gangs sich nun gerade gegen den gemeinsamen Feind verbünden: den Staat.

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