Rewind: Klassiker, neu gehörtMassive Attack – Mezzanine (1998)
29.8.2018 • Sounds – Gespräch: Thaddeus Herrmann, Martin RaabensteinMassive Attack gelten als TripHop-Ikonen. Die Musiker aus Bristol legten gut vor: Ein kuddelmuddeliges Kollektiv von DJs und Beatmakern produzierte mit „Blue Lines“ und „Protection“ zwei Alben, die sich in das gemeinschaftliche Gedächtnis der Popkultur eingebrannt haben – nicht nur wegen der zahlreichen Features von der Reggae-Legende Horace Andy oder Tracey Thorn, einer der besten Sängerinnen der Welt. 1998 – vor 20 Jahren – wendete sich das Blatt: Die LP „Mezzanine“ steht für einen radikalen Wandel im Sound des Projekts. Düster-schimmernd – und ohne Tricky – setzt die Band die kommerziell erfolgreichsten Akzente ihrer Karriere. Aber wie passt dieser Entwurf in die Geschichte von Massive Attack? Ein Aufbruch zu neuen Ufern oder doch nur musikalische Ratlosigkeit, verpackt in rockige Downbeats? Ist die „Unfinished Symphony“ von 1991 endgültig ausgeträumt? Martin Raabenstein und Thaddeus Herrmann hören das Album 20 Jahre später durch, schwärmen und schwofen zu den großen Singles der Platte und stellen die Frage aller Fragen: Ist Nostalgie tödlich?
Martin Raabenstein: „Mezzanine“, schöne Erinnerungen an das auslaufende, letzte Jahrtausend. Dark, kräftig und ohne das Tricky-GnaGnaGna. Herrliches Highlight das, Herr Herrmann, oder nicht?
Thaddeus Herrmann: Ja, so halb. Bei mir ist es so: Die beiden ersten Alben des Projekts – „Blue Lines“ und „Protection“ – finde ich von A-Z fantastisch. Das sind super Songs, die dazu noch super sequenziert sind. Die Platten funktionieren wie ein DJ-Mix. Hier, auf „Mezzanine“ ist alles etwas anders. Zuerst hat sich das Projekt im Sound gewandelt. Dazu sprechen wir später bestimmt noch. Vor allem aber wird die starre Darreichungsform aufgebrochen. Und diese Tatsache ist dafür verantwortlich, dass ich keine ganz eindeutige Haltung zu diesem Album habe. Das geht alles wunderbar los – mit „Angel“ und dem wunderbaren Horace Andy, der ja auch schon auf den ersten beiden Alben dabei war, und natürlich „Teardrop“ mit der unfassbaren Elizabeth Fraser. Aber es zerfasert danach ein wenig. Meinem Empfinden nach gelingt es nicht, den Spannungsbogen zu halten. Und auch wenn nur elf Tracks drauf sind – vollkommen im Rahmen –, kam es mir beim Durchhören einfach unglaublich lang vor. Also: Das nicht auf den Punkt kommen wollende Album hört auch einfach nicht auf.
Martin: Ich bin mir nicht sicher, ob die beiden Vorgänger besser sind, ich finde sie einfach anders, eben aus ihrer Zeit kommend – frischer. Alle drei Alben bilden bei mir aber eine Reihe, eine logische Abfolge, eine Trilogie. Nach „Mezzanine“ ist dann auch Schluss mit TripHop, aus eben diesem Grund ändert sich möglicherweise der Sound. Die Klarheit weitet sich, weicht einer Suche, die bei einigen Tracks kräftig verschnupft am Ziel vorbeischnüffelt. Was 1991 noch frisch unter diesem Genre gehandelt wurde, steht da vor dem unausweichlichen Ende seiner eigenen Geschichte.
„Hier ziehen nicht mehr alle am gleichen Strang, bzw. können das Zerren in unterschiedliche Richtungen nicht mehr so gut kaschieren.“
Thaddeus: Ich weiß bis heute nicht, was TripHop sein soll bzw. sollte. Ich kann aber insofern mitziehen, als dass ich nach diesem Album hier nichts mehr von der Band gehört habe – bis zu den neuen Tracks, die so vor zweieinhalb Jahren rauspurzelten und ja auch wieder ganz gut waren. Aber egal. Den Trilogie-Gedanken kann ich auch nachvollziehen bzw. ich kann diesen Weg mitgehen. Die drei Album sind ja eigentlich eine ordentlich krude family affair, während der man immer auch ein bisschen zu nah dran war. Es rumpelte immer wieder unter den Mitgliedern, auch jenseits von Trickys Weggang und Rückkehr. Diese Auseinandersetzungen interpretiere ich natürlich auch in den musikalischen Rundbogen dieses Albums. Hier ziehen nicht mehr alle am gleichen Strang, sie können das Zerren in unterschiedliche Richtungen nicht mehr so gut kaschieren. Genau deshalb ist die Platte für mich nicht mehr so rund die die davor. Mit dem „Rockigeren“ im Sound komme ich mittlerweile sogar hervorragend klar. Ich mag auch die Düsternis und diese wogende Dringlichkeit einiger Tracks. Es balanciert sich aber nicht mehr so gut aus wie früher.
Martin: Auch die feinst gehäkelte Dystopie leiert irgendwann aus und klemmt sich im Reisswolf der Zeit den Schwanz ein. Die Kollegen von Archive hingegen, 1996 gestartet, sind der Selbstverfilzung deutlich besser entschlüpft, oder nimm LCD Soundsystem, die Band hat den Massive'schen Faden sehr intelligent weitergesponnen. Eigentlich hätte diese Zitrone durchaus noch Saft gehabt, vielleicht aber waren Massive Attack einfach des Pressens müde. Zurück zum Album, auch wenn du die Kappe TripHop nicht magst, das Genre hatte immer diesen gewissen Light-Beigeschmack, Easy Listening für sonnenscheue Hoodie-Träger hinter – hihi – Sonnenbrillen. Da schubbelt sich über eine gewisse Zeit die Ermüdung ein Loch in die Baumwolle, ganz egal wie tight die Produktion noch sein mag. Deine Ablehnung des Begriffes TripHop hat aber wohl nichts mit dieser Ermattung zu tun. Was reitet dich da?
„Bristol. Die musikalischen Eigenarten dieser Stadt haben bei mir auch nie wirklich klick gemacht – ich war immer eher in Manchester.“
Thaddeus: Ich lehne den Begriff nicht ab, ich weiß einfach nicht, was er bedeuten soll. Hiphoppige Downbeats mit mehr Gesang als Rap und dazu Streicher? Reicht mir nicht als Definition für ein Genre, dessen Namen sich irgendein druffer Journalist ausgedacht hat – auch wenn das Wort natürlich eng mit dem Sound aus Bristol, also der Heimat von Massive Attack, assoziiert wurde. Die musikalischen Eigenarten dieser Stadt haben bei mir auch nie wirklich Klick gemacht – ich war immer eher in Manchester. Vor 400 Jahren habe ich mal Roni Size interviewt und fragte ihn, was denn der Unterschied zwischen London und Bristol sei. Er sagte: „120 Miles“. Auch ein bisschen dünn irgendwie.
Ich finde übrigens nicht, dass die Musik von Massive Attack je dystopisch war – dafür ist sie dann doch zu gefällig, was nicht negativ gemeint ist. Hier allerdings überrollt uns dann über längere Strecken eine bislang so nicht existente Darkness, mal mehr, mal weniger gut integriert und abgefedert, leider stellenweise dann gleich auch ein bisschen überrissen. Da ich mich mit LCD Soundsystem leider überhaupt nicht auskenne und auch die meisten anderen DFA-Releases für mich nicht wirklich relevant waren, kann ich an dieser Stelle leider nicht mit dir ins Flugzeug von Bristol nach New York steigen für den direkten A/B-Vergleich. Dystopisch? Nein. Utopisch? Nennen wir es vielleicht eher das Positivistische. Und das trifft sich doch ganz gut mit deiner TripHop-Definition als Leichtigkeit. Nun müssen wir nur noch ergründen, warum dieser einmal um die eigene Achse gedrehter Sound-Kosmos plötzlich so unerwartete Leerstellen aufweist.
Martin: Ich denke, da hat jemand zu oft die gleiche Stelle operiert. Aufschneiden, umordnen, wieder zunähen und noch mal von vorne. Die Veröffentlichung von „Mezzanine“ war ursprünglich schon für 1997 geplant, wurde aber weiter und weiter nach hinten verschoben. Manchen Produktionen bekommt das, diesem Produkt wurden fortgesetzt die Ecken abgeschmirgelt und dann erneut angesetzt. Das Symptom kennst du bestimmt von anderen Baustellen auch.
Thaddeus: The thrill is gone, the groove is gone, the soul is gone. Selbst der gute Horace Andy klingt – von „Angel“ mal abgesehen – zwar stimmlich brillant, fühlt sich aber offenbar in den Songs nicht sonderlich wohl. Ist ja auch kein Wunder, wenn er sich bei „Man Next Door“ zu einer Adaption von The Cures „10.15 On A Saturday Night“ ans Mikrofon stellen soll. Meine Meinung zu diesem Album wird mit jeder Minute klarer: Eine EP hätte es auch getan. Natürlich nur, wenn das Outro mit von der Partie ist: Denn wie sich Horace Andy hier selber referenziert und sein „See A Man’s Face“ eben nicht covert, ist schon sehr charmant.
Martin: Massive Attack waren in der Hype-Falle, da ist man zweifellos zu solch einer Selbsterkenntniss und Beschneidung nicht in der Lage. Das Nicht-loslassen-Können ist nur in den seltensten Fällen ein Qualitätsgarant.
Thaddeus: Aber sie lassen ja los. Und das führt zu dieser Irritation. „Teardrop“. Das eben erwähnte Outro. Das sind Tracks, die ja den Geist der ersten beiden Alben atmen. Hier funktioniert das Prinzip Massive Attack noch, an dem die Musiker aber offenbar selber kein Interesse mehr hatten oder es hinter sich lassen wollten. Das kann man verstehen und nachvollziehen, sie haben dann nur die falsche Abzweigung erwischt.
Martin: Du meinst, Massive kann einfach nur Massive, der Monolith ist nicht wachstumsfähig? Auch hier sind sie bestimmt nicht die Ersten oder Letzten. Bevor wir aber jetzt noch mehr in die ohnehin löchrige Scheibe bohren – bildet „Mezzanine“ nicht auch für dich, zumindest in den Hits dieses typische 90er-Gefühl ab? Oder ist Nostalgie einfach nur tödlich?
Thaddeus: Aber nein. Und natürlich ist die Band wachstums-, vor allem aber wandlungsfähig. Vielleicht ist das ja das eigentliche „Problem“. Massive Attack haben das stilprägende Element des Features ja praktisch erfunden. Das führte vielleicht zu einer schizophrenen Sinnsuche. Wer sind wir und vor allem wie viele? Dabei kann man sich schon mal verlieren und nicht wiederfinden. Nun muss ich zu meiner Schande gestehen, dass ich den Nachfolger überhaupt nicht im Ohr habe, ergo auch nicht weiß, wohin die Reise dort ging. Aber wie ich eingangs schon erwähnte: Die EP von vor zwei Jahren – die war wirklich okay. Selbst Tricky ist zurück und macht nur die Klappe auf, wenn er soll. Wir geben die Hoffnung also nicht auf und erfreuen uns lieber an den großen Momenten, die das Album ja trotz aller Abstriche hat.
Martin: Jaja, Deep Purple 2016 fast wieder in der 1973er-Besetzung. Ober, einen Schnaps bitte, aber schnell.
Thaddeus: Coming right up!
„Das Thema hatten wir schon mal: Warum ist das kreative Zeitfenster in der U-Musik so kurz?“
Martin: Es gibt nur sehr wenige Musiker oder Bands, die mich in meinem Leben durchgehend begleitet haben, irgendwann war sie dann immer aus, die Maus. Das Thema hatten wir schon mal: Warum ist das kreative Zeitfenster in der U-Musik so kurz? Die E-Kollegen scheinen mit und an der Zeit zu wachsen, lassen wir die Modern-Classic-Vertreter mal außen vor.
Thaddeus: Die müssen ja auch nicht zu Top Of The Pops.
Martin: Meine Tödliche-Dosis-Nostalgie-Frage war ernst gemeint. Entwickeln wir bei all diesen Jubiläums-Reviews ein wirkliches, zweites (Wieder)hören oder leiern wir nur unsere festgezurrten Vorlieben von Damals runter?
Thaddeus: Da gilt es noch feiner zu unterscheiden. Wir können uns ja – wenn es wieder kalt ist – mal einen Nachmittag hinsetzen und unsere früheren Rezensionen daraufhin überprüfen. Ich habe eine Ahnung, was wir dabei entdecken werden: Dass es Alben gibt, die uns so geprägt haben – warum auch immer –, dass sie immer noch genauso funktionieren und ihre Relevanz nicht verloren haben, und andere, die man heute anders hört und wahrnimmt. Über die Gründe könnte man nun natürlich streiten oder sie analysieren. Das ist aber ob der ganz persönlichen Interpretation meiner Einschätzung nach nicht sonderlich zielführend. Ich halte dich übrigens für den unnostalgischeren Nostalgiker von uns.
Martin: Das weißt du doch ganz genau, die mich prägenden Alben kann ich hier mit dir gar nicht besprechen, da springst du immer in den spontanen Dyslexie-Modus. Bevor wir hier völlig im privaten Partykeller abtauchen, was ist denn dein Massive-Attack-Liebling?
Thaddeus: „Home Of The Whale“. Und deiner?
Martin: „Unfinished Symphathy“, mein Erstkontakt mit dem Projekt. Das Video auf MTV. Große Bestäubungskompetenz. Unvergessen.