„Wir brauchen ein Internet-Copyright“Interview: Jean-Michel Jarre über KI, das Netz und sein neues Album „Equinoxe Infinity“
12.11.2018 • Sounds – Interview: Thaddeus HerrmannExakt 40 Jahre nach der Veröffentlichung von „Equinoxe“ schreibt Jean-Michel Jarre die Geschichte seines zweiten Albums weiter. Und bedient sich dabei eines Tricks. Damals hatte der Grafiker und Künstler Michel Granger ein Artwork entworfen, das 2018 nicht aktueller sein könnte und die Grundproblematik unserer digitalen Realität in einer ganz einfachen Metapher abbildet: die Überwachung. Auf „Equinoxe Infinity“ nimmt Jarre den Faden neu auf und lotet unser Verhältnis zur Technik aus. Utopie vs. Dystopie? Weder noch. Denn der Franzose ist kein Luddit, ganz im Gegenteil. Ohne die Hilfe von Technologie wird die Menschheit das 21. Jahrhundert nicht überstehen, sagt er und hofft auf die KI, um den nicht mehr ganz gesunden Menschenverstand wieder auf Trab zu bringen.
Herr Jarre, beginnen wir mit einer ganz grundsätzlichen Frage: Fühlen Sie sich im Alltag beobachtet?
Sie sind tatsächlich der erste Journalist, der mich das fragt. Was mich überrascht, denn ich habe selber intensiv darüber nachgedacht und bin vorbereitet! Kennen Sie den Fotografen Eric Pickersgill?
Zu meiner Schande: Nein.
In seinem Fotoprojekt „Removed“ thematisiert er unsere Abhängigkeit vom Smartphone und Tablet. Er zeigt Paare in vergleichsweise intimen Alltagssituationen, in denen beide auf ihr Handy schauen – nur haben sie gar kein Telefon in der Hand. Das wirkt auf mich schon sehr Zombie-mäßig. Aber um Ihre Frage klipp und klar zu beantworten: Ja, ich fühle mich beobachtet. Wir werden alle ständig beobachtet. Die Geräte in unseren Hosentaschen spähen uns aus und lernen über uns. Das ist auch der Grund, warum ich auf meinem letzten Album mit Edward Snowden zusammengearbeitet habe – das Thema liegt mir am Herzen. Auf mehreren Ebenen. Persönlich betrachtet ist mir das natürlich nicht recht. Ich spüre da aber vor allem gesellschaftliche Implikationen, die mir nicht gefallen. Hier entwickelt sich Schritt für Schritt eine unterschwellige Paranoia. Ich als Musiker muss mir hingegen ganz andere, viel praktischere Fragen stellen. Die KI lernt von uns, wird immer besser. Ich halte es für realistisch, dass es bald Roboter geben wird, die Gefühle nicht nur über humanoide Interfaces zeigen, sondern auch tatsächlich empfinden. Die sich mal einsam fühlen, mal nostalgisch. Und dass die KI Bücher schreiben wird, Musik komponiert. Welche Rolle bleibt dann noch für mich übrig? Das ist der Grund, warum ich mich dazu entschlossen habe, die „Watchers“ – die Beobachter – vom ursprünglichen Cover des „Equinoxe“-Albums zu reanimieren. Wir müssen alle gemeinsam über das Thema sprechen.
„Ich fragte mich, wie es den „Watchers“ wohl in den letzten 40 Jahren ergangen ist.“
Ganz offensichtlich. Immerhin sind seit „Equinoxe“ 40 Jahre vergangen. Und es hat sich viel verändert. Sie haben schon angedeutet, dass Ihnen das Thema wichtig ist. Erklären Sie doch die Idee hinter dem Nachfolger „Equinoxe Infinity“.
Ich will vorausschicken, dass mich Fortsetzungen schon immer interessiert haben. In der Literatur, im Film, im Fernsehen, aber auch in der Musik. Als ich 1976 „Oxygène“ veröffentlichte, konnte ich mir eine Fortschreibung dieser Idee durchaus vorstellen. Aber „Equinoxe“ war in sich geschlossen. Aber Sie wissen ja vielleicht, wie das ist. Die Plattenfirma ruft an und fragt, ob man – ich! – den runden Geburtstag des Album nicht aufnehmen wolle. Da habe ich gesagt: Ok, können wir machen, aber anders. Ich habe noch nie ein Album gemacht, bei dem das Artwork schon fertig war, bevor ich überhaupt ins Studio ging. Ich halte Michel Grangers Artwork für „Equinoxe“ für eines der besten Album-Cover überhaupt, und das hat nichts mit meiner Musik zu tun. Ich fragte mich, wie es den „Watchers“ wohl in den letzten 40 Jahren ergangen ist, stolperte auf Instagram über den tschechischen 3D-Künstler Filip Hodas und bat ihn, zwei Cover zu entwerfen. Weil: Die Zukunft ist ja immer eine sehr ungenaue Größe. Er sollte für mich also eine sehr düstere Version entwickeln und eine freundlichere ... friedlichere. Diese beiden Bilder waren dann die Ausgangssituation für mich, um die Musik zu komponieren. Für mich ist die Platte ein Soundtrack. Den ich machen konnte, ohne dass mir dabei ein Regisseur oder Musikchef immer über die Schulter schaute und Änderungen wollte. Das war in der Tat sehr erfrischend. Es ist auch tatsächlich mein erstes Album, mit dem ich rundum zufrieden bin. Ich würde heute keine einzige Note ändern wollen. Das klingt prätentiös, ich weiß. Aber wer mich kennt, weiß, dass ich an meiner eigenen Musik immer was zu meckern habe.
Dabei haben Sie ja praktisch zwei Soundtracks zu zwei vollkommen konträren Skripten mit unterschiedlichem Ausgang geschrieben und das dann auf 40 Minuten arrangiert.
Der Umstand, dass ich mit dieser Doppeldeutigkeit konfrontiert war, macht meiner Meinung nach das Besondere an diesem Album aus. Ich entscheide mich ja nicht für das eine oder das andere. Ich habe hingegen versucht, mich immer wieder an das eine oder andere Ende heranzutasten, so nah es geht. Es ist ein eher darkes Album, hat aber gleichzeitig sehr freundliche Momente. Dieser positive Ton ist mir wichtig. Den dürfen wir nicht verlieren. Es ist heute schlicht zu einfach, sich schlecht zu fühlen. Alles ist immer nur dark. Und freundlichere Musik gilt dann sofort als cheesy. Es ist meine Aufgabe, mich damit auseinanderzusetzen.
„Nachhaltiger Umweltschutz lässt sich nur mithilfe von Technologie bewerkstelligen.“
Nun gibt es auf der Welt im Moment ja weniger zu lachen denn je, andererseits haben Sie zu Beginn unseres Gesprächs die Zombie-Metapher selbst ins Spiel gebracht. Ist die Technik also Freund oder Feind?
Ich bin davon überzeugt, dass wir als Menschheit das 21. Jahrhundert nur überleben können, wenn wir unser Verhältnis zu zwei Bereichen vollkommen neu denken: Umwelt und Technik. Beides hat mehr miteinander zu tun, als viele glauben. Denn nachhaltiger Umweltschutz lässt sich nur mithilfe von Technologie bewerkstelligen. Dabei müssen wir vor allem an unserer Haltung arbeiten. Menschen sind was die Zukunft angeht grundsätzlich pessimistisch. Warum? Weil sie selber kein Teil dieser Zukunft sind. Das ist natürlich ein Missverständnis. Wir müssen doch nur in die Vergangenheit blicken, um zu sehen, wie es uns im Vergleich mit unseren Großeltern besser geht. Hier muss also ein Umdenken stattfinden, auch was den Umgang mit Technologie im Allgemeinen und der KI im Besonderen angeht. Natürlich stehen die negativen Ausschläge im Rampenlicht. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass die Geschichte auch anders ausgehen kann. Es muss nicht in der Terminator-Welt enden. Und um das zu verhindern, müssen wir Technologie verstehen, uns zunutze machen und sie beherrschen. Dann kann uns die KI auch helfen.
Geben Sie mir bitte ein Beispiel.
Ich habe das Gefühl, dass unser politisches System an die Wand gefahren ist. Global. Das ist vor allem ein strukturelles Problem, an dem selbst gute und junge Leute scheitern. Nehmen Sie unseren französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Wir hatten alle große Hoffnungen auf ihn gesetzt, aber faktisch geht nichts voran. Ich werfe ihm das nicht vor und plädiere schon gar nicht für Machtwechsel von der anderen Seite. Ich wünschte vielmehr, dass die KI Entwürfe liefern könnte, mit denen Missstände weltweit wirklich nachhaltig angegangen werden könnten – und sich dabei international niemand benachteiligt fühlt.
Sie sind als Musiker heute ja bereits tagtäglich mit der Macht von KI und Algorithmen konfrontiert. Die Software der Streaming-Plattformen entscheidet darüber, wem Ihre Musik in den Feed gespült wird. Davon hängt auch ab, ob Menschen, die Sie und Ihre Alben noch nicht kennen, „Equinoxe“ vielleicht zum ersten Mal überhaupt hören. Wie fühlt sich das an?
Wie in einer bizarren Mischung aus finsterstem Mittelalter und Wildem Westen. Ich glaube aber nicht, dass dieser Zustand anhalten wird. Die Digitalisierung steckt ja noch in den Kinderschuhen. Aber: Das Internet ist eine Revolution und während einer Revolution herrscht Leid. Die Plattenfirmen, meine eingeschlossen, mögen Streaming als großen Heilsbringer sehen, ich habe da eine andere Meinung. Ich sage aber auch, dass diese Art von Streaming immer noch besser ist als YouTube. Das ist auch der Grund, warum ich mich gemeinsam mit anderen Künstlern dafür eingesetzt habe, dass das Urheberrecht auf europäischer Ebene geändert wird.
„Auch die Kultur ist ein entscheidender Teil unserer nachhaltigen Zukunft – genau wie der Umweltschutz.“
Sie haben sich in dieser Angelegenheit klar positioniert.
Ich habe sogar vor dem Europaparlament gesprochen, um zu vermitteln, dass es sich hier ganz eindeutig um eine gesamteuropäische Aufgabe handelt. Kultur ist Menschenrecht und hat Priorität. In anderen Teilen der Welt sieht es diesbezüglich deutlich schlechter aus. Wir kritisieren Europa in einem fort. Nach der Entscheidung im September fühlte ich mich stolz. Wir haben etwas geschafft. Dabei geht es um mehr als um Geld. Es geht vielmehr um Respekt und Identität. Auch die Kultur ist ein entscheidender Teil unserer nachhaltigen Zukunft – genau wie der Umweltschutz. YouTube darf sich nicht länger als reine Hosting-Plattform begreifen. Egal wen man auf der Welt fragt, welche die größte Musik-Plattform ist: Alle sagen YouTube. Außer YouTube selbst. Spotify, Apple oder Deezer stehen im steten Austausch mit den Plattenfirmen, bei YouTube spüre ich nur Verweigerung. Das muss sich ändern. Und tut es ja nun hoffentlich auch. Das Zehn-Euro-Modell der Streaming-Plattformen empfinde ich aber auch nicht als wirklich abbildbar. Gehe ich in den Laden, bekomme ich für zehn Euro eine CD. Bei Spotify für vier Wochen gleich alle für den gleichen Preis. Das ist ja so, als würde ich in meinem Supermarkt einmal pro Monat einen Zehner auf den Tisch legen, um dann einen Monat lang alles mitnehmen zu können, was ich möchte. Das geht nicht. Hier braucht es einen verbindlichen neuen Ethik-Kodex. Wir stehen aber noch ganz am Anfang dieses Prozesses. Ich hoffe, dass uns die KI dabei helfen kann, erwachsen zu werden in diesem digitalen Zeitalter. Aktuell können wir ja kaum krabbeln.
Also doch: der magische Algorithmus, der alle Probleme im Netz löst.
Natürlich nicht. Das wird dauern. Es hat ja allein 100 Jahre gedauert, das Urheberrecht überhaupt auf den Weg zu bringen. Das Netz? Ist noch deutlich jünger. Wir werden das nicht mehr erleben. Aber es geht auch hier um die Zukunft.
Der ewig darbende Künstler. Das ist mir ein bisschen zu wenig, Herr Jarre.
Im Gegenteil: Es gab in den vergangenen Jahren immer wieder Initiativen, das Urheberrecht komplett abzuschaffen. Kunst wird gemacht und dann gekauft – fertig. So wie Joghurt oder Zahnpasta. Ich sage: Wir brauchen ein Internet-Copyright. Das nicht nur die Urheber angemessen vergütet, sondern auch die kommenden Generationen fördert und unterstützt. Von alten Stücken, bei denen die Komponisten nicht mehr direkt von den Erlösen profitieren können – weil sie gestorben sind –, sollte ein Teil der Online-Vergütungen in einen Fond eingezahlt werden, mit denen junge Künstler gefördert werden. Wenn also auf YouTube Beethovens Fünfte läuft, profitieren junge Producer ganz mittelbar davon. Ist das verrückt? Nein. Es wäre machbar und ein wichtiges Signal. Das wäre nicht das Ende vom Internet. Das wäre nicht das Ende der freien Meinungsäußerung. Es ist ein Skandal, das überhaupt so zu interpretieren. Alle Künstler haben in der Vergangenheit doch genau dafür gekämpft. Aber das kostet Geld.
Ich fasse zusammen: Die Menschheit und das Internet hatten schlicht und einfach einen schlechten Start und die Umsonstkultur setzt sich nicht durch.
Es ist doch so: Das Netz bietet uns allen fantastische Möglichkeiten. Aber die Erfinder dieser Tools haben die Dimensionen nicht bedacht. Dabei waren sie doch alle große Musik- und Film-Fans. So entstanden echte Monster. Die Kreativen, die all das erschaffen haben, wurden einfach vergessen. Das müssen wir im Blick behalten, immer wieder diskutieren und nach Lösungen suchen. Das gehört reguliert. Um einen Vergleich zu bemühen: Als das Auto erfunden wurde, dauerte es auch eine Weile, bis verbindliche Verkehrsregeln vereinbart wurden. Daran müssen wir anknüpfen. Und an den Anfang unseres Gesprächs anzuknüpfen: Wir müssen smart sein. Weil: Der smarte Teil im Smartphone ist nicht die Technik, sondern wir.