Beim Filmfest in Venedig wurde Frederick Wiseman gerade mit dem Goldenen Löwen für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Im Januar kommt sein neuer Film über die National Gallery in London in die deutschen Kinos.
In einem Interview zu seinem neuen Film National Gallery antwortete der nunmehr vierundachtzigjährige amerikanische Regisseur Frederick Wiseman, der zu den wichtigsten Vertretern der Direct-Cinema-Bewegung gehört, auf die Frage, was denn der anstrengendste Aspekt seiner Filmarbeit sei, schlicht mit dem Satz: „Raising the money.“ Angehenden Filmemachern rät die Dokumentarfilm-Legende daher auch augenzwinkernd, am besten möglichst reich zu heiraten. Zweiundvierzig Mal stand Frederick Wiseman nun schon vor der ungeliebten Aufgabe, das Geld für sein nächstes Projekt auftreiben zu müssen. Für diesen Film kam der Großteil des Budgets aus Frankreich. Wieder einmal wendet Wiseman sich einer Institution zu, erstmals wurde in Großbritannien gedreht, zwölf Wochen lang in der National Gallery am Londoner Trafalgar Square.
Auch innerhalb dieser britischen Kulturinstitution scheint man immer wieder vor der Frage zu stehen, wie man sein Wirken auch in Zukunft finanzieren könne. Dabei kommt sicher erschwerend hinzu, dass der Besuch des Museums, wie so viele auf der Insel, weiterhin kostenfrei ist. Auch aus diesem Grund sieht man sich offenbar dazu gezwungen, sich gegenüber externen Geldgebern zu öffnen und Partnerschaften mit finanzkräftigen Unternehmen einzugehen. Nicht umsonst heißt ein Flügel des Museums wie eine bekannte Supermarktkette. Wie eine bekannte Supermarktkette heißt auch der Direktor des Museums. Dr. Nicholas Penny wirkt häufig wie ein Vertreter einer aussterbenden Spezies, wenn er gegenüber einer Armada von Finanzexperten und PR-Beratern zunehmend genervt immer wieder auf die Grundwerte und edukativen Aufgaben der Institution verweist. Stellte man ihm die Frage nach den Schattenseiten seines Berufes, so würde er wahrscheinlich ganz ähnlich wie Frederick Wiseman antworten.
Doch National Gallery ist kein reiner Film über den finanziellen Unterbau eines Museumsbetriebs geworden. Im Mittelpunkt steht bei Wiseman nämlich immer eins: das Bild. Besucher vor Bildern, Kuratoren und Restauratoren vor Bildern, Fernsehteams und Museumspersonal vor Bildern und all das eingefangen im Bild von Frederick Wiseman und seinem Kameramann John Davey. So ergibt sich ein ganz eigener und erhellender Einblick in den Alltag einer Institution, die gefangen zu sein scheint zwischen den präservatorischen und vermittlerischen Aufgaben eines Museums auf der einen Seite und der Rechtfertigung ihres Tuns gegenüber ihren Geldgebern und der Öffentlichkeit auf der anderen Seite. Die vielen Großaufnahmen, die Wiseman von den ausgestellten Kunstwerken macht, wirken so manchmal wie eine Art parteiische Erinnerung: Schaut her, darum geht’s hier eigentlich!
Sulgi Lie hatte beim Besuch der diesjährigen Viennale feststellen müssen, dass ihm der roughe Wiseman der früheren Filme deutlich mehr liegt als der altersmilde Intellektuelle, der Institutionsporträts über das Ballett der Pariser Oper (La Danse, 2009), über eine amerikanische Bildungseinrichtung (At Berkley, 2013) und eben jetzt über ein Museum macht. Wiseman künstlerische Vorgehensweise ist jedoch immer dieselbe geblieben: Eine erklärende Erzählstimme findet man in seinen Filmen ebenso wenig wie abgesetzte Interviewsituationen oder eine extradiegetische musikalische Untermalung. Fast immer schneidet Wiseman selbst, zuletzt übernahm er häufig auch die Tonaufzeichnung. Der Vorwurf einer gewissen Altersmilde ist wohl trotzdem nicht ganz von der Hand zu weisen, verfügt Wisemans Spätwerk doch nicht mehr über dieselbe akute Dringlichkeit, die seine frühen Filme zum amerikanischen Sozialwesen Hospital (1969), Juvenile Court (1973) oder Welfare (1975) auszeichnete. Trotzdem ist auch National Gallery wieder ein intelligentes und aufschlussreiches Institutionsporträt geworden. Wiseman gelingt in vielen Momenten genau das, was er in einer der berührendsten Szenen des Films dokumentiert, — in der eine Gruppe Sehbehinderter eine Zeichnung Camille Pissarros mit den Fingern abtastet, — er lässt Kunst spürbar werden.
National Gallery
Frankreich 2014
Regie, Schnitt und Ton: Frederick Wiseman
Kamera: John Davey
Laufzeit: 173 min
ab dem 1. Januar 2015 im Kino