Wochenend-WalkmanDiesmal mit Marcus Schmickler, Earl Sweatshirt und FKA Twigs

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Jeden Samstag haben wir drei Platten für euch – zumeist drei Tipps, mindestens aber drei Meinungen. Nicht immer neu, doch immer die Erwähnung wert. Heute mit: Marcus Schmickler, Earl Sweatshirt und FKA Tigs.

Marcus Schmickler - Particle Matter Wave Energy Cover

Marcus Schmickler - Particle/Matter-Wave/Energy

Christian: Gerade erst quetschte Wolfgang Voigt ganze 303 Tracks seiner 90er-Jahre-Aliase auf einen USB-Stick – und rief damit indirekt auch nochmal jenen Sound of Cologne in Erinnerung, der Pop-affin und reduktionistisch zugleich war. Lange Zeit stand das von ihm mitbegründete Label Kompakt fast synonym für diesen Entwurf von Minimal-Techno. Zu viel Vergangenheit? Man kann diese Werkschau auch zum Anlass zu nehmen, die musikalische Vielfalt zu würdigen, die sich das Label in der letzten Jahren erschlossen hat. Die vielleicht ungewöhnlichste Kompakt-Veröffentlichung der letzten Zeit kommt nun von Marcus Schmickler. Bassdrums gibt es hier keine, mit Pop hat „Particle/Matter-Wave/Energy“ rein gar nichts am Hut und statt gepflegter Reduktion wagt Schmickler den Maximalismus eines Sci-Fi-Blockbusters: Hier soll immerhin nicht weniger als die Kollision zweier Galaxien klanglich simuliert werden. Offen bleibt, anhand welcher Parametern Schmickler ein solches Phänomen nun in Klang umgewandelt hat. Das Ergebnis jedenfalls sind pneumatisch anmutende Soundscapes in stetem Glissando, die (obgleich für sich schon diffus genug) neben- und gegeneinander wirken, sich einander durchdringen. Seinem Thema entsprechend setzt Schmickler bei seiner Klangstudie auf einen Überwältigungsmodus, den Produzent\innen konzeptueller Sound Art oft eher skeptisch beäugen. „Particle/Matter-Wave/Energy“ ist eine schillernde Kakophonie from out of space, der man sich kaum entziehen kann – auch oder gerade weil sie beim Zuhören größtmögliche Desorientierung verursacht. Wer nach knapp 40 Minuten den Kopfhörer wieder absetzt, wird das nur leicht vernebelt und mit mittlerem Schwindel tun können – und um solche Zustände geht es an irdischen Wochenenden ja gelegentlich auch.

Earl Sweatshirt Feet of Clay Cover

Earl Sweatshirt – Feet of Clay

Ji-Hun: Wenn man sich die parallele Geschichte von Pop und Musikmedien anguckt, dann hängen Medium und Inhalt von Beginn an eng zusammen. Die klassische Radio-Singlelänge von 3:30 Minuten basiert auf der maximalen Spiellänge einer Seveninch. Alben auf CD waren maximal 74 Minuten lang, weil der damalige Sony-Manager angeblich darauf bestand, dass die 9. Sinfonie von Beethoven in voller Länge draufzupassen hatte. Im Streaming-Zeitalter existieren diese Limits nicht mehr. Eigentlich kann man heute ewig lange Songs aufnehmen und auf alle Konventionen pfeifen. Im Überflusszeitalter wird die Musik aber (zumindest in einigen Genres wie Rap und HipHop) immer kürzer. Ein Grund sind die Abrechnungsmodelle bei Spotify und Co. Wieso fünf Minuten pro Track aufnehmen, wenn 30 Sekunden bereits reichen, um Patte zu machen? Das neue Album von Earl Sweatshirt spiegelt diesen Paradigmenwechsel in einer neuen Radikalität wider. Ist das neue Album von Kanye West in seinen Songlängen schon skizzenhaft, ist „Feet of Clay“ mit sieben Tracks und gerade mal 15 Minuten Spiellänge kürzer als die meisten Techno- oder House-EPs. Thebe Kgositsile aka Earl Sweatshirt unterzeichnete erst im letzten Jahr einen Vertrag beim Major Columbia Records. Ich hätte zu gerne die Gesichter der Musikmanager gesehen als Sweatshirt ihnen das Master vorlegte. Aber, das Album ist konsistent, dicht und sagt nicht mehr als nötig. Rap-Lyrics, die in Twitter-Threads passen könnten. Vielleicht eine Antwort auf die kaum noch existente Aufmerksamkeitsspanne der heutigen Zeit. Und wenn man sich gerade eingegroovt hat, ist das Album schon vorbei. Earl Sweatshirt wird wenigstens behaupten können, dass die allermeisten sein Album in voller Länge gehört haben. Wer kann das heute noch von sich behaupten? Konsequent und ja, ziemlich dope.

FKA Twigs Walkman Cover

FKA Twigs – Magdalene

Benedikt: Gut fünf Jahre sind seit „LP1“ vergangen. Fünf Jahre, in denen eine Beziehung mit Robert Pattinson begann, um nach zwei Jahren inkl. Verlobung wieder zu zerbrechen. In denen sich Tahliah Barnett unters Messer legen, und ein halbes Dutzend Myome aus dem Unterleib schneiden lassen musste. Sie hat spärlich aber ehrlich berichtet, wie sehr ihr das zu schaffen machte. Auch die auf Schritt und Tritt folgenden Paparazzi während der Zeit mit Pattinson, gepaart mit ihr entgegengebrachtem Hass und Rassismus aus einem widerlichen Teil der Twilight-Fangemeinschaft, gingen nicht spurlos an der unglaublich talentierten Tänzerin und Musikerin vorüber. Diese Zeit wird nicht nur lyrisch in einzelnen Tracks verhandelt („a thousand eyes“) auch der Albumtitel legt den Bezug unmittelbar nahe: „Magdalene“ bezieht sich auf die biblische Figur der Maria Magdalena, der einzigen Protagonistin des Neuen Testaments, der treuen Gefährtin im Schatten des Erlösers, verehrte Symbolfigur des Guten, der Weiblichkeit und Reinheit – jedoch gebrandmarkt durch die Interpretation katholischer Kleriker, die sie erst zur fußwaschenden Sünderin und schließlich zur Prostituierten stilisierten. Klerikal und den Schmerz der Künstlerin akustisch verhandelnd mutet auch der Sound an, in dem die für FKA Twigs typische Abstraktion der ersten Platte noch erkennbar, doch längst nicht mehr musikalischer Kern ist. Auch das einstige Label des „Contemporary“ oder „Avantgarde R’n’B“ wirkt spätestens jetzt völlig unpassend – oder vielmehr: unzureichend. Während unten das Rauschen gärt türmt sich das digitale Instrumentarium hinauf, bis in die höchsten Tonlagen Barnetts, statt nur zu kontrastieren, auch wenn letzteres nach wie vor funktioniert. Immer wieder stürzen diese Türme ein, reißen den Hörer unerwartet mit in einen freien Fall, den nur der vibrierende Bass abzufedern vermag. In diesem Kontext kommt die plötzliche Aggressivität eines „fallen alien“ so brutal zur Geltung, dass man spätestens dann gar nicht mehr weiß wie einem geschieht, falls „sad day“ nicht eh schon diesen Zustand herbeigeführt hat. It’s a goddamn masterpiece.

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