Ravegeschichte: 25 Jahre 1992Heute: „Rave Channel“ von Marusha
16.11.2017 • Sounds – Text: Jan-Peter Wulf1992 war das große Jahr von UK-Rave, Breakbeats und Hardcore. Das-Filter-Redakteur Jan-Peter Wulf stellt euch in seiner Kolumne die Stücke vor, mit denen ein Underground-Phänomen zum Chartbreaker-Lieferant wurde. Eine kurze, aber spannende Zeit, die vor 26 Jahren begann und vor 24 Jahren schon fast wieder zu Ende war. Heute besucht uns der Fliesenleger.
Flohmarkt 1992 in Quakenbrück. Ich habe einen Stand und verkaufe meine Kindheit (vor allem die erlesene Spielzeugauto-Sammlung, was ich heute bereue), um Geld für meine Jugend zu erlösen. Mein Vater hilft mir dabei. Viel zu tun ist nicht. Während ich Matchbox und Mattel in bare Münze umzuwandeln versuche, hört mein Vater Musik auf dem Walkman. Auf meinem Walkman. Was hörst du eigentlich, frage ich ihn. Er nimmt die Hörer ab, fragt, was ich gefragt habe, ich frage erneut, er antwortet „Mayday“. Er setzt die Kopfhörer (Ohrhörer mit Bügel, eine Traumkombination), wieder auf. Was frage ich eigentlich. Logisch, dass mein Vater Mayday hört. Was anderes habe ich ja auch gar nicht dabei. „Was anderes hast du ja nicht dabei.“ Im Laufwerk dreht sich die Mayday-Compilation anno 1992, die ich mir in der örtlichen Videothek als CD ausgeliehen und auf Kassette überspielt habe. Ich hätte mir auch die CD kaufen können, ich habe ja sogar einen mobilen Discman, aber ich bin ein Sparfuchs und außerdem, so richtig geil ist das nun nicht mit dem mobilen CD-Hören. Man schleppt einen fliesengroßen Player mit sich rum, wo soll man den unterbringen, festhalten sieht denkbar uncool aus, und ständig springt die Platte. Also lieber Kassette. Der Sony-Walkman ist im Gegensatz zum Sony-Discman ein nicht sprunghafter Begleiter.
Ich nehme meinem Vater den Ohrhörer ab, weil ich es trotz allem – die Kassettenrädchen drehen sich, die Beschriftung „Mayday“ ist über jeden Zweifel erhaben – immer noch nicht ganz glauben kann. Ich halte mir den Hörer an die Ohren, es läuft „Rave Channel“ von Marusha. Oft genug habe ich die Compilation zu diesem Zeitpunkt angehört, um das sofort festzustellen. Gute Wahl, Wulf senior. Denn, und das finde ich auch im Jahr 2017 noch, an diesem Ravegeschichte-Donnerstagmorgen, an dem ich diesen Text tippe, während im Bad eine schrotte Fliese ausgetauscht wird, „Rave Channel“ ist ein ganz cooler Track. Vielleicht sogar der beste von Marusha, sicher aber der ungewöhnlichste, so rough, so industriell, so Technotechno. Ravepop, wie er hier schon in vielen Episoden vorgestellt wurde, ist das mal so gar nicht. Doch es war mir trotzdem wichtig, Marusha und das Label hinter der Künstlerin in diese Kolumne zu bringen, denn das Berliner Label Low Spirit, gegründet immerhin schon 1986, würde in den Jahren 1993, 94, 95 und darüber hinaus dieses Subgenre maßgeblich bestimmen. Rave, poppig aufbereitet, für die Massen, für die Charts. Westbam, Hardsequenzer, Raver's Nature, RMB, Mark'Oh und natürlich Marion Gleiß aka Marusha mit „Somewhere Over The Rainbow“ oder „It Takes Me Away“ … daran war Mitte der Neunzigerjahre praktisch kein Vorbeikommen. Die großen Zeiten von Low Spirit sollten 1992 noch kommen. Welche großen Zeiten, unkte der Redaktionskollege im Vorgespräch. Ich verstehe, wie er das meint. The sound of the underground ist das nicht.
Aber die Mayday-Compilation 1992 hat noch was Undergroundiges. Jedes Stück ist so, wie das Marusha-Stück ist: hart und ungehobelt. Joey Beltram, Aphex Twin, The Hypnotist, CJ Bolland, hach. Der freundliche Fliesenleger hat gerade seinen Fliesenschneider ausgepackt und fräst nebenan die kaputte Fliese noch kaputter. Das polyphone Kreischen mischt sich unter den Marusha-Beat, der aus meinen Ohrhörern erklingt. Leider sind es nicht mehr die Ohrhörer von damals, sondern bügellose mit Nöpsis, die sich ständig aus dem Ohr entstöpseln. Bügel müsste man jetzt haben.