Vermona statt YamahaCEEYS über elektronische Musik und fast vergessene Instrumente in der DDR

CEEYS start alt

Daniel und Sebastian Selke aka CEEYS | Foto: Roman Koblov

Wenn man von Berlin nach Potsdam fährt, ist man doch immer wieder erstaunt, wie nah die brandenburgische Hauptstadt eigentlich ist – und wie selten man doch hinfährt. Solange man nicht dort studiert, arbeitet oder dem Berlin-Besuch die Schlösser Potsdams oder die Villa von Wolfgang Joop zeigen will. Wobei es heißt, den Mode-Zaren hätte es mittlerweile woanders hin verschlagen.

Die Strecke Potsdam-Berlin ist so oder so eifrig frequentiert. Der Regionalexpress packevoll. Pendelnde, Studierende, Reisende zwängen sich in den Doppeldecker und wenn man am Potsdamer Hauptbahnhof aussteigt, fangen einen gleich mehrere Flyer-Verteiler ab, die einem Touri-Touren und anderen Nepp mit gepuderter Perücke andrehen wollen. Immerhin gilt die Stadt ja als eine Art Disneyland für Fans von Kuchen statt Brot, Menuett und anderem klassizistischen Kitsch, der irgendwie mit Friedrich dem Großen in Verbindung gebracht werden könnte. Dass Potsdam es im Vergleich zu Berlin kulturell schwierig hat, kann man sich vorstellen. Zu groß und wirkmächtig ist der Einzugskreis der international gehypten Kulturszene der Bundeshauptstadt. Da kann man noch so viele RBB- und Filmstudios an der Havel aufrecht halten. Potsdam ist aber auch die Stadt der westdeutschen Schnöselmäzene Hasso Plattner und Günther Jauch. Mehr Starnberger See gibt es im Osten nirgends.

Die Brüder Sebastian und Daniel Selke sind Anfang der Achtziger in Ost-Berlin geboren, aufgewachsen und leben seit langer Zeit in Potsdam. Beide sind divers in der Potsdamer Musikszene aktiv. Sebastian ist Cellist beim Filmorchester Babelsberg. Daniel lehrt Klavier und leitet diverse Chöre. Darüberhinaus veranstalten sie Festivals wie das Q3Ambientfest, betreiben ihr Klingenthal-Studio, das einen Fokus auf Synthesizer und Mikrofone aus der DDR und anderen Ostblock-Staaten legt und sind mit ihrem eigenen Projekt CEEYS zum international anerkannten Imprint geworden, wenn es um zeitgenössische Instrumentalklassik geht. Am Bahnhof treffe ich Sebastian. Vor einiger Zeit fragte er mich, ob ich nicht mal vorbeikommen möchte. Er wolle mir die Geschichte von CEEYS erzählen. Über ihre Kindheit in der DDR sprechen, und die musikalische Aufarbeitung in ihrer Album-Trilogie „Concrete Fields“, „Waende“ und „Hiddensee“. Und darüber, dass es wichtig sei, auch 30 Jahre nach der Wende weitere Perspektiven der Reflexion zuzulassen. Denn 30 Jahre nach dem Mauerfall bedeutet auch: Wir sind vor dem 30-jährigen Jubiläum der deutschen Einheit. Das Thema bleibt präsent. Auch instrumentale Musik könne dabei eine Rolle spielen.

CEEYS live

CEEYS live | Foto: Roman Blachura

Runter vom Eis

Die Brüder Selke wuchsen in einer kreativen Familie auf. Die Mutter Schauspielerin, der Vater Redakteur beim Radio im Funkhaus Nalepastraße. Eine seiner Sendungen hieß „Uhrsprünge“. „Da ging es um Geschichte und Geschichten“, erklärt Sebastian Selke, „Wortspiele haben ihn fasziniert und das ist auf uns übergesprungen. Er hatte eine kabarettistische Seite und hat sich immer wieder Probleme gemacht. Er hat vieles versucht mit Humor zu nehmen, um gegen innere Gegensätze anzukommen.“

Dass Geschichten über die Kindheit zu Verklärungen neigen, ist auch Sebastian bewusst. Dass Musik eine so große Rolle spielen würde, war erstmal nicht vorherbestimmt. „Ich war im Turn- und Sportclub Berlin. Da, wo auch Katharina Witt ausgebildet wurde. Eigentlich hätte ich Eiskunstläufer werden sollen. Unsere Mutter hat was gesucht, bei dem man Kunst, Theater, Sport und Musik zusammen bringen kann. Aber es war auch bekannt, dass Kinder in der DDR gedopt wurden. Meine Mutter war selber als Sporttrainerin aktiv und auch ihr wurde angetragen, Kinder mit Mittelchen zu behandeln. Das hatte System und woanders hat man sich gewundert, wieso die Schwimmerinnen alle wie Männer aussahen. Heute ist das noch immer ein Skandal, der nicht richtig aufgearbeitet ist.“

Der junge Eiskunstläufer Sebastian bekam bereits durch die vielen Sprünge Rückenprobleme, sein Bruder Daniel fühlte sich auf dem Eis ohnehin nur bedingt wohl. Aber in einem planwirtschaftlich strukturierten Land eine freie Karriere anzupeilen, war nicht selbstverständlich. Mutter Selke wollte bereits selber Pianistin werden, durfte aber nicht. Und in die Zunft der Musiker aufgenommen zu werden, war ebenso nichts, was man selbst entscheiden konnte. „Musik selber war in der DDR nicht so hoch angesehen. Dennoch gab es im Osten Dynastien, teils mafiöse Strukturen. Da durfte nicht jeder Musik machen, der Musik machen wollte. Aber es war ihr Wunsch, den Kindern das zu geben, was sie nicht hatte. So hat sie uns dabei geholfen. Dafür haben wir versprochen, das bis zum Ende durchzuziehen.“

CEEYS Stage

Klavier, Cello und viel Kabelage. Das Set-up von Sebastian und Daniel Selke. | Foto: Katharina Tress

Hellhörig

Sebastian fing so mit dem Cello an, der drei Jahre jüngere Daniel wenig später mit dem Klavier. In ihrer Ost-Berliner Plattenwohnung übten beide so weit wie möglich entfernt voneinander, um sich akustisch nicht in die Quere zu kommen. „Plattenbauten hatten für die Stasi den Vorteil, dass sie wegen ihrer dünnen Wände leicht abgehört werden konnten. Dadurch bekamen wir Probleme beim Üben. Auf der anderen Seite begannen wir mit unseren Instrumenten zu interagieren. Ich habe mit dem Cello auf Klaviermelodien meines Bruders reagiert. So sind wir eigentlich zum gemeinsamen Spielen gekommen. Es entstand etwas Eigenes.“ Da ging es für Sebastian gerade in die Grundschule. Klassische Musik ist noch heute eine sportliche Kunst. Es gibt zahlreiche bedeutsame Wettbewerbe, nirgends ist das Üben und die Technik so wichtig wie hier.

Auch Sebastian und Daniel nahmen an zahlreichen Jugend-musiziert-Wettbewerben teil. Mit Erfolg dekoriert. Mittlerweile war die Mauer gefallen und mit dem Erwachsenwerden wurde der eigene künstlerische Output immer bedeutsamer. „In der Klassik war alles sehr eng und starr. Wir haben indes immer diese Ambient-Musik geliebt, hatten selber aber keine Elektronik.“ Mike Oldfield und Vangelis gab es bereits im elterlichen Plattenschrank. Sonst inspirierten die Synthesizer-basierten Scores für Polizeiruf 110 und natürlich Reinhard Lakomy. Jener 2013 verstorbene Elektronik-Pionier, der jedem Kind mit DDR-Bezug durch den „Traumzauberbaum“ ein Begriff ist und bei jenen noch immer für aufleuchtende Augen sorgt. Neben Lakomy gab es Synthie-Musiker wie Frank Fehse, die heute aber kaum noch jemand einordnen kann. „In die Klassikwelt haben wir uns nie wirklich einfügen können. Es gab strenge Regularien. Da haben wir uns nie wohlgefühlt.“

Klingenthal Studio 1

Blick ins Klingenthal-Studio | Foto: Roman Koblov

Neu kartierte Technik

Oft wird vernachlässigt, dass es in der DDR eine eigene Welt der Instrumente gab. Nur in so einem System konnte so etwas wie ein Subharchord überhaupt erst entstehen. „Alle Musiker haben Richtung Westen geschielt. Alle wollten Fender, Marshall und Gibson spielen. Statt Vermona musste es ein Keyboard von Yamaha sein“, erklärt Sebastian die Umstände, wieso Synthesizer popkulturell in der DDR eine so untergeordnete Rolle spielten. Zunächst waren sie teuer wie selten und wenn, kamen elektronische Instrumente im Film oder Fernsehproduktionen zum Einsatz. Technisches Unverständnis spielte ebenfalls eine Rolle. „Man hat in der DDR mit der Standardmechanik versucht, Synthesizer zu verstehen. Das ging aber nicht. Dennoch sind viele tolle Instrumente entstanden.“ Daniel und Sebastian sammeln seit Jahren alte Elektronik aus der DDR und bringen sie in ihr Klingenthal-Studio. Einiges wird restauriert, anderes bleibt in seinem teils wackeligen Urzustand. „Bernd Haller hat den tollen Vermona 14 gebaut. Unser Modell kann die Tonhöhe nicht mehr richtig halten. Mit Arpeggio klingt er aber ganz speziell. Den haben wir daher so gelassen.“ Das Wissen um diese historischen Geräte wird immer rarer. Eine sehr kleine, aber passionierte Szene. Die Selkes fahren gerne mal durchs ganze Land, um an verstaubte Klangerzeuger zu kommen. Man kennt mittlerweile E-Techniker in Polen, die das Handwerk um frühere Synthesizer (noch) beherrschen und die Instrumente restaurieren. „Wir wollen nichts verherrlichen. Uns geht es überhaupt erst um die Entdeckung dieser Instrumente – die damals keinen interessiert haben.“

Klingenthal Studio 2

Foto: Roman Koblov

Neben zahlreichen Vermona-Tasteninstrumenten und DDR-E-Pianos, die nicht mal eine Modellbezeichnung haben, weil es halt nur das eine Modell gab, finden sich im Klingenthal-Studio ostdeutsche Gefell-Mikrofone, russische Oktava-Mikros und tschechische Bandmaschinen wie die Tesla B116. („Dafür haben wir noch alte Orwo-Bänder, die verkleben aber so schnell.“) Die fast vergessene Musiktechnik wird hier nicht museal ausgestellt, sondern im Studioalltag eingesetzt. Sei es in eigenen CEEYS-Produktionen oder auch in Aufnahmen für junge Nachwuchskünstler*innen und internationale Artists. So lebt gewissermaßen der Sound der DDR weiter, er entwickelt sich, kann neue genuine und zeitgenössische Kontexte schaffen.

Dualismen

Es sind immer wieder Dualismen und Gegensätze, die die Brüder Selke laut eigener Aussage inspiriert und antreibt. Kommunismus versus Kapitalismus, Ost und West, Moog und Vermona, Klassik und Moderne. Dann auch noch zwei Brüder. Fans der Beach Boys und Oasis wissen Bescheid. Eine Vermona in heutigen Zeiten mal bewusst erklingen zu lassen, könne bereits eine Message sein. Die in diesem Jahr abgeschlossene Album-Trilogie befasst sich mit diesen Reibungen. „Bevor wir die Alben gemacht haben, sahen wir die Langzeitdokumentation „Die Kinder von Golzow“. Eine geniale Arbeit. Hier sieht man einige, die es geschafft haben und viele, die gescheitert sind und sich gar nicht mehr filmen lassen wollen. Ich habe mit Daniel besprochen, wie man dieses Thema zum musikalischen Ausgangspunkt machen kann. Lässt sich das in einem Album abbilden? Wie kann man so etwas mit instrumentaler Musik thematisieren? Wir wollten eine eigene Sicht auf die Dinge der Zeit schaffen, die in der Kindheit derart schnell an uns vorbei gerauscht sind. Kann man das erinnern und reflektieren?“ „Concrete Fields“, „Waende“ und „Hiddensee“ setzen sich mit den Themen Betonarchitektur, Mauern, Freiheit, Reisen und systemischen Widersprüchen auseinander. Ambient und cineastisch. In einer musikalischen Spielart, die an sich schon mit vielen Unstimmigkeiten bezüglich der Genre-Bezeichnung zu tun hat. „Eine komplizierte Angelegenheit. Mit dem großen Erfolg von Leuten wie Nils Frahm kippt der Begriff Neo-Klassik auch schon wieder. Es gibt heute so viele Namen dafür: Post-Klassik, Moderne Klassik, Alternative-Klassik, Neo-Klassik. Aber keiner weiß, was das ist. Wir sagen einfach Contemporary dazu. Zeitgenössische Instrumentalmusik. Das finden wir am besten.“

Derzeit arbeiten CEEYS mit Peter Broderick an einem gemeinsam Projekt, das vielversprechend klingt und auch live umgesetzt werden soll. Touren in den USA wurden im Herbst absolviert. Kürzlich fand das eigene Festival „Novemberstimmung“ statt. Auch das nächste Q3Ambientfest wird bereits vorbereitet. „Musik mit klassischen Instrumenten und Bezug zum Jetzt ist wie ein Soundtrack für die Stadt“, erklärt Sebastian Selke. Wie der architektonische Widerspruch zwischen Sanssouci und den zahlreichen Platten vom Reißbrett. Sebastian und Daniel Selke gestalten ihre Stadt mit ihren kreativen Mitteln mit und erweitern Narrative. Selber Dinge organisieren, die internationalen Netzwerke und lokale Infrastrukturen für Konzerte und Festivals nutzen. Das bleibt neben allen Kompositionen und Aufnahmen wichtig – und man bekommt das Gefühl, die Sache fängt für die beiden gerade erst richtig an.

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