Drei Alben, drei Tipps, drei Meinungen. In unserer samstäglichen Filter-Kolumne wirft die Redaktion Musik in die Runde, die erwähnenswert ist. Weil sie neu ist, plötzlich wieder relevant, gerade entdeckt oder nie vergessen.
Bibio – Phantom Brickworks
Ji-Hun: Den englischen Musiker Stephen Wilkinson aka Bibio habe ich einmal getroffen. Es war 2010. Er hatte sein hervorragendes Album „Ambivalence Avenue“ zu promoten und wir trafen uns, um gemeinsam Musik zu hören. Stephen entpuppte sich als Einsiedler wie Eigenbrötler. Schwer ungern ließ er sich nur fotografieren, dafür kannte er sich mit Musik umso besser aus. Ich spielte ihm den Bootleg seines Tracks „Lover’s Carvings“ von Catz N’ Dogz vor, wollte wissen, was er davon hielt und prompt fragte er, ob ich noch eine Kopie der 12-Inch hätte. Ich verneinte und merkte, dass Bibio völlig aus der Ruhe geriet. Nervös friemelte er sein iPhone hervor und machte ein Foto von dem Label. Ich fragte, ob alles in Ordnung sei und Wilkinson erklärte, dass für die Club-Bearbeitung bei ihm bereits mal eine Anfrage von Catz N’ Dogz vorlag. Er fand den Edit jedoch so schlecht, dass er das Unternehmen absagte. Dass die Platte dennoch erschien, war für ihn ein Affront. Ein Schlag ins Gesicht, der selbiges schlagartig rotscheckig werden ließ. Ich hatte da wohl etwas ins Rollen gebracht, was nicht geplant war und eine Stunde später entschuldigte sich die Promoterin bei mir telefonisch über den Vorfall. Das hätte alles so nicht passieren dürfen.
Ich dachte mir bei dieser Geschichte zweierlei. Zum einen, wie man denn so ein Spielverderber sein kann, wo doch sein Bootleg zum kleinen Hit mutiert ist, tausende Menschen auf den Dancefloors erfreute und den Namen Bibio auch in der Clubszene bekannter machte. Anderseits: Da musste jemand seinen Output ziemlich ernst nehmen. Bibio macht nicht Musik der Musik willen. Bibio macht keine Musik, damit er im Circoloco in Ibiza gefeiert wird. Er macht Musik, um einen eigenen Lebensraum zu schaffen. Isoliert, hermetisch, dennoch mannigfaltig und gigantisch wie ein nur für dich geschriebenes Open-World-Computerspiel. Dass da jemand ungefragt rumwildert, ist Hausfriedensbruch. Das neue Album „Phantom Brickworks“ scheint genau so etwas zu sein – eine organische Mikrowelt. Der Sound antizipiert sich völlig von allem, was er zuvor gemacht. Machte man den Pepsi-Test und spielt das Album Bibio-Fans vor, ohne dass sie wissen, dass es Bibio ist. Nicht der Schimmer einer Chance.
Dabei ist gar nicht der individuelle künstlerische Progress, der eigentliche Grund zum Feiern, sondern einzig und allein die Musik selber. „Phantom Brickworks“ ist das beste Neo-Klassik-Album, das keine Neo-Klassik ist. Es ist der intimste Kino-Soundtrack, ohne dabei einen Film als Ausgangspunkt zu haben. Ein Elektronik-Ambient-Meisterwerk, ohne auch nur einen Computer in der Nähe gesehen zu haben. Wilkinson hat ein neues Lieblingsmetier gefunden. Es ist die Atmosphäre, die höchst subtil, dennoch dicht und einnehmend gestaltet wird. Tapeschleifen um Tapeschleifen. Bei jenem Interview erklärte er mir bereits, dass er es am schönsten findet, wenn multiples Bandrauschen, das durch abermaliges Overdubbing geschaffen wird, ein eigenes Klangleben entwickelt. Wie bei den von mir hoch geschätzten The Gentleman Losers (eine der ganz wenigen eindeutigen Referenzen, die mir einfallen) ist „Phantom Brickworks“ visuelle Musik. Es wird auch nicht mehr gesungen, keine Popschemata bemüht, keine Texte, keine Message. Ungefragt erscheinen eigene Filme, Bilder, Träume oder Super-8-Kindheitserinnerungen. Ein wunderbares Album, auch weil es so autark ist – eben einfach nur Musik.
The Belbury Circle – Outward Journeys
Thaddeus: Releases auf „Ghost Box“ sind oftmals eine Erwähnung wert, den schmalen Grat zwischen Library-inspirierten Funden und dem fulminanten Sprung in einer Zukunftsvision längst vergangener Zeiten hat man hier bestens im Griff. Gerade und vor allem, wenn The Belbury Circle – Jim Jupp aka Belbury Poly und Jon Brooks aka The Advisory Circle – zusammentun und auch noch John Foxx dazu holen: Ich feierte vor vier Jahren an anderer Stelle. Es ist erst die zweite Zusammenarbeit überhaupt, seit 2013 durften die alten Syntehsizer auf der Terrasse Tee trinken. Für jeden der neun Tracks hätte die BBC schon 1978 eine Science-Fiction-Serie drehen, oder zumindest Timm Thaler mit den Brüdern Löwenherz remixen müssen. Die Synths – denn natürlich ist das hier im Herzen Synth-Pop – schimmern leicht und farbenfroh, sind dabei aber weder cheesy noch angestaubt. Es gab in der britischen Popmusik ein ganz kurzes Zeitfenster, in der die Rolands und die Korgs wirklich so programmiert wurden, wie man sich die Moderne vorstellte. Genau dieser Sound ersteht hier wieder auf. Schwärmerisch, aber fokussiert. Mitreißend, aber zurückhaltend. Neu und doch schon reflektiert. Voller Effekte und doch transparent. Alle wollten Vangelis sein, auch wenn es niemand zugab. Das tun Jupp und Brooks auch hier nicht. Und klauen dafür lieber „Safe A Prayer“ von Duran Duran, aber das geht schnell vorbei. Eine Geschichtsstunde aus dem Hier und Jetzt.
Anja Schneider – SoMe
Benedikt: Dieses Album muss an dieser Stelle sein. Allein schon deshalb, weil das 2008 erschienene „Beyond The Valley“ wohl eine der ersten, wenn nicht sogar die erste Technoplatte überhaupt war, die in meinem CD-Regal nach einer von zu viel Indie geprägten Frühjugend ein neues elektronisches Zeitalter einläutete. Wer weiß, vielleicht würde ich diese Zeilen ohne diese Platte gar nicht schreiben. Gekauft habe ich sie damals im MediaMarkt – glaube ich. Denn wer in Paderborn in der größten Musikauswahl stöbern will, der muss nunmal in den MediaMarkt. Daran hat sich bis heute übrigens nichts geändert, soweit ich weiß. Den Mobilée-Katalog hat Anja Schneider ja mittlerweile zugeklappt, weiter geht’s mit neuem Label So Us. Vorbei ist auch, ein Glück, der Minimal-Sound von damals. „SoMe“ ist durch und durch Techhouse. Gar nicht so langweilig, dank dem vielfältigen Einsatz von Stimmen, Ausflügen in Drum-and-Bass-Beats und dem Einsatz fast schon organischer Elemente. Es bleibt jedoch so verdammt gefällig. So gefällig, dass man den Titel auch einfach „Some“ lesen könnte. Würde auch passen: Some Techhouse. Nicht schlecht, doch ein bisschen egal. Aber rauscht gut durch und wird laufen auf dem Techhouse-Floor, dessen bin ich mir sicher. Nur wenn das gleichzeitig „So Me“ ist, frag’ ich mich: War „Beyond The Valley“ damals schon genauso „So Anja Schneider“? Ein Stückweit belanglos? Für mich jedenfalls nicht.