Drei Alben, drei Tipps, drei Meinungen. In unserer samstäglichen Filter-Kolumne wirft die Redaktion Musik in die Runde, die erwähnenswert ist. Weil sie neu ist, plötzlich wieder relevant, gerade entdeckt oder nie vergessen. Und im Zweifelsfall einfach ein kurzweiliger Zeitvertreib ist.
Mika Vainio – Olento
Ji-Hun: Am 12. April starb der finnische Musiker Mika Vainio im Alter von 53 Jahren in Frankreich. Ob er nun von einer Klippe gestürzt ist oder in einem Fluss ertrunken – es kursieren derweil mehrere Version für die Todesursache. Mika Vainio muss ein krasser Typ gewesen sein. Mit all seinen Projekten wie Ø, Philus, Kentolevi, Kollaborationen mit Alva Noto und Fennesz oder auch gemeinsam mit Ilpo Väisänen als Pan Sonic hat er mindestens 35 Alben produziert und aufgenommen. Eine wahnsinnige Produktivität, die die wenigsten Elektronik-Musiker vorweisen können. Mika Vainio hatte einen Hang zur künstlerischen und physischen Selbstzerstörung. Viel, sehr viel Alkohol. Kurzfristig gecancelte Gigs, vollständige Entgleisung – all das gehörte zum Alltagsgeschäft. Rock’n’Roll eben. Vainio zog 2003 nach Berlin. Auch nicht der beste Ort, um sich zu settlen. Dennoch produzierte er unzählige Platten für Touch, Sähkö, Editions Mego, war Teil des Vladislav Delay Quartet. 2010 dann die Auflösung von Pan Sonic, die ja eigentlich Panasonic hießen, aber beinahe vom gleichnamigen japanischen Technikhersteller in Grund und Boden verklagt wurden. Wie humorlos. Erst kürzlich zog er mit seiner Freundin nach Oslo, kürzer treten, ein neues Leben beginnen. Das hat leider nicht geklappt. Chapeau, machen Sie es gut Herr Vainio …
Joe Goddard – Electric Lines
Benedikt: Wenn sich House so ganz gänzlich dem Pop öffnet, renne ich in der Regel schreiend weg. Vielleicht ist das sogar insbesondere deutschen Künstlern zu verdanken, die auf immer gleich klingenden, beschissenen House-Beats völlig sinnbefreite Texte von sich geben und zu allem übel noch die Radios dominieren. Aber das ist eine Geschichte für sich. Als Gründungsmitglied von Hot Chip steht Joe Goddard jedenfalls schon seit mehr als zehn Jahren für das Gegenteil, für die glückliche Hochzeit von Pop und Elektronik. Allein, richtig gepackt haben sie mich nie. Das schafft Joe Goddard erst jetzt per Soloalbum, auf dem Hot-Chip-Partner Alexis Taylor aber ebenfalls grüßen lässt („Electric Lines“). Immer gleich klingt hier mal gar nichts. Spätestens seit gemeinsamer Tour durch den Plattenladen ist zwar klar, dass Goddards musikalischen Einflüsse kaum bis keine Grenzen kennen, aber auf der neuen LP werden diese vollumfänglich durchdekliniert – und das klingt erstaunlich ungezwungen. Schon der erste Track verliert sich in schönsten Pop-Träumereien, „Lose Your Love“ zäumt den Disco von hinten auf, „Home“ bringt Funk, Detroit House und Gospel zusammen. Es breakt und steppt in „Lasers“ und „Truth Is Light“. Der Titel „Music Is The Answer“ („…to your problems“) nimmt die Platte wörtlich. Für Goddard ist Pop gemacht um Menschen zusammenzubringen, zum Tanzen zu bringen – der Weg zu mehr Togetherness. Und doch verkommt diese durch und durch positive Herangehensweise nie zu hohlem Kitsch. In einer Stunde huldigt der britische Produzent seinen persönlichen Meilensteinen der Musikgeschichte. Doch statt bewährte Rezepte bloß wiederzukauen, transportiert er jene prägenden Einflüsse vergangener Zeiten mit musikalischer Raffinesse in die Gegenwart. Wer nicht nur Joe Goddards Perspektive auf Musikgeschichte einnehmen, sondern auch noch durch seine Brille gucken will, kann sich per Spotify von ihm persönlich kommentiert durchs Album führen lassen. Ich verneige mich: Was für eine unerwartet große Platte!
clipping. – Splendor & Misery
Thaddeus: Schon im vergangenen Jahr haben clipping. ihr drittes Album veröffentlicht. Ich mag das Projekt. Nicht nur, weil Daveed Diggs ein Hochgeschwindigkeits-Rapper par excellence ist. clipping. ist kein HipHop im herkömmlichen Sinn. Jonathan Snipes und William Hutson wollten einfach die Maschinen anwerfen und noisiges Zeug rauslassen. Das ist ein bisschen von Autechres Sound Design inspiriert oder auch von Pan Sonic und dem kürzlich verstorbenen Mika Vainio. Harsch und präzise. Aber eben auch mega deep, atmosphärisch mitunter: einfach perfekt. Und in der Kombination mit Diggs’ Vocals ziemlich einzigartig. Rap und diese Art von Electronica: Das wurde in der Vergangenheit immer wieder versucht. Natürlich kommt einem da die Zusammenarbeit von Funckarma und den Shadow Huntaz in den Sinn: Auch das war beeindruckend auf den Punkt produziert. Das Faszinierende an „Splendor & Misery“ ist aber, dass clipping. sich hier praktisch vollständig vom Song-Format lösen und das Album vielmehr ein frei fließendes Etwas ist, das sich nur noch locker und unbekümmert althergebrachter Strukturen bedient. Fängt an, geht weiter, hört auf. Mal brabbelt Diggs, mal ein altes Blues-Sample, mal ein Gast. Wer über die Zukunft und die aktuelle Relevanz von HipHop spricht, kommt an clipping. nicht vorbei, darf bei der Brillanz von Lamar nicht aufhören zu hören. Dieser Entwurf wird nie Teil des samstäglichen Entertainment-Gedankens großer Stadien werden und das ist gut so. Was sich hier aber unter den dicken Schichten von Geräusch und Krach und Fiepen und Bleepen langsam herausschält, erzählt eine Geschichte, die so noch nie zuvor erzählt wurde. Symphonische Ausmaße mit konzeptueller Vision. Und dabei doch ganz locker hingelegt im Dickicht des Noise.