Scheppernde Pracht, Hoffnung und Zuspruch, Sound im LangstreckenformatBell Witch, The Hope Blister, Asmus Tietchens – drei Platten, drei Meinungen
9.4.2020 • Sounds – Gespräch: Christian Blumberg, Kristoffer Cornils, Thaddeus HerrmannIn Zeiten des grobkörnigen Telepräsenz-Rumcornerns verabreden sich Blumberg, Cornils und Herrmann im Bildschirmtext des mentalen Abschaltens – und haben Musik dabei. Musik, die aktuell einfach läuft und es im Stapel gerade wieder nach oben geschafft hat. Hier passt nichts thematisch zusammen, hier werden keine Brücken geschlagen. Kleine Highlights und große Entdeckungen. Wie anders könnte es zwischen dem Doom-Metal von Bell Witch, der 4AD-Coverband The Hope Blister und den „Seuchengebieten“ des deutschen Elektronikers Asmus Tietchens auch sonst kommen? Ein Protokoll der offenen Ohren und klackernden Tastaturen.
Bell Witch – Mirror Reaper (Profound Lore Records)
Kristoffer: Remote-Roundtable und die Selection ist diesmal auch ganz anlasslos: einfach irgendeine Platte auf den digitalen Schreibtisch legen, die in letzter Zeit rauf und runter rotierte. Bei mir sind das Bell Witch mit „Mirror Reaper“. Bevor jemand fragt: Nein, es liegt nun wirklich nicht an der apokalyptischen Weltlage, dass ich gerade wieder eine Metal-Phase durchlaufe. Sondern vielmehr an Blood Incantation und „Hidden Histories of the Human Race“, dem Genre-Hype des letzten Jahres. Auf den sprang ich etwas zu spät auf und dachte mir, dass ich zum Ausgleich auch den von 2017 nachholen könnte. Gesagt und satte 83 Minuten und 41 Sekunden später dann auch getan. Ich war hin und weg: Das also ist „Mirror Reaper“ in all seiner schleppenden Pracht. Ein Wahnsinnsalbum. Für mich zumindest. Wie ging’s euch damit?
Thaddeus: Ich hatte ein bisschen Angst, mir das anzuhören. Wir hatten ja im Slack vorher Ideen reingeworfen, und zwischen dir und Christian entspann sich sofort eine Doom-Metal-, bzw. Death-Doom-Metal- und Funeral-Doom-Metal-Debatte. Da zuckte ich innerlich leicht zusammen. Aber: Ich finde das Album großartig. Wie das einfach nicht aufhören will in seiner akustischen Loopigkeit. Und am Ende kippt es ja in eine pure Indie-Haltung. Will sagen: Die letzten zehn Minuten könnten auch von Low sein. Ich mag das aber nicht nur deshalb gern. Ich mag, wie sich das schleppend entwickelt, bzw. ja eigentlich abseits des Ab- und Anschwellens sehr auf der Stelle tritt. Tipps zu ähnlichen Alben nehme ich jederzeit entgegen. Ich finde mich da durchaus wieder, in meiner Wave- und Gothic-Phase. Wie breit der Verzerrer auf der Gitarre dabei ist … praktisch nebensächlich.
Kristoffer: Das ist ein Bass! Und das ist ja das irre: Bass, Schlagzeug, Hammond am Ende, nebenbei noch Growls, Geschrei und Gesang – mehr Zutaten gibt es nicht.
Thaddeus: Ah ok! Also Sound Art at its best! So Studio-Mucker, wa?
Kristoffer: Wenn du willst, ja. Obwohl die damit auch live auftreten. Das ist ein Duo.
Thaddeus: Hatte ich gelesen und mich gefragt, wie das wohl gehen soll.
Kristoffer: Ganz gut, haben sie 2018 bewiesen: Da erschien eine Live-LP, die drei Jahre zuvor auf dem Roadburn Festival aufgenommen wurde. Bell Witch machen in minimalster Besetzung maximal Lärm. Obwohl auf diesem Album doch drei Mitglieder zu hören sind: Ein Gesangspart kommt vom ehemaligen Drummer der Band, welcher kurz vor den Aufnahmen ausstieg und dann verstarb. Soviel zum Thema Funeral Doom – das hier ist ein Klagelied für einen alten Freund und Wegbegleiter.
Christian: Diese Genre-Frage würde ich aber trotzdem gerne noch von dir erklärt bekommen. Ich mag ja diese Obsessionen mit Genres und Sub-Genres im Metal. Es ist doch angenehm uneitel zu sagen: Hey, wir spielen Funeral-Doom! Das ist präzise und verzichtet zugleich auf diesen Anspruch der Einzigartigkeit, der immer mitschwingt, wenn Musiker*innen für sich beanspruchen, sie hätten mit Genres nichts zu tun. Wobei: „Mirror Reaper“ kommt mir dann aber schon sehr einzigartig vor, schon allein wegen der Dauer.
Kristoffer: Ich muss gestehen, dass ich in Sachen Doom nicht sonderlich firm bin. Obwohl mir die Grundidee – tief, lang, düster – sehr zusagt. Vielleicht fehlte mir bisher einfach die Geduld für eine ausgiebige Auseinandersetzung und dank Quarantäne kann ich sie nun aufbringen – wer weiß. So oder so: Was die feinen Unterschiede zwischen Death Doom und Funeral Doom anbelangt: keine Ahnung. Laut Wikipedia sind vor allem Tempo und musikalische Beigaben – hier die wahnsinnige Hammond-Orgel – ausschlaggebend, für Death Doom werden Bands wie Winter und Paradise Lost – das Frühwerk ist wohl gemeint – genannt. Das scheint mir als Abgrenzung sinnig.
Christian: Also Orgel = Beerdigung? Ok, das war einfach.
Kristoffer: Tja, das Kircheninstrumentarium sorgt für die Begräbnis-Vibes. Aber nicht nur das. Ich war ebenso wie Thaddi davon ausgegangen, dass ich da eine Gitarre höre. Das ist aber ein Bass, der schmerzhaft gequälte, wahnsinnig elegische Töne im höheren Register von sich gibt. Das ist interessant, weil dieses Instrument total umfunktioniert wird, vom Rhythmusinstrument zum Solisten geupgradet wird. Das gibt es recht selten, Metal ist in der Instrumentierung sehr konservativ. Die Green-Black-Metal-Band Botanist benutzen zum Beispiel ein Hackbrett (!) statt einer Gitarre und werden deshalb nicht in die Online-Datenbank Encyclopaedia Metallum aufgenommen. Bescheuert. Bell Witch aber versuchen da, das Prinzip Metal-Band neu zu denken. Auf, übrigens, eine angenehm unmackerhafte und unprätentiöse Art und Weise. Allgemein: Auch wenn diese Band sich Bell Witch nennt, fehlt da die Breitbeinigkeit, die andere Langstrecken-Dröhner wie Sunn O))) durchaus noch mittransportieren, ebenso wie der angestrengte Intellektuellenflair wie bei Liturgy und anderen ikonoklasmusvernarrten Gruppen. Das finde ich auch schön. Wie auch die Musik vor allem schön sein möchte.
Thaddeus: Mit anderen Worten: Das ist Doom-Pop. Und deshalb finde ich das ziemlich cool?
Kristoffer: Mag sein! Wie ging’s dir denn nun damit, Christian?
Christian: Oh, ganz gut! Man rutscht trotz der Schwerfälligkeit gut rein und irgendwann rauscht es dann so mit. Aber ich hatte tatsächlich mehr Spaß – hier natürlich die völlig verkehrte Wortwahl – mit den Growl-Parts als mit denen, denen Thaddi vorhin zu Recht eine Indie-Haltung attestiert hat. Als Ganzes bekommt das Stück durch diese leisen Teile aber so etwas Gehemmtes. Und genau das ist total reizvoll, dass es nie so richtig ausbricht. Sonst würde es wahrscheinlich doch schnell langweilig werden.
Thaddeus: Bin ich dabei!
Kristoffer: Ja, und auch das ist irgendwie Metal-untypisch, obwohl das Gros an Doom Metal – wie gesagt, auf dem Gebiet bin ich bei weitem kein Experte – zumindest doch eher lang, schwer und höhepunktslos agieren mag: In dieser Zeitlupen-Berg-und-Talfahrt wird sich viel Raum genommen, nie aber völlig aufgedreht. Das macht diesen Song – das nämlich ist dieses Album, nur eine einzige Komposition! – so wahnsinnig effektiv. Es hat etwas Traumhaftes, fließt von dieser Stimmung in die nächste über, ohne dass dazwischen nennenswert viel Action anvisiert würden. Das passt sehr gut zu den Themen im Hintergrund: Trauerarbeit, Melancholie.
Thaddeus: Wenn ich mich jetzt durch die anderen Alben höre: Werde ich einen ähnlichen Ansatz finden oder fahr ich gegen die Doom-Wand? Oder: Bin ich plötzlich Doom-Fan?
Kristoffer: Ich hoffe, das bist du nun ein bisschen geworden! Bei Bell Witch wirst du in der Diskografie – ein Demo erschien 2011, danach folgten zwei LPs sowie das genannte Live-Album, „Mirror Reaper“ war bisher das letzte Studioalbum – durchaus den Trend zu dem hinaushören, was hier wirklich in Perfektion durchexerziert wird. „Four Phantoms“ von 2015 ist schon die Vorskizze für dieses Album.
Thaddeus: Ich gehe das an. Und werde berichten. Anything to add, Gents? Nein? Dann machen wir einen gewagten Schlenker und widmen uns meinen Pick.
The Hope Blister – ...Smile’s Ok (4AD)
Thaddeus: Kurz zur Einordnung – es gibt bestimmt viele Leser*innen, die 4AD eher aus der heutigen Perspektive kennen und damit Bands wie The National und Purity Ring oder auch Grimes verbinden. In den 1980er-Jahren startete Labelchef Ivo Watts-Russell das Project This Mortal Coil, eine Art Supergroup mit vielen Künstler*innen, die damals auf dem Label veröffentlichten: Modern English, Dead Can Dance, Cocteau Twins, Wolfgang Press, Cindytalk etc. Drei Alben gibt es von dem Projekt, das letzte – „Blood“ – erschien 1991. The Hope Blister ist praktisch der Neustart der Idee – nur mit festen Lineup. Louise Rutkowski, die auch schon bei This Mortal Coil mit dabei war, singt, Laurence O'Keefe spielt Bass. Und Ivo ist der Musical Director. John Fryer, einer dieser legendären New-Wave- und Synthpop-Produzenten, ist auch wieder mit dabei. Hier gibt es nur Cover-Versionen. Die spielten bei This Mortal Coil auch immer eine Rolle, hier jedoch dreht sich alles ausschließlich um die Musik von anderen. „Dagger“ von Neil Halstead von Slowdive zum Beispiel, „The Spider And I“ von Brian Eno, „Let The Happiness In“ von David Sylvian, „Only Human“ von Heidi Berry oder „Hanky Panky Nohow“ von John Cale. Es gibt kaum eine Platte aus dem 4AD-Kosmos, die mir mehr an Herz gewachsen ist, wie diese hier. Ich kann dem Sog dieser Interpretationen und auch der Produktion bis heute nicht widerstehen. Ein zeitlos-zärtliches Unterfangen, das immer an genau den richtigen Stellen anschwillt und zu zerren beginnt, gerade hinten raus. Kein Kitsch, keine Überzeichnung, sondern ein unglaublich respektvoller und kreativer Umgang mit großen Songs, die es nicht galt, besser zu machen, sondern nur anders aufzusetzen.
Kristoffer: Uff, danke für die Einführung. Ich habe tatsächlich nur kurz recherchiert, nachdem du das Album herumgeschickt hattest. Mir war die Gruppe überhaupt nicht bekannt und sogar This Mortal Coil habe ich nie so richtig mitgeschnitten – in Sachen 4AD war ich eher bei Cocteau Twins und Bauhaus dabei und bin wohl erst so richtig wieder in den Zehnerjahren eingestiegen. Sorry! Selbst die Originale dieser Cover-Versionen kenne ich größtenteils nicht, zumindest hatte ich ad hoc beim ersten, zweiten, dritten Durchlauf keinen Aha-Moment. Obwohl ich einige von ihnen ganz sicher gehört habe. Schon spannend! Ich weiß nicht, ob mir die Platte so gefällt. Sie ist durchaus heterogen, irgendwie aber auch nicht. Sehr pathetisch bisweilen, manchmal auf eine angenehm verschrobene Art, meistens mir persönlich zu platt und zu glatt. Bin da unschlüssig.
„Minimalismus gefällt mir ohne Gitarren einfach besser.“
Christian An This Mortal Coil habe ich mich vor ein paar Jahren mal versucht, aber letztlich kam ich mit dem Gesang nie wirklich zurecht. Hier habe ich aber eher das Problem, dass da bereits so Spät-90er-Post-Rock dazukommt. Den ich damals aufregend fand im Sinne von „dem Rock bei der Überwindung seiner selbst zuzuhören“, der mich aber rein klanglich allenfalls mäßig interessiert – Minimalismus gefällt mir ohne Gitarren einfach besser. Aber eine Frage an Thaddi: Bedeuten dir die Originalversionen der Songs auch so viel, oder sind es eher die Interpretationen von The Hope Blister?
Thaddeus: Ha! Guter und richtiger Punkt. Die Platte ist alt, 1995 erschienen. Was ich damals schon kannte oder nicht, kann ich kaum erinnern. Viele Songs hörte ich aber bestimmt zum ersten Mal auf diesem Album. Natürlich habe ich mir die Originale dann angehört und war manchmal angetan, manchmal entschied ich mich aber auch für die Versionen hier. Das ist für mich persönlich sehr spannend. „Dagger“ von Slowdive war immer einer meiner Lieblingssongs der Band – diese Version hier finde aber mindestens ebenso würdevoll. Anderer Ansatz, anderes Ergebnis, aber ebenso schlüssig und ja – fuck me – irgendwie überwältigend. Ich höre das Album aber natürlich seit dem ersten Tag mit der TMC-Referenz. Und in diesem Kontext finde ich „… Smile’s Ok“ irgendwie viel schlüssiger und durchdachter. Aber: Es liegen natürlich auch viele Jahre dazwischen. Was ich eigentlich sagen will: Wenn ich irgendwie Hoffnung und Zuspruch brauche in Form von Musik, dann ist das eines der wenigen Alben, zu denen ich immer wieder zurückkehre. Schön, solche Alben überhaupt zu haben.
Kristoffer: Interessant finde ich das, weil ich beim ersten Durchhören etwas erstaunt war: Ich hatte angenommen, dass du deine Indie-Rock-not-Rock-Musik im Klangbild viel schwurbeliger magst, also mit mehr Effekten versehen oder zumindest grobkörniger. Tatsächlich ist mein maßgebliches Problem mit diesem Album, dass mir einfach der grit fehlt. Selbst bei den Stücken, die dann doch dank Rutkowskis Stimme und Melodieführung sowie dieses Ambient-artigen Backgrounds sehr an – pardon, I know I know! – Kate Bush erinnern. Zumindest ist das für mich ein sich aufdrängender Vergleich, nur fehlt mir … Na ja, das Exaltierte. Zugleich kann ich es aber auch nicht als Ambient einfach weghören, obwohl „Sweet Unknown“ beispielsweise nahezu Proto-Grouper ist und ich ähnliche Herangehensweisen bei Frank Ocean dann wieder sehr geil finde. Doch das Rauschen, das Dröhnen, den Schmutz, das fehlt mir bei The Hope Blister, auch wenn ich „The Outer Skin“ sehr schön finde. Ich höre aber vor allem das Potenzial, der Effekt will sich bei mir nicht einstellen.
Christian Ein paar dieser Stellen der aufbrandenden Verschwurbelung gibt es ja schon, aber der Fokus liegt immer sehr auf der Stimme, und die ist schon sehr klar und clean produziert. Ich muss vielleicht gestehen, dass ich viele der Songs gar nicht kannte und erst am Ende des Albums, bei den Covers von Brian Eno und John Cale, dann diesen Abgleich mit den Originalen im Kopf vornehmen konnte – und übrigens sofort das Bedürfnis hatte, mal wieder „Paris 1919“ zu hören. Gerade bei „Hanky Panky Nohow“ würde ich Thaddi leise widersprechen wollen, denn im direkten Vergleich mit der Cale-Version wirken die Streicher hier schon ganz gut angekitscht.
„Ein Grund, warum ich dieses Album hier so schätze, ist die Tatsache, dass es den „alten“ 4AD-Sound einfängt, aber gleichzeitig etwas Neues einläutet.“
Thaddeus: Verstehe ich vollkommen. Und ja – das stimmt natürlich auch irgendwie. Aber Cale ist ja selbst jemand, der seine Songs immer wieder neu interpretiert und sich nach aufwendiger Studio-Produktion nicht zu schade ist, sich mit der Klampfe auf die Bühne zu setzen. Klar, er darf das auch – immerhin hat er den Song geschrieben. Ich glaube, ein Grund, warum ich dieses Album hier so schätze, ist die Tatsache, dass es den „alten“ 4AD-Sound einfängt, aber gleichzeitig etwas Neues einläutet.
Christian: Das klingt für mich sehr schlüssig.
Thaddeus: Das ist wie ein Strich unter einer Epoche. Ich empfinde alle Versionen auf dieser Platte als 100 % legit. Gar nicht kitschig, gar nicht vom Weg abgekommen, sondern – wie ich vorhin schon schrieb – als sehr, sehr würdevoll und – Alter! – glaubwürdig. Ich werde gerade ein bisschen emotional. Sorry, guys!
Kristoffer: Das ist okay, ich habe hier mit Begräbnismucke den Auftakt gemacht. Ich wünschte nur, ich könnte da mitgehen beziehungsweise -fühlen. Klappt aber nicht. Schade! Anstecken lassen, hust hust, konnte ich mich allerdings von Asmus Tietchens – Christians sehr zeitgeistigem Vorschlag für den Remote-Roundtable.
Asmus Tietchens – Seuchengebiete (A-Mission)
Christian: Bei „Seuchengebiete“ von 1985 springen bei einigen vielleicht Industrial-Assoziationen an, und das ist ja auch nicht ganz falsch, denn beim Industrial ging es ja auch oft ums Material. Bei Tietchens fehlt jedoch der, nunja, weltanschauliche Ballast und das gewollt Düstere. Es ist ein viel strengeres Arbeiten am Material, in diesem Fall ist es Wasser – und im Umgang damit geht es weniger um das Erzeugen des berühmten Kopfkinos, sondern eher um Klang-Anordnungen. Und das macht die Musik paradoxerweise auch sehr leicht. Gleichzeitig – dieses Wort finde ich bei Tietchens sowieso eine total wichtige Vokabel, weil da immer sehr viel zugleich anwesend ist – ist Tietchens aber auch keiner, der irgendwie in der klassischen E-Musik-Nische säße. Er hätte ja auch einzelne Wassertropfen unter sich verändernden Parametern aufnehmen und das quasi als Klangstudie dokumentieren können. Man hätte dann vielleicht etwas über Wasser erfahren oder wenigstens über dessen Frequenzspektrum. Aber Tietchens ist eben ein kauziger, humorvoller Klangforscher. Das Source-Material für „Seuchengebiete“ hat er im Waschbecken seiner Studio-Toilette aufgenommen. Und dann schreibt er nachher „Höhlenforschung beginnt daheim“ aufs Backcover, in Fraktur-Schrift wohlgemerkt, also gewissermaßen dann doch so ein kleiner Industrial-Move.
„Hier klingt und schwingt es, da kann ich drin versinken und draus trinken. Toll!“
Kristoffer: Ich fand das in musikalischer Hinsicht überhaupt gar nicht Industrial, sondern sehr Ambient- und Noise-nah, Klangkunst aus dem neugierigen Bereich. Es erinnert mich an die ruhigeren Alben von Aube, die jener Mitte der neunziger Jahre produziert hat. Aube ging immer von nur einer – wortwörtlich, nicht selten handelte es sich um Wasser – Soundquelle aus. Ich mag dieses Album auch über die bloße Assoziation hinaus sehr, sehr gerne. Ich bin generell aber auch extrem offen für jede Art von Musik, die gar nicht mehr als bloßes Geräusch zu sein versucht. Hier klingt und schwingt es, da kann ich drin versinken und draus trinken. Toll! Tietchens ist auch so jemand, mit dessen Gesamtwerk ich mich bisher kaum beschäftigt habe, jetzt aber will ich zumindest seine „Hydrophonie“-Arbeiten nachholen – hier gibt es Teil zwei und fünf zu hören, wo kriege ich die (mindestens drei) anderen nun her?
Christian: Kann ich dir ja mal, äh, ausleihen. Was ich toll finde bei den „Seuchengebieten“ ist dieser Spagat aus klanglicher Abstraktion des Ausgangsmaterials bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung eines sehr konkret bleibenden, räumlichen Environments. Also beispielsweise durch den Einsatz von Hall und so. Da bleibt ein Raum erhalten, beziehungsweise es wird einer geschaffen.
Thaddeus: Ich habe das Album mit großem Interesse mehrmals gehört – und werde das bestimmt auch noch viele Male tun. Asmus Tietchens habe ich einfach nicht auf dem Zettel. Ich glaube, ich habe ihn mal live gesehen – das muss so Anfang der 1990er-Jahre gewesen sein. Ich erinnere die Performance null, aber allein die Tatsache, dass ich mich daran erinnere, ihn mal gesehen zu haben, sagt ja schon etwas aus. Für mich ist das auch gar nicht Industrial, sondern vielmehr ein interessanter Kosmos, den er hier mit was auch immer für Mitteln aufmacht und durchexerziert. Trotz der metallenen Grundstimmung, ist das ja ein stetes Auf und Ab, eine kleine schöne Sound-Reise, die mit persönlich sehr gut gefällt, nicht zuletzt aufgrund der bassigen Akzente, die er immer wieder einbaut. Diese bieten mir die angemessene Kontextualisierung, wobei ich gar nicht weiß, ob er das so wollte. Das ist bei jemandem, der Stand heute mindestens 119 Alben veröffentlicht hat, vielleicht auch gar nicht so wichtig.
Kristoffer: Wo wir bei Erinnerungen sind: Thomas Bücker vom Bersarin Quartett erzählte mir mal von einem Auftritt Tietchens’, bei dem dieser nur eine CD eingelegt und dann sein eigenes „Set“ von einem Stuhl auf der Bühne miterlebt hat. Das fand ich wahnsinnig konsequent und auch einfach hammerwitzig. Genauso wie der Titel „Zu viele dicke Kinder“, der mir immer als erstes einfällt, wenn von ihm die Rede ist. Und tatsächlich: Die LP, auf dem der drauf ist, erschien bei Discos Esplendor Geometrico. Da sind wir mit der Label-Heimat schon eindeutiger im Industrial-Bereich. Nur hier will mir die Zuschreibung wirklich nicht einleuchten.
Christian: Schon wegen dieses Humors – gerade auch in den Titeln (sehr gut zum Beispiel „Bockwurst À La Maîtresse“) – ist mir auch schleierhaft, warum Tietchens besonders in den 80ern oft als Industrial rezipiert worden ist. Das hat vielleicht aber auch damit zu tun, dass viele seiner Hörer*innen – das ist jedenfalls mein Eindruck – mit einem Popkultur-Hintergrund ausgestattet sind. Und dann wären wir wieder bei Genres als Hilfskonstruktion zur Einordnug von Musik. Tietchens selbst hat seine Arbeit übrigens einfach als atonale Musik beschrieben.
Kristoffer: Gutes Stichwort. Ich sehe da, wenn ich gerade bei Discogs bei Discos Esplendor Geometrico den Backkatalog anschaue, vor allem eine Nähe zu Teilzeit-Labelmate Conrad Schnitzler. Die beiden kannten und mochten einander ja auch. Was für Schnitzler gilt, scheint mir hier auch Richtschnur: Sound als Ereignis. Aber eben im Langstreckenformat, als Reise, wie Thaddi treffend meinte. Einmal um die Spüle rum und zurück. Ich bin wirklich sehr begeistert, das will ich beim nächsten Quarantäne-Nachtspaziergang auf den Kopfhörern haben. Wo wir da gerade schon wieder ankommen: Weißt du, wieso dieser Titel draufsteht? Mit Wasser hat der ja nun nicht wirklich etwas zu tun, oder?
Christian: Nein, weiß ich leider nicht. Vielleicht hat das etwas mit der Toilette zu tun? Aber für Corona-Zeiten empfehle ich zum programmatischen Weiterhören noch die Alben „Musik Im Schatten“ und „Spät-Europa“.
Kristoffer: „Spät-Europa“ habe ich hier sogar, das andere musst du mir glaube ich auch, äh, ausleihen!
Thaddeus: Das ist ja das Schlimme, oder? Die Sachen von Tietchens gibt es einfach nicht. Nicht mal Bandcamp. Das ist eine Art der Verweigerung, die ich nicht unterstütze. Einfach voll schade. Getreu dem Motto: Heute Geheimtipp, morgen auch. Bäh!
Christian: Man muss tatsächlich alte CDs kaufen.
Kristoffer: Na, zumindest liegt die letzte Vinyl-On-Demand-Box schon eine Weile zurück und tatsächlich wird das Label wohl 2021 eingestampft, weshalb die große 119-LP-Retrospektive mit Tietchens-Starschnitt dort zumindest nicht zu erwarten sein wird. Aber vielleicht hilft Bureau B ja aus? In deren Dunstkreis hatte sich Tietchens vor einer Weile noch bewegt.
Christian Jetzt wird es endgültig nerdig, aber ich glaube Bureau B haben sich vor allem um seine „Pop-Platten“ gekümmert, die in den 80ern bei Sky Records erscheinen sind. Ansonsten hilft aber auch der aufabwegen-Mailorder, bei deren Label Tietchens auch nach wie vor veröffentlicht. Die haben es aber leider auch nicht so mit digitalen Formaten.
Thaddeus: Hören wir also schamlos auf YouTube nach und kümmern uns einen Scheiß um die Royalties der Künstler. Gutes Schlusswort.
Kristoffer: Nee, ich google jetzt einfach mal dessen Telefonnummer und dann gründen wir ein Reissue-Label, extra für ihn! Das fände ich als Fazit noch besser.
Thaddeus: Bitte, mach das. Ruf mich an, wenn du Rat brauchst, aber ich bin aus dem Label-Business forever raus.