Underground in NairobiÜber die elektronische Musikszene in Kenia
8.11.2019 • Sounds – Text & Foto: Sven KacirekIm zweiten Teil seiner Ostafrika-Reportage berichtet Sven Kacirek über die elektronische Musikszene in Nairobi. Wie steht es um Clubs, Produzent*innen und Netzwerke in dem Land? Unser Autor, der sich seit Jahren eng mit den dortigen Szenen austauscht, stellt uns Künstler*innen wie DJ Raph, KMRU und [MONRHEA] vor. Ein Bericht über aktuelle, spannende Entwicklungen, starke Bässe und was es heute wirklich bedeutet, Underground zu sein.
„THE WORLD'S LOUDEST LIBRARY“ steht draußen an der Eingangstür. Drinnen sitzt Raphael Kariuki, bekannter als DJ Raph, umringt von Cartoons, Büchern, CDs und Schallplatten. Eine James-Last-LP steht neben dem aktuellen Album der Gebrüder Teichmann, Donna Summer neben meinem 2011 erschienenen Album „The Kenya Sessions“. Alle Platten kosten um die 2.000 Kenianische Schillinge, umgerechnet etwa 18 Euro: „Vinyl ist in Kenia nicht sonderlich populär. Die Leute laden Musik im Netz runter oder kaufen sich CDs.“ Auch sei es relativ schwer, gute und erschwingliche Plattenspieler in Nairobi zu bekommen. „Aber wir glauben an diesen Laden hier.“
Die World’s Loudest Library, kurz WLL, befindet sich auf dem Gelände der Location Alchemist – Club, Bar, Café, Restaurant und vor allem Dreh- und Angelpunkt der elektronischen Musikszene Nairobis. Noch vor einem Jahr stand Raphael hier fast jeden Abend hinter dem Tresen, um Platten und Bücher zu verkaufen oder einfach nur neue Leute kennenzulernen und zu vernetzen. Mittlerweile gibt es genug freie Mitarbeiter, die sich die Schichten untereinander aufteilen. Raphael arbeitet als freier Texter und Konzeptentwickler für verschiedene Werbeagenturen in Nairobi. Seine Festanstellung hat er vor ein paar Monaten an den Nagel gehängt, um mehr Zeit für die Musik zu haben. Im letzten Jahr erschien bei Noland, dem Label der Gebrüder Teichmann, sein Album „Sacred Groves“, auf dem Raphael ältere Feldaufnahmen kenianischer Folkmusik mit elektronischer Musik verbindet. Das Album erhielt viel Aufmerksamkeit. Es folgten Einladungen von verschiedenen Clubs in Europa und vom Haus der Kulturen der Welt in Berlin.
Ein Pudel für Nairobi
„Die Clubszene in Nairobi ist nicht vergleichbar mit beispielsweise der in Berlin. Alle Musiker, die ich kenne, leben – abgesehen von verschiedenen Nebenjobs – von Gigs und Touren durch Europa oder in die Vereinigten Staaten. Es gibt keinen Support für Musik und Kunst von Seiten der Kenianischen Regierung. Die Gagen in den Clubs sind extrem niedrig. Und trotzdem tut sich gerade eine Menge hier in der Stadt.“ Raph plant zurzeit, einen eigenen Club in Nairobi aufzumachen. „Ich war in Hamburg und habe im Golden Pudel Club gespielt. Und ich dachte mir sofort: So etwas fehlt in Nairobi. Genau so etwas brauchen wir hier!“
Matthew Swallow eröffnete vor einem Jahr gemeinsam mit drei Freunden den Club Muze. Die gesamte Szene hat hier bereits aufgelegt und performt: Slikback, [MONRHEA], KMRU, DJ Raph, Blinky Bill und viele mehr. Matthew zog 2011 von England nach Nairobi, um an einer Schule Kunst zu unterrichten. Auch er war im Alchemist aktiv, bevor er das Muze eröffnete. „In zwei Hinterzimmern des Alchemist – wir nannten es The Backyard – veranstalteten wir Partys, Konzerte und Aufnahmesessions. Ich hatte ein kleines Tonstudio, das ADA Recording Studio. Ein Jahr später gründete ich das Label ADA Records.“
Matthew ist auch federführend an dem Festival Kilifi New Year beteiligt, das immer am Ende des Jahres an der Ostküste Kenias stattfindet und in erster Linie elektronische Musik aus Ostafrika featuret. Auch von Matthew hört man, was Raph mir bereits sagte: „Es tut sich gerade etwas in Nairobi. Es ist eine sehr spannende Zeit.“ Zwar sei der Geschmack der meisten Nairobians sehr auf kommerzielle Musik ausgerichtet. Alles, was sich außerhalb des Mainstreams abspiele, habe nach wie vor einen schweren Stand. Dennoch würden immer mehr Leute auftauchen, die sehr ungewöhnliche und inspirierende Musik produzieren.
Musikergenerationen
Einer dieser kreativen Köpfe ist Joseph Kamaru, in der Szene bekannt unter seinem Künstlernamen KMRU. KMRU trägt den Namen seines 2018 verstorbenen Großvaters Joseph Kamaru, der zu den bedeutendsten und bekanntesten Musikern Kenias zählt. Von ihm lernte er, Gitarre zu spielen, Noten zu lesen und Songs zu schreiben. Seine Musik unterscheidet sich von der seines Opas und Mentors aber gewaltig: KMRUs Tracks sind kunstvoll ausgearbeitete Ambient-Collagen, in denen sich immer wieder verschiedenste Feldaufnahmen in den Vordergrund spielen. KMRU performte 2019 beim CTM Festival in Berlin und in Sankt Petersburg. Kürzlich erschien seine neue EP „Erased“ bei dem Londoner Label Byrd Out. Lange, atmosphärische Bögen bestehend aus Feldaufnahmen, elegischen Klaviermotiven und fließenden minimalistischen Beats, zeichnen den Grundsound dieser Platte aus.
Auch KMRU denkt darüber nach, einen eigenen Club aufzumachen: „Kürzlich habe ich im Alchemist ein Ambient-Set gespielt. Nach 20 Minuten kam einer der Chefs zu mir und fragte, wann ich denn endlich anfangen würde. Ich sagte ihm: Ich spiele schon seit 20 Minuten. So klingt halt meine Musik.“ Der Besitzer habe die Musik überhaupt nicht verstanden und war besorgt, dass seine zunehmend an Mainstream-Elektro interessierte Crowd den Club verlassen würde. KMRU organisiert ein Mal pro Monat im The Elephant ein Treffen kenianischer Musikproduzenten. Jedes Mal stellt ein Produzent seine Arbeitsweise vor, anschließend wird gefragt und diskutiert. In der Regel kommen um die 20 Leute zu diesen Veranstaltungen.
Liebe zum Bass
Auch [MONRHEA] ist regelmäßig Gast bei diesen Produzenten-Treffen. Sie gehört mit DJ Fluid zu den wenigen Frauen, die in Nairobi elektronische Musik produzieren. [MONRHEA] liebt Bass. Als wir zusammen auf eine Techno-Party unweit des Alchemist gehen, sagt sie mir: „Übrigens – falls du mich suchst, ich tanze immer direkt vor dem großen Basswoofer. Dort ist der Sound einfach am besten.“ Und so verbringen wir die nächsten fünf Stunden zusammen direkt vor der wuchtigen PA. Auf dem Heimweg piepen unsere Ohren. „Man sollte das nicht jeden Tag machen, aber ab und zu muss das einfach sein“, sagt sie. [MONRHEA]s richtiger Name ist Maureen Wanjiru Ngure. Wanjiru heißt übersetzt soviel wie „aus der Dunkelheit“. Und so klingen auch ihre Tracks: Die Atmosphären sind düster und abstrakt, die Beats wuchtig und gebrochen. Die Arrangements überraschen immer wieder, abgehackt und nie einem Stereotyp folgend. „Wenn du hier einen Track ohne Melodien produzierst, verstehen die Leute das einfach nicht. Die meisten gehen gleich wieder nach Hause. Aber mit den wenigen, die bleiben, kannst du den besten Abend erleben.“ [MONRHEA] lebt im Distrikt Athi River in der Nähe von Nairobi. Für Ihre Single „122.2.22.22“, die sowohl bei ihrem eigenen Label Rhealistic Records als auch auf dem ugandischen Label East African Records erschien, wurde [MONRHEA] für den Sondeka Award als bester experimenteller Produzent nominiert.
Die junge Künstlerin begann erstaunlicher Weise erst 2017, ernsthaft mit Musik zu experimentieren, als sie sich der Gruppe Femme Electronic der ugandischen Produzentin DJ Racheal anschloss. Vorher studierte sie Management Information Systems (MIS). Sie spielte dieses Jahr beim Nyege Nyege Festival in Uganda und beim New Year Festival in Kilifi. Ein geplantes Konzert in London dieses Jahr konnte nicht stattfinden, weil die Britische Botschaft ihren Visumantrag ablehnte. Ihre Musik ist sowohl von DJ Raph und KMRU beeinflusst als auch von den Techno-DJs DJ Rathod und DJ Lasta.
Raus in die Welt
Raph, KMRU und [MONRHEA] bilden in Nairobi gemeinsam mit Slikback so etwas wie das Herz der experimentellen Elektronik-Szene, wobei Slikback immer mehr Zeit in Kampala verbringt und dort eng mit dem Label Nyege Nyege Tapes zusammen arbeitet.
Raph und KMRU arbeiteten gemeinsam an einer Installation, die noch bis um 20. November im Goethe-Institut Nairobi zu sehen ist. Sie entwickeln so etwas wie ein Audio-Archiv Nairobis. Mit dem Telefon oder einem mobilen Aufnahmegerät kann jeder Geräusche der Stadt mitschneiden, hochladen und archivieren. Das Projekt ist auf mindestens zehn Jahre angelegt und soll dokumentieren, wie sich parallel zu der rasanten Veränderung des Stadtbilds auch der Klang der Stadt weiterentwickelt.
„Es ist keine einfache Umgebung hier für Musiker, die sich eher in einer Nische bewegen und die gar nicht erst versuchen, den Mainstream zu bedienen.“
Ob Raph, KMRU und [MONRHEA] in zehn Jahren noch in Nairobi leben werden, ist unsicher. Maureens Schwester lebt in Miami, und mit jedem Besuch versucht sie dort mehr und mehr Anschluss an die dortige elektronische Musikszene zu knüpfen. „Ich fühle mich in Nairobi manchmal, als stecke ich fest und komme hier einfach nicht richtig weiter“, sagt sie. KMRU wird sich nächstes Jahr wahrscheinlich an der Kunsthochschule in Berlin bewerben, sieht seine Base aber immer in Nairobi. Raphael, der auch Vater zweier kleiner Kinder ist, sieht seine Zukunft und die Zukunft seiner Familie grundsätzlich in Nairobi. „Es ist keine einfache Umgebung hier für Musiker, die sich eher in einer Nische bewegen und die gar nicht erst versuchen, den Mainstream zu bedienen“, sagt er. „Ich möchte für meine Musik gerne eine Umgebung schaffen, die weniger hedonistisch ist.“ Es dürfe schon laut und heftig zugehen, aber dann eher so etwas wie „loud music for a quiet mind“. „Ich mag es nicht, wenn man sich nach der Party komplett leer und ausgelaugt fühlt. Man sollte den Club eher inspiriert und energetisierend verlassen“, erklärt er. Es werde noch etwas dauern, solch eine Umgebung hier zu schaffen, „aber es ist definitiv möglich“, sagt er, zieht sein Baseball-Cap tief ins Gesicht, schließt die Tür zur „World's Loudest Library“ ab, steigt in einen der zahlreichen Matatu-Busse und verschwindet im hupenden Treiben Nairobis.
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Im ersten Teil seines Zweiteilers für Das Filter berichtet Sven Kacirek über sein Projekt Odd Okoddo, das er gemeinsam mit dem Musiker Olith Ratego in Kenia ins Leben rief. Es geht um radikalen DIY, hier völlig unbekannte Instrumente und die inhärenten Probleme, die so eine künstlerische Auseinandersetzung und Dialog mit sich bringen.