Ravegeschichte: 25 Jahre 1992Heute: „Experience“ von The Prodigy
7.9.2017 • Sounds – Text: Jan-Peter Wulf, Thaddeus Herrmann, Ji-Hun Kim1992 war das große Jahr von UK-Rave, Breakbeats und Hardcore. Das-Filter-Redakteur Jan-Peter Wulf stellt euch in seiner Kolumne die Stücke vor, mit denen ein Underground-Phänomen zum Chartbreaker-Lieferant wurde. Eine kurze, aber spannende Zeit, die vor 26 Jahren begann und vor 24 Jahren schon fast wieder zu Ende war. Heute gehen wir auf Langstreckenflug mit The Prodigy.
Das Albumformat spielt in unserer Ravegeschichte eigentlich keine große Rolle. Es ist eine Geschichte einzelner Stücke, die zu Under- und Overgroundhits wurden. Der Longplayer steht fast konträr zum Schnellen, Kurzen und Ephemeren des Rave. Die große Ausnahme stellt das Album „Experience“ von The Prodigy dar, das im September 1992 erschien. Ein Rave-Hit-Album: Auf ihm befinden sich „Charly“, „Everybody In The Place“, „Fire“ und natürlich „Out Of Space“, das Stück, mit dem das Dancefloorquartett aus Essex erstmalig auch außerhalb der elektronischen Szene auf sich aufmerksam machen konnte. Konkret: Es lief sogar im „Fiz Oblon“, der Indiedisco meiner nordwestdeutschen Heimat, deren Boxen in elektronischer Hinsicht bis dahin maximal Anne Clark und das immer noch geniale „Alarm Clock“ von Westbam zu entlocken gewesen war. Der hektische Track mit dem Ketaminvogelgezwitscher und dem Max-Romeo-Raggaesample scheuchte die Wollpullischeune aus ihrer Edie-Brickell-Gemütlichkeit auf. Das Adrenalin des ersten Mals, als ich das erleben durfte, spüre ich noch heute in mir.
Experience ist aber weitaus mehr als ein Hitalbum, ich würde es fast als Konzeptalbum bezeichnen: Die Stücke wurden miteinander verzahnt, sodass eine Art Mix entstand – der listenability durchaus zuträglich. Vor allem aber ist es ein Werk in sich, denn es schnürt nicht nur die zuvor erschienenen und danach erscheinenden Singles einfach auf zu einer finanziell lukrativen Perlenkette für die Künstler, vielmehr besteht ein Großteil der Stücke aus eigenen Varianten, Albumversionen oder Remixes. Im Rückblick glaube ich, dass Liam Howlett, der kreative Kopf hinter The Prodigy, im langen Jahr 1992 einfach nicht geschlafen, sondern entweder produziert oder performt hat, so enorm, wie der Output dieses Jahres ist.
Und noch etwas ist anders hier: Während sich vieles aus den alten Ravezeiten vor allem dank einer schönen Portion Nostalgie-Schlagsahne noch gut anhört, hat „Experience“, obschon es zeitgeistiger nicht sein könnte, etwas Zeitloses. Eines der wichtigsten Alben des Jahres 1992, das mit Alben wie „Dirty“ von Sonic Youth, „Ten“ von Pearl Jam, „Wish“ von The Cure oder „Automatic For The People“ von R.E.M. nicht gerade wenige Dickschiffe auf ewige Fahrt in den Popozean entließ. Finde ich jedenfalls. Ich möchte aber auch von den frühgeborenen Kollegen wissen, wie es damals für sie war, wie es heute für sie ist. Bitte sehr.
Thaddi: Dieses Album war so groß, dass es locker in mein dunkelblaues Longsleeve mit Super Mario auf der Front reinpasste. Natürlich ein Bootleg-Shirt vom Camden Market, aber damals war Produktpiraterie noch genauso unterradarig wie Sample-Lizenzen. Warum ist „Experience” nun ein so großes Album? Natürlich, weil es wenig bis gar keine Konkurrenz hatte. Alle hangelten sich von Track zu Track, bzw. von Break zu Break. Und die, die Alben machten – 4hero zum Beispiel – waren zu underground. Das waren The Prodigy schon damals nicht.
„Experience” ist einer der seltenen Beweise dafür, dass es möglich war, den verstrahlten Quatsch der noch jungen Rave-Historie tatsächlich so zu verpacken, dass er eine messbare Halbwertszeit bekommt und überlebt. Was geschehen musste, damit das tatsächlich passiert, erinnert niemand mehr. Gute Tracks? Schon, aber nicht ausschließlich. Das extra Quäntchen an BPM? Vielleicht. Die Art und Weise, wie die Tracks in angetäuschten Mixen ineinander übergehen? Spielt eine Rolle. So ließ sich von Inverness bis Neapel jeder Parkplatz in einen grellen Dancefloor verwandeln. Ein Startschuss für viele, eine Bestätigung für andere. Der blubbernde Rest-Acid von „Death Of The Prodigy Dancers” ist nie aus meiner Blutbahn verschwunden.
Ji-Hun: Das allererste Mal sah und hörte ich von The Prodigy auf MTV. Eine späte Bochum-Lindener Nacht in der Wohnung von Hunees Eltern. Es war natürlich „Everybody In The Place”. Ich war 13 und fand diese Kombination aus brachialen Breakbeats und groovigen Chords unfassbar unfassbar. So was hatte ich noch nie gehört und dann auch noch diese Tanzschritte … Wir steppten daraufhin auf dem warmen Teppichboden, als wären wir zuvor in ein Hornissennest getreten hin und her und verschnürten uns die Beine, ohne auch nur ansatzweise das gerade Gesehene in die Tat umsetzen können. Hätte es damals nur schon YouTube gegeben, man hätte ja daheim üben können. Aber so einfach war es bekanntlich nicht. Einige Monate später entdeckte ich das Album „Experience” in meiner heimischen Videothek, wo man zu der Zeit (Anfang der 90er) noch CDs ausleihen konnte, um sie zuhause auf Tape zu überspielen. Was natürlich hochgradig illegal war. Wie groß die Freude war, wenn man etwas ewig Gesuchtes endlich gefunden hatte – wie erfüllend, ja, aufregend. Das Album wurde auf eine TDK kopiert und dann viel, sehr viel gehört – vor allem auf dem Walkman, vor dem Katechumenatsunterrricht, auf dem Schulhof, auf dem Weg zum Tischtennis. Früher hat man schmandige Ohrstöpsel mit Freunden getauscht, um das Gehörte zu teilen. Wenn jemand fragte: „Was ist das?” Meinte ich nur: „Rave!” Rätselnde Blicke. Ich hatte das halt mal irgendwo aufgeschnappt und fühlte mich das erste Mal in meinem Leben als Musik-Instanz – ergo ziemlich cool. Der Rest hörte ja Nirvana, Red Hot Chili Peppers und Bob Marley. Dieses Entgleist-Künstliche, die Art und Weise wie mit (Vocal-)Samples im Generellen gearbeitet wurde, das Spulige und Hormonig-Energetische, die Dub- und Reggae-Einflüsse, die ich zu der Zeit nicht ansatzweise einordnen konnte. Ich hatte ja nicht die geringste Ahnung, wie so was ging. War das nun eine Band oder nicht? Das war speziell. In der No-Rave-Zone Castrop war (für mich zumindest) Techno/Dance bis dahin gleichbedeutend mit 2 Unlimited, U96 und Snap. Da waren The Prodigy schon Indie.
Mit der Zeit wurden auch The Prodigy immer größer. Natürlich war „Out of Space” und seine Dauerpräsenz im Radio und jeder Schulparty daran Schuld, dass auch der Blue-System-Pulli-Typ am Autoscooter irgendwann bescheid wusste. So funktioniert das also mit den Hypes, war meine jungfräuliche Lehre. Erst gehört einem die Musik quasi nur dir allein, später muss man sie mit jedem Pfosten auf der Kirmes teilen. Mainstream schmeckt doch scheiße. Ich bin dann wieder zur Videothek und habe mir eine britische Jungle-Compilation auf zwei CDs mit Tracks von Tom & Jerry und anderen ausgeliehen. Das kannte natürlich wieder keiner. Wie angenehm. So gut wie „Experience” war das aber beileibe nicht.