Eskapismus mit RadioWieso lokale Frequenzen im Internet wieder für Begeisterung sorgen
18.2.2021 • Technik & Wissen – Text: Ji-Hun KimWer nicht in die Welt raus kann, muss sich die Welt nach Hause holen. Fernweh lässt sich provisorisch auch mit Radio aus dem Internet bearbeiten. Apps und Webseiten wie Radio Garden suggerieren Weltreisen und sorgen zugleich für frische Eindrücke im spröden Alltag.
Audio boomt bekanntermaßen – und das hat nicht nur mit der mittlerweile fast 12 Monate dauernden Lockdown-Krise zu tun. Unzählige Podcasts, Hörspiele, die plötzlich als Fiction Podcasts gebrandet werden – aber wem erzählen wir das. In den letzten Wochen quetschten sich tausende Menschen in elitäre Clubhouse-Räume, um narzisstisches Gebrabbel zum Einschlafen zu hören oder anderweitig Audio-Input zu bekommen. Man merkt über die Monate – es fehlt im Alltag schlichtweg der Zufall. Dass man zufällig ein spannendes Gespräch mitbekommt, in der Kneipe jemanden kennenlernt und mit seinen umwerfenden Geschäftsideen zutexten darf. Aber auch im Medienkonsum ist das Prinzip On-Demand Fluch und Segen zugleich. Nicht umsonst hat Netflix zuletzt die zufällige Wiedergabe eingeführt, um wieder mehr Linearität und Kontingenz in den Medienkonsum zu bringen. Um die ziemlich beunruhigenden Momente der Stille zu eliminieren, wenn man wieder wie damals stundenlang durch die App-Zeilen zappt und mal wieder nichts von Anfang bis Ende angeguckt wird. Ich nenne das die „dunkle Streaming-Stille“, da können noch so viele Trailer reingespielt werden, um diesen finsteren Void zu überbrücken.
Dieser Tage begeistern Radio-Webseiten Menschen auf der ganzen Welt. Nicht, dass diese Webseitenprojekte superneu wären. Aber sie treffen offenbar einen Nerv, der sowohl mit Fernweh und Eskapismus zu tun hat, als auch mit einer gewissen Demut und Faszination, was Vernetzung heute denn alles ermöglichen kann.
Radio Garden ist ein niederländisches Non-Profit-Forschungsprojekt und wurde zwischen 2013 und 2016 am Netherlands Institute for Sound and Vision und der Martin Luther Universität Halle-Wittenberg entwickelt. Radio Garden wurde über die Jahre immer wieder geupdatet (zuletzt 2020 mit großem Redesign) und mittlerweile gibt es natürlich auch Apps für iOS und Android. Das Prinzip ist relativ einfach erklärt: Wie bei Google Earth kann man über die Welt fliegen und an unzähligen Orten in die jeweiligen Radiostationen reinhören. Was läuft gerade in Bangladesh, Jamaika, Nigeria, Kasachstan oder Sibirien? Eine Echtzeit gebundene Form des Eskapismus, der daran erinnert, wenn man im Urlaub im Taxi oder Mietwagen sitzt, durch die Gegend fährt, das Radio des jeweiligen Lands hört und das Gefühl hat, wirklich woanders zu sein. Anders als bei Clubhouse, wo die Blasen doch sehr impermeabel sind, verlässt man hier gewohnte Komfortzonen und gerade aus musikalischer Sicht lässt sich in den jeweiligen Ländern eine Menge entdecken. Einfach mal einen Nachmittag lang Radio aus Tel Aviv, Lima, Barcelona oder Kapstadt laufen lassen, kann die eigenen vier Wände zu anderen Räumen machen.
Ein ganz ähnliches Konzept verfolgt die Webseite Drive and Listen. Auch hier kann man sich per Mausklick in unterschiedlichste Städte der Welt beamen lassen und sich hinter einem Autocockpit bequem machen. Die POV-Roadtrips sind zwar aufgezeichnet, aber zur Beschallung laufen auch hier Radiostationen der jeweiligen Städte. Die Auswahl ist zwar nicht so akademisch-akkurat wie im Radio Garden. Aber Drive and Listen ist in diesen Tagen besonders toll, weil man einfach vom Schreibtisch aus auch hier einfach dem spontanen Roadtrip frönen kann. Dass man so etwas überhaupt mal sagen muss. Aber das ist ja eben das mit der vorhin erwähnten Demut.
Zum Abschluss noch eine spannende Netzradio-Station aus dem arktischen Spitzbergen/Norwegen. Hier am Polarkreis sitzt der Radio-DJ Cal Lockwood und betreibt das Arctic Outpost Radio. Von hier werden ausschließlich Schellack-Schallplatten gespielt, die auf 78 Umdrehungen laufen. Von Swing, Jazz, Blues, Country bis Big Band aus den Jahren 1902 bis 1958. Dass hier antike Schätze gespielt werden und Musik entdeckt wird, auf die Spotify-Algorithmen wahrscheinlich nie kommen, kann man sich denken. Auch hier macht die zufällige Entdeckung Spaß und gibt das Gefühl, nicht zu sehr im Depressionspudding des Alltags zu verharren. Zeitreise ins 20. Jahrhundert inklusive. Entscheidungen fällen zu dürfen ist halt Privileg und oft ganz prima, aber gerade bei der Flut an abrufbaren Medien spüren heute viele wieder die Bedeutsamkeit von zeitlich gebundenen Medien, auch weil sie Menschen gedanklich zusammenbringen kann und so durchaus soziale Energien erzeugt. Apropos lineare Medien – wenn mir zur Zeit doch nach Fernsehen ist, dann schalte ich Twitch an: Hier gibt es einen Dauerstream mit allen Shows, die der 2018 verstorbene Gott aller Food-Journalist*innen Anthony Bourdain je gemacht hat. 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche Essen, Reisen und die immer gleiche Visage. Was will man eigentlich mehr?