Rewind: Klassiker, neu gehörtGodspeed You Black Emperor! – F♯ A♯ ∞ (1997)
8.11.2017 • Sounds – Gespräch: Thaddeus Herrmann, Martin RaabensteinEine der wichtigsten Gitarrenbands der Neuzeit veröffentlichten 1997 ihre vielleicht wichtigste Platte. Wobei: Band ist bei Godspeed You! Black Emperor eigentlich das falsche Stichwort. Das kanadische Kollektiv zog und zieht auch heute noch in Kammerorchester-Größe mit stetig wechselnder Besetzung durch Studios und Konzerthallen. Phänomenal orchestriert, arrangiert wie ein DJ-Mix, verwurzelt in der prekären Realität der Weltpolitik und randvoll mit musikalischen Ideen, die noch heute zur Standardausstattung vieler Bands gehören, begründete die Gruppe mit diesem Album ihren ganz eigenen Sound aus Rock, Drone, Prog und Sampling-Ambient, der seither kontinuierlich bei Godspeed und in anderen Projekten weiter entwickelt wird. Und 20 Jahre nach der Veröffentlichung immer noch den gleichen Eindruck hinterlässt? Martin Raabenstein und Thaddeus Herrmann friemeln das Vinyl aus dem Goodiebag-Cover und schweben mit.
Martin Raabenstein: Siebziger und Neunziger, aus meiner Sicht die wahrhaft innovativen Jahrzehnte der Musikgeschichte. „F♯ A♯ ∞“ öffnet wunderbare neue Türen, eine nicht enden wollende Melange aus bis dato unvereinbar erscheinenden Styles. Vor allem die Prog-Rock-Anklänge müssten dir doch die Schuppen aus den Achseln wischen, oder?
Thaddeus Herrmann: Ich habe mich dieser Platte aus einer ganz anderen Position heraus genähert, weil – wie du schon richtig erkannt hast und weißt – Prog in meinem Leben nie eine Rolle gespielt hat. Aus meiner verpoppten Indie-Perspektive war dieses Album außerordentlich interessant. Weil ich mich zu diesem Zeitpunkt auch noch nicht wirklich mit dem, was dann später Post-Rock oder so ähnlich genannt wurde, auseinandergesetzt hatte. Das war also schon neu. Label? Kannte ich nicht. Leute? Kannte ich nicht. Ich mochte vor allem die darken, ruhigen Passagen. Wie das schon losgeht: „The car is on fire, and there's no driver at the wheel, And the sewers are all muddied with a thousand lonely suicides, And a dark wind blows.“ Das ist heute noch genauso. Ist schon ein wilder DJ-Mix.
Martin: Das Album wuscht so schnell durch, ist irgendwie nicht greifbar. Wie bei den meisten Kultobjekten schwirren da Trilliarden von inhaltsschweren Assoziationsmücken drüber. Ob hier Twin Peaks durchschimmert, der erwähnte Prog-Violinenpart dort dagegenwimmert und Country auch noch sein Schleifchen darüber dreht. Lauscht man dem eben Gehörten noch nach, dreht schon der nächste, gegensätzliche Part seine Pirouetten. Es wäre möglich, aber nicht unbedingt ratsam, sämtliche hier vertretenen Genres aufzuzählen. Was bleibt, ist das Ungreifbare, die Hundert-Schichten-Lasagne im wahrsten Sinne. Ich kann mir in meiner unendlichen Comic-Galaxie im Schädel umgehend die Augenbrauen 1997 vorstellen, wie sie in die Höhe schnellen und mit dem Haaransatz verwachsen.
Thaddeus: Weil es ja tatsächlich auch in aller Hin- und Hergerissenheit erstaunlich homogen und geplant wirkt. Und das, obwohl zumindest mir nicht klar ist, wo die musikalische Ausgangsposition liegen könnte. Sind das nun Rocker, Gruftis, Esos oder Progger?
Schleifen und Schlieren
Martin: Ich denke, das ist zunächst einmal egal, wichtiger erscheint mir die vielschichtige Lesbarkeit. Ich weiß leider nicht, ob der Aufnahme des Albums ein Masterplan zugrunde lag oder ob das zu dieser Zeit 15-köpfige Musikerkompott einfach einen 5-Sterne-Run mit ihren Improvisationen hatte. Wäre dem so, meine Verneigung erlebte locker das Jahr 2018. Dazu noch diese nicht enden wollende Schleifenbildung, „F♯ A♯ ∞“ funktioniert wie ein Nachbild im Auge. Der Track ist schon drei Takte weiter, aber dein Hirn loopt noch in dem vorhin Gehörten.
Thaddeus: Schlieren zieht die Musik tatsächlich. Und auch die vielschichtige Lesbarkeit finde ich ein ganz entscheidendes Stichwort, weil sich genau die meiner Erinnerung nach Schritt für Schritt aus dem Sound der Band verabschiedet hat. Ich dachte noch bis vor wenigen Tagen, dass wir eine ganz andere Godspeed-Platte hören würden, nämlich die „Slow Riot For New Zero Kanada“. Die ist nämlich schon deutlich fokussierter. Egal wie man das jetzt findet. Diese hier, die ist schon immer noch sehr gut, klingt aber aus heutiger Sicht stellenweise ganz schön banal, muss ich sagen. Ist ja aber auch ein Frühwerk. Ich höre das hier und da, man sieht es aber auch. Denn das Ausrufezeichen im Band-Namen sitzt auf diesem Album noch ganz hinten, später wurde es nach vorne verschoben: „Godspeed You! Black Emperor“. So oder so: Viele Passagen der Platte fielen auf sehr fruchtbaren Boden und haben die Welt der Gitarrenmusik ordentlich durchgeschüttelt. Sehr gut.
„Was ich an diesen Tracks so erstaunlich finde, ist nicht nur die Vielfalt, sondern auch das Arrangement, die das Ganze klammernde Konstruktion.“
Martin: Lass uns nicht die Banalitäts-Klatsche anfassen, da waren wir schon, das funktioniert mit unserem unterschiedlichen Background nicht wirklich. Wir hatten in unserer Runde schon mehrere Platten, die zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung eher für ein kleines Lichtlein sorgten, deren Folgewirkung aber enorm war. Unter all diesen bisher besprochenen Releases ist dieser Longplayer der extremste. Ein guter Vergleich hierzu ist das Werk von Beuys. Dessen Nachfolger zogen und ziehen heute noch ganze Lebenswerke aus der Essenz einer einzelnen Arbeit des Meisters. Was ich an diesen Godspeed-Tracks so erstaunlich finde, ist nicht nur die Vielfalt, sondern auch das Arrangement, die das Ganze klammernde Konstruktion. Dabei scheint mir wirklich zweitrangig, ob dafür ein genialer Tüftler zeichnet, der aus Millionen Streichhölzern in mühsamst jahrelanger Kleinarbeit einen zwei Meter hohen Eiffelturm zusammenkleistert oder ob ihm dies so einfach mal aus dem Ärmel purzelt.
„Das Gestückelte der Musik schreibt sich in der Darbietung fort.“
Thaddeus: Der Raabe, ein Fanboy! Bei allem anderen: unbedingte Zustimmung meinerseits. Das „Banale“ meinte ich auch gar nicht despektierlich, das sind eher Details, die mir beim erneuten Hören plötzlich auffielen und nicht wirklich in die Größe der Platte passen. Aber es ist ja eben eine Aneinanderreihung von Skizzen, die in ihrer Gesamtheit zu einem fulminanten Ganzen werden. Dieses Gestückelte der Musik schreibt sich ja auch in der Darbietung fort. Das Cover mit Prägedruck, gleichzeitig aber von Hand beschrieben und mit einem Foto beklebt. Innen ein wildes Sammelsurium aus kopierten Zetteln, ein schöne Siebdruck und ein plattgewalzter kanadischer Penny. Einmal alles, bitte.
Anarchie auf der Fahne, Schluss mit Banane
Martin: Tja, großes Schaudern hier. Die Vorstellung für diese Erstveröffentlichung fünfhundert Mal auf einen Zug warten zu müssen, um diesen beiliegenden Penny platt zu machen, holy cow, da fehlt mir einfach die Geduld.
Thaddeus: Bei aller Realness hatten die bestimmt einen Automatix dafür. Was anderes: Godspeed ist ja auch eine politische Band. Mit gerade später unklaren Auswüchsen, die ich unter keinen Umständen diskutieren will, auf so dünnem Eis fühle ich mich nicht wohl, aber die Titel der Tracks und späterer Platten, das Spiel mit Samples und Field-Recordings – all das zielt ja auf die Realität Nordamerikas. Passt das Plattwalzen von Geldstücken da mit rein? Immerhin sangen die später ja so Sachen wie „Let’s first kill the bankers, let’s televise the raping of kings“. Schon ein bisschen prätentiös, aber eben auch sehr passend zum Habitus der Band. Einmal habe ich die live gesehen, das war meiner Erinnerung nach 2000 oder 1999. Danach war alles gesagt. Wie eine Messe, nach der man sofort Mitglied in dieser Sekte werden wollte, um ganz schnell die Weltregierung zu stürzen.
Martin: Ich bin auf Godspeed erst viel später gestoßen, die waren in den Neunzigern nicht auf meinem Schirm. Diese Musik kam bei mir erst viel später an, als Vorläufer der Modern-Classical- Szene. Ich höre mir dann diesen sogenannten Klassiker wie Neuware an, das funktioniert nicht immer, aber in diesem Falle: Gebissrunterfall aus 20. Stockwerk. Dabei wird dann sehr schnell klar, wie diese Verwebung aus Score, Classical, Dark, Drone den Nachgängern den Weg bereitet hat. Ich ziehe jetzt mal wieder meine gedanklichen Querbalken ein und sage: Punk, Garage und dann diese Welt hier. No Future als musikalisch in den jeweiligen Jahrzehnten verwobener, goldener und in diesem Falle eher rostiger Faden. Nichts geht mehr. Da ist es dann nicht verwunderlich, dass die Godspeeder bei einer Tour als vermeintliche Terroristen vom FBI aus ihrem Bus gezerrt wurden. Anarchie auf der Fahne, Schluss mit Banane. So macht man das mit zotteligen Kanadiern „on the road“, auf amerikanischem Terroir. Seattle ist auf der anderen Seite der Grenze und Vancouver auf der anderen Seite des Kontinents, aber: Nach dem Nirvana’schen Cobain-Endkoma sitzt hier ein weiterer, zwar nicht musikalischer aber inhaltlich vergleichbarer, destruktiver Nagel im Fleisch, meinst du nicht?
„Hier kommen die großen Fragen und die grundlegenden Probleme auf den Tisch, in kleinen Snippets und kodierten Hinweisen.“
Thaddeus: Das kann gut sein. Ich versuche mich gerade zu erinnern, wie meine Stimmung so 1997 war. Notorious B.I.G wird erschossen, Herzog hält seine Ruck-Rede, Hongkong fällt an China, Bill Clinton wohnt im Weißen Haus und tatsächlich wird in Kanada gewählt, aber da war die Platte bestimmt schon fertig. Es sind schon die großen Fragen und die grundlegenden Probleme, die hier in Snippets und kodierten Hinweisen auf den Tisch kommen. Die kann man immer als Platitüden vor sich hertragen oder aber man ist glaubwürdig dabei und verhält sich auch angemessen. Godspeed waren mehr als angemessen. Womit die nun tagtäglich so borderlinen gegangen sind: Weiß ich nicht. Aber mir scheint das schon echt.
Martin: Aus meiner europäischen Sicht fällt mir eine klare Trennung zwischen Kanada und den USA schwer, man möge mir verzeihen, wenn ich hier vermeintlich Unvereinbares in eine Topf schmeiße. Für mich war und ist Nordamerika ein klares Schwarz-Weiß-Klischee. Du sitzt im Dreck oder im Speck. Wobei dem Dreck, im übertragenen Sinne, der Protest gegen das eigene Darniedergeworfensein, logischerweise das höhere musikalische Potenzial innewohnt. Da geht dann der Happy-Hour-Madonna-Spice-Girls-Kanye-West-Kuschelkram einfach mal kacken.
Thaddeus: Bis einen die Schwere der Realität dann irgendwann final übermannt.
Martin: Nimm das: „Herr Doktor, Herr Doktor, ich habe so Knopfschmerzen! Tja, da hilft nur eine Scherztablette.“