Rewind: Klassiker, neu gehörtDepeche Mode – Music For The Masses (1987)
19.7.2017 • Sounds – Gespräch: Thaddeus Herrmann, Martin RaabensteinDer Titel ist Programm: Mit „Music For The Masses“ wurden Depeche Mode endgültig zum Phänomen der Popmusik. Die sechste LP der Band streicht auch das letzte bisschen Teenie-Gekreische aus dem Sound, „Never Let Me Down Again“ ist einer der größten Hits ihrer Geschichte überhaupt und ganz Amerika lag fortan Martin Gore, Dave Gahan, Andrew Fletcher und Alan Wilder zu Füßen. Ist „Music For The Masses“ nun ein prägendes Stück der Musikgeschichte? Thaddeus Herrmann ist als Fanboy vorbelastet, findet an der Platte aber dennoch Makel. Und Martin Raabenstein spricht von der vulgären Banalität des Mittelmaßes. Der musikalische Retro-Roundtable ist in den 1980ern angekommen.
Thaddeus Herrmann: Da ich ja weiß, wie sehr du meine Lieblingsband magst, ordne ich dieses Album zunächst mal ein. „Music For The Masses“ ist die Platte, die die Band final groß machte. Wäre Depeche Mode eine Firma, wäre das Album ihr Börsengang. Am Ende der angeschlossenen Welt-Tournee spielten sie vor 4.576 Millionen Menschen im Rose Bowl in Pasadena. Die Platte war vor allem für den Durchbruch in den USA entscheidend. Das ist interessant, weil ich zumindest gar nicht so recht nachvollziehen kann, warum es gerade diese Songs sein mussten. Als Album nehme ich das heute doch eher unentschieden war. Hier finden sich zwar einige der größten Hits der Band – allen voran natürlich „Never Let Me Down Again“, aber auch „Strangelove“ und „Behind The Wheel“, dann sind hier aber auch Tracks drauf, die so gar nicht ins Bild einer Hit-Platte passen wollen. Dazu kommt, dass gerade „Strangelove“ und „Behind The Wheel“ in wirklich schlechten Versionen auf dem Album sind. Warum? Weiß man nicht. Aber: Es ist dennoch eine bemerkenswerte Platte. Es ist die erste, die die Band nach vielen Jahren nicht mehr in Berlin gemischt hat. Es ist auch die erste Platte, die nicht mehr vom Label-Boss Daniel Miller produziert wurde. Zum ersten Mal hört man Gitarren auf mehr als einem Track. Es ist auch der Beginn der „Dance-Remixe“, „Behind The Wheel“ wurde von den Beatmasters gemixt und im Zuge der Veröffentlichung gibt es auch die erste Cover-Version ever der Band: „Route 66“. So. Pause. Wie findest du die Platte denn so?
Martin Raabenstein: Wenn man Musik für die Massen macht, kann man natürlich auch erwarten, dass diese Massen brav ihr entsprechendes Gadget schwenken. Früher konnte man mit diesem Tool Zigaretten anzünden, heute ist das Smartphone der Beweis für die Freundin, dass man auf einem Konzert war und nicht bei deren Schwester. Also wedelt man damit. Das fühlt sich an wie WM-Endspiel, nur ohne Fußball. DM sind wie diese Massenveranstaltungen, 1981 aufgetaucht und dann nie wieder gegangen. Als MTV so gegen ’87 anfing, den Fernsehabend zu verzücken, waren sie auch da. Ok. Hier also das Album zu den Clips von damals.
Thaddeus: Das Video zu „Never Let Me Down Again“ ist sicherlich eines der besten, das Anton Corbijn jemals für die Band produziert hat. Das für „Strangelove“ hingegen ist eher mau, das stolziert eine Frau immer nur in High Heels über das Kopfsteinpflaster in Paris. Egal. Gadgets: Meins war zu der Zeit ein Walkman mit Aufnahmefunktion, den schmuggelte ich mit ins Konzert, 9. November 1987, Berlin, Deutschlandhalle. Ich stand in der ersten Reihe, im Vorprogramm spielten Front 242 und dann kurz vor dem Haupt-Act kam ein Sicherheitsmännchen auf mich zu und nahm mir den Recorder ab. Das war doof. Aber: Nach dem Konzert gab er ihn mir wieder. Das würde einem heute auch nicht mehr passieren.
Martin: Ich sehe die Gruppe eher als Phänomen, wie ein Touristenzüglein, der alle Jahre erneut an meinem Urlaubsort an mir vorzeizuckelt. Die Menschen brauchen offensichtlich ihre Hymnen, das liefern die Depeschen zuhauf, und es ist besser man holt sie sich dort, als bei Springsteen. Bei deren erstem Album dachte ich mir - Jesus - wie dünn. Ähnlich wie wenn eine Spinne sich verzupft, wie kann die auf so dürren Beinchen nur so schnell wegrennen? Natürlich haben die Jungs eine Entwicklung hinter sich, so wie Hanni und Nanni in Lederhosen zu Beginn und jetzt - „House of Cards“ als Lego-App. Kann man machen.
Thaddeus: Lego-App? Wie meinst du das?
Martin: „Speak & Spell“ war sowas wie Soft Cell oder die zweite Phase von Ultravox mit Midge Ure. Kindermucke. Und zu „House of Cards“, der Track „Revolution“, nice try, echt, aber das ist doch Politik als Plastik-Baukasten.
Thaddeus: Das habe ich in meiner Rezension genauso geschrieben, du hast vollkommen recht. Den Vergleich mit Soft Cell und die Brücke zu Ultravox finde ich interessant, weil ich die nicht nachvollziehen kann. „Speak & Spell“ ist aus heutiger Sicht natürlich keine gute Platte, sie fällt ja aber eh aus dem Rahmen, weil die Songs fast ausschließlich von Vince Clarke waren, der dann schnell das Weite suchte, um erst Yazoo und schließlich Erasure zu starten. Das Beste, was der Band je passierte, wenn du mich fragst. Das erste Album von Soft Cell hingegen – „Non-Stop Erotic Cabaret“ – war damals schon ein Slammer. Hatte die besseren Songs und nichts mit diesen Kinderliedern von DM zu tun. Ultravox waren ja immer scheiße. Die laufen außer Konkurrenz. Aber: Das Solo-Album von John Foxx nach seinem Ausstieg – „Metamatic“ – ist eine der besten Platten aus dieser Ära. Das könnte man jetzt noch vertiefen, würde zu weit führen. Zurück zu Depeche Mode: Die haben sich danach konstant gewandelt. Dieser Wandel war ein paar Jahre noch in Schieflage, weil ihnen immer wieder Songs auf Platten gerutscht sind, die nicht ins neue Bild und den neuen Sound der Band passte. Letzterer stammt ja auch nicht zwingend von der Band selbst, sondern eher von Produzenten und Engineers wie Gareth Jones. Ab 1986 mit „Black Celebration“ war dann klar, wohin es geht. Und diese Platte hier manifestiert das. Ist halt nur nicht so richtig gut produziert, leider.
Martin: Die ersten beiden Releases von Ultravox waren große Klasse, eine Art Punk für heimliche Roxy-Music-Fans. Nicht ohne Grund hatte der Erstling deren ursprünglichen Sängers Foxx nach dessen Weggang so ein Format. Hör dir mal „I Want To Be A Machine“ oder „My Sex“ auf der ersten Veröffentlichung an, da steckt alles schon drin und das war 1977! Übrigens, wie hast du mich neulich mal genannt? Guido Knopp von ZDF History? Du machst ja gerade eher einen auf „Sendung mit der Maus“.
Thaddeus: Das ist der Martin, der Martin macht Musik, manchmal mit Gitarre, manchmal aber auch mit Synthesizern. Und wie er das macht, zeigt er uns gleich, nach der nächsten Maus. Oh wait, hier sind ja zwei Martins mit dabei. Ich meine schon den Gore.
Martin: Und weil der schöne Musik machen kann, darf der Sänger extatisch mit den Armen wackeln, das machen die Videos so mega authentisch, liebe Kindlein. Ok, Thaddi, schön in die Falle gerannt. Diese Musik für die Massen kann man in drei kurzen Sätzen im Kinderprogramm erklären, weil sie so eingängig, so einfach zu deuten ist. Mit dieser vulgären Banalität des Mittelmaßes kann man einfach nichts falsch machen. Also vorsichtig angeklopft, wo ist hier dein Mehrwert, mal abgesehen davon, dass die Kult-Band deiner feuchten Jugend besprochen wird?
Thaddeus: Ich halte Martin Gore für einen der besten Songschreiber der Gegenwart. Mehr hab ich dazu nicht zu sagen.
Martin: Warum?
Thaddeus: Bauchgefühl.
Martin: Eh. Ich versuch’s mal so rum. Ich komme immer wieder zurück zu den „Massen“. Ich kann verstehen, dass man abfeiert, mit welch einfachen Mitteln hier tief im Teig gerührt wird. 1987 war elektronische Musik für mich durch, genau zu dem zusammengeschrumpft, was du so inspirierend findest. Wenn da überhaupt noch was ging, kam noch ein kleines Restzucken von Cabaret Voltaire oder Chrome. Diese Richtung hatte erst in den frühen Neunzigern mit Warp wieder brodelnde, heiße Kochtöpfe. Die erwähnten Front 242 machten auch noch das eine oder andere Tanzbein freudig erregt. HipHop, das war's zu der Zeit, neu, anders, frisch und so gar nicht zum Wohlfühlen.
Thaddeus: Ich halte die Tatsache, dass Depeche Mode mit Synthesizern Musik machen, aus heutiger Sicht auch eher für einen Zufall, der mittlerweile im Sound der Band auch nur eine von vielen Rollen spielt. Die konnten es einfach nicht besser am Anfang. Auch wenn Gore ja immer schon Gitarre gespielt hat. So findet man dann ein Setup und bleibt dabei. Deinen Einwand mit Front 242 in Verbindung mit den „Massen“ finde ich interessant, weil es genau 1987 war, dass die Belgier zwei Mega-Hits hatten, die alles andere als underground und experimentell oder was auch immer waren: „Masterhit“ und „Quite Unusual“. Der Sound von DM ist im Rahmen der elektronischen Musik zu diesem Zeitpunkt definitv konservativ, da stimme ich dir zu. Schlimm finde ich es dennoch nicht. Das ist eine Popgruppe, die zufällig mit Synthesizern Musik machen. Acid, House, Dancefloor, das fand bei DM nicht statt. Die haben sich von Adrian Sherwood remixen lassen und eben nicht von Juan Atkins. Das kam alles später.
„Nimm dieses ganze Konstrukt raus und übrig bleibt eine Lowtempo-Ballade mit einem Sänger, der um drei Halbtöne rumturnt.“
Martin: Electronic Body Music wollte aber was anderes, „rough“ wird hier Programm, das fließt dann später in die Technotonne. Aber, zurück zum Punkt, DM hätte ohne Synths auch nicht nur eine schlappe Scheibe Wurst vom Brötchen gezogen. Hinzu kommt noch diese erbärmliche 80's Schlagwerk mit dieser Haudruff-Snare: blankes, fröstelndes Schaudern. Nimm dieses ganze Konstrukt raus und übrig bleibt eine Lowtempo-Ballade mit einem Sänger, der um drei Halbtöne rumturnt, und dem simplen Chordwechsel dann genau an der richtigen Stelle. Ergebnis? Mitschunkeln für alle, Lemmingkuscheln. Bevor ich mich wiederhole, alles fein, nur nicht meins.
Thaddeus: Ok, dir sind die Songs zu banal und der Sänger zu schlecht. Das nehm’ ich so hin, da kommen wir nicht zusammen. Wo wir allerdings ganz beieinander sind, ist folgendes: Das größte Problem dieses Albums sind die Drums. Teil der Produktion von David Bascombe, das war die falsche Wahl. 1987 hätte die Band aber schon eine Platte ohne Synths machen können, das wäre kein Problem gewesen. Aber es gab ja schlicht keinen Grund dazu. Die Fans standen ja auf diesen Sound genau wie die Band. Front 242 und DM fingen ja ungefähr zur gleichen Zeit an. Das waren vollkommen andere Sound-Entwürfe, sicher, aber die Drums von Front 242 waren auch immer furchtbar. Dünn wie ein Bindfaden. Das Lustige ist ja, dass Front 242 später Techno noch deutlich mehr missverstanden haben, als es Depeche Mode jemals gelungen ist. Was zu dieser Zeit in Belgien mit New Beat alles ging – das hört man bei Front nicht. Hätten nur mal vor die Tür gehen müssen, waren aber lieber in den USA auf Tour, um sich als Kunst-Soldaten feiern zu lassen. Also: zwei komplett andere Entwürfe, die im gleichen Missverständnis münden.
Martin: Songs banal, Sänger schlecht, so einfach habe ich das dir und mir nicht gemacht. Und zu New Beat sag ich nur – Carlos Perón; von dem geht’s dann flugs weiter zu Dieter Meier und Yello. Der Meier ist ja stolz, dass er nur um die Keynote rumgebrummt hat, das hat aber nie jemanden ernsthaft gestört. Yello waren massentauglich und dennoch experimentierfreudig, hör dir mal „One Second“, auch von 1987, an. Aber du hast recht, da kommen wir nicht weiter, obwohl, einer geht noch. Gerade geht hier die Alarmanlage von einem Auto an, das leiert so schön im Takt zum Track "Little 15", bei „Sacred“ kann man „Schaufensterpuppen“ mitträllern und bei „Strangelove“ fällt gar nicht auf, wenn man Cameos „Word Up“ Uiuiuhhh mitpfeift. Aber jetzt mal was ganz anders, „We're flying high, we're watching the world pass us by“, den Textsnippet mochte ich, mag ich heute noch. Da sind wir schon bei der zweiten Dopplung mit Kraftwerk: „In Wien sitzen wir im Nachtcafé, Direktverbindung TEE“. Chillen, beobachten, den Tag vorbei rauschen lassen, das ist heute noch angesagt. Und das Artwork des Albums finde ich groß.
Thaddeus: Siehste, doch noch ein versöhnliches Ende. 2020 treffen wir uns dann wieder und machen das Gleiche nochmal zu „Violator“.
Martin: Du wirst noch mein persönlicher Jesus!