„Pop ist eigentlich vorbei!“Daniel Benyamin über sozialistische Ideen im Musikbusiness und sein neues Label Ghost Palace Records
23.6.2022 • Sounds – Text: Ji-Hun KimSeit rund 25 Jahren ist Daniel Benyamin als Musiker aktiv. Solo und mit seinen Bands Noisetoys, Jumbo Jet, Toiling Midgets und Sea + Air spielte er über 2.000 Konzerte in mehr als 30 Ländern. Nun hat er das internationale Label Ghost Palace Records gegründet mit Künstler:innen aus Seattle, Vancouver, Utrecht und Berlin. Dieses Jahr erschienen bereits drei Releases von Jules Maxwell (Dead Can Dance), Clichée und seinem Soloprojekt. Das Besondere an dem Label ist, Musiker:innen sollen anders als üblich 100 Prozent der Einnahmen erhalten. Auch wird bereits fleißig an anderen finanziellen Lebensmodellen für Artists und Bands gearbeitet. Über sozialistische Ideen im Popgeschäft, ein Revival der DIY-Szene und weshalb das Jugendzentrum heute wichtiger denn je ist.
Du machst seit über 20 Jahren Musik und nun habt ihr ein Label gegründet, das Künstler:innen ganz anders an den Einnahmen beteiligen möchte als bislang üblich. Geld mit Tonträgern zu verdienen, ist in Streaming-Zeiten ohnehin zum schwierigen Unterfangen geworden. Aber beschreib in eigenen Worten, was ihr da genau vorhabt.
Eigentlich haben wir schon immer das gemacht, was ein DIY-Label eigentlich macht, aber nur nie so genannt. So kam der Impuls, das mal „vernünftig“ zu machen. Dann kam eine Anfrage vom Regisseur Wim Wenders, ob ich sein Label übernehmen möchte. Ich meinte: Wenn wir das zusammen machen, dann gerne.
Wie kommt Wim Wenders auf dich?
Ich bin mit seiner Frau gut befreundet und wir haben auch schon einige Male zusammengearbeitet. Die Idee haben wir ausgearbeitet und verschiedene Distributions-Partner angefragt und waren schon relativ weit. Dann ist Wim aufgefallen, dass er eigentlich schon über 70 ist und es ratsam wäre, weniger zu machen als mehr. Er ist daher aus dem Projekt ausgestiegen, aber da bereits so viel stand, beschloss ich, das alleine weiterzuführen. Mit Cargo haben wir einen Vertrieb gefunden, der super zu uns passt, langfristig denkt und international gut arbeitet, was uns wichtig ist. Bei dem Release von Jules Maxwell, dem Keyboarder von Dead Can Dance – er war auch solo als Support mit denen auf Tour – ist es wichtig, in all den Ländern nicht nur in der Presse präsent, sondern auch im Plattenhandel erhältlich zu sein. International Sessions in Plattenläden zu machen, ist eine super Sache. Wir haben über zwei Jahre lang philosophiert: Wo ist die gute alte DIY-Szene, die du ja auch noch kennst. Als es noch kein Internet gab, dafür aber eine gute Vernetzung von Künstlerinnen, Künstlern, Labels, Fanzines etc. Das war eine Art Role Model. Wir haben uns ja auch so kennengelernt, dann haben wir mit euch in Hattingen gespielt und umgekehrt.
Diese Situation findest du aus deiner Sicht heute so nicht mehr vor?
Nicht ganz. Das Jugendzentrum ist heute weg, was damals eine wichtige Rolle gespielt hat und dir die Möglichkeit gab, in jeder kleinen Stadt aufzutreten. Durch das Internet ist vieles einfacher geworden, aber es ist auch wichtig, sich gemeinsam gegen Monopole wie die von Spotify zu wehren. Nicht wegen der Idee, die ist gut und die kann man auch nicht aufhalten. Aber es geht um Fairness und die Hörgewohnheiten.
„Wenn ich als Label weiß, dass meine Künstlerinnen und Künstler sich ein Jahr lang nur auf Spielen konzentrieren können, können die mehr leisten, konzentrierter auf Tour gehen, sich auf den künstlerischen Output fokussieren – das ist die Grundidee dahinter.“
Wie meinst du das mit den Hörgewohnheiten?
Man setzt sich heute ja nicht mehr ruhig hin und hört etwas. Es geht aber auch darum, Alben als Gesamtkunstwerk wachsen zu lassen. Viele sagen, es gebe heute nicht mehr so gute Alben wie vor 20 Jahren und das alles so oberflächlich geworden ist. Das stimmt aber nur bedingt. Wenn ich damals mit zwölf Mark Taschengeld vier Platten aus der Ramschkiste gekauft habe, dann musste ich die hören, weil sonst hatte ich ja nichts. Da war bestimmt auch Schrott dabei. Aber auch Platten, die ich bis heute höre, weil sie mit der Zeit gewachsen sind. Oft erkennt man die Größe von Alben erst nach langer Zeit. Bei Bandcamp sieht man als Artist, wie lange Songs angehört werden. Natürlich skippt man, wenn etwas einem nicht gefällt. Aber oft werden Urteile gefällt, nachdem man eine halbe Minute lang zugehört hat. Das passiert bei Filmen heute genauso. Wie kann man nach zehn Minuten beurteilen, ob ein Film gut oder schlecht ist? Viele machen das trotzdem.
Wenn man damals 20 Mark für eine Schallplatte ausgegeben hat, dann musste man die auch geil finden. Niemand geht auf den Schulhof und sagt: Ich habe eine scheiß Platte gekauft. Das muss natürlich super sein.
Total. Das ist heute mit Konzerten oft genau so. Viele zahlen 120 Euro für ein Ticket. Die können gar nicht sagen, dass es scheiße war, weil sonst steht man blöd da.
Ihr habt ein Manifest zu eurer Label-Gründung geschrieben. Manifeste an sich haben oft einen politischen Impetus. Was ist eurer?
Die Idee ist, die Pyramide, die wir heute alle kennen, umzudrehen. Ein negatives Beispiel sind die Pay-to-play-Gigs, die in Deutschland mittlerweile auch Einzug gehalten haben. Damit verdienen alle Geld: Barkeeper, Einlass, Security, Garderobe, Veranstalter. Die werden zuerst bezahlt, bevor die Band ihre Gage bekommt. Wenn der Abend gut läuft, dann sind alle zufrieden. Aber wenn nicht, sind es halt die Artists, die nichts bekommen. Wir wollten das umdrehen. Nicht nur aus Fairnessgründen, ich bin aber überzeugt, wenn Artists gut von ihrer Arbeit leben können, können auch die anderen gut davon leben. Wenn ich als Label weiß, dass meine Künstlerinnen und Künstler sich ein Jahr lang nur auf Spielen konzentrieren können, können die mehr leisten, konzentrierter auf Tour gehen, sich auf den künstlerischen Output fokussieren – das ist die Grundidee dahinter. Die Umsetzung ist natürlich fraglich. Daher arbeiten wir vorrangig mit Artists, die unser Netzwerk schätzen und verstehen, was DIY heißt. Der Begriff muss in alle Richtungen gelten.
Heißt, die Artists müssen selber mit anpacken?
Oft meint man, sobald man einen Major-Deal hast, muss ich nichts mehr machen. Das geht natürlich nicht.
Wo setzt Ihr die Hebel an, um Musiker:innen besser an den Produktionen verdienen zu lassen?
Wir verstehen uns als Non-Profit-Label, also eher als Vernetzungsplattform. Es ist ein bisschen wie ein Sportverein. Da geht auch niemand hin, um Geld zu verdienen, sondern weil du Lust hast, etwas zu machen. Wir leben aber alle von unserer Kunst und nicht vom Label. Ich lebe auch wiederum als Künstler davon, dass ich vom Label 100 % der Einnahmen bekomme, abzüglich Steuern und Vertriebsmarge. Aber der Rest bleibt bei mir hängen, so geht es den anderen auch und das ist natürlich deutlich mehr als bei einem Major. Dort bekommst du für eine verkaufte Platte einen Euro, bei uns sind das sechs bis sieben. Das ist ein Unterschied. Aber es ist auch eine Referenz für so ein Label zu arbeiten. Non-Profit heißt, dass wir nicht finanziell davon profitieren. Heißt aber auch, dass wir uns gegenseitig die Aufgaben abnehmen. Wer gut gestalten kann, holt sich Hilfe von denjenigen, die gut in PR sind und andersrum.
Wie hast du das Musikleben selbst die letzten Jahre über reflektiert. Woher kommt die Energie und Inspiration jetzt noch ein Label zu starten und weiterhin dabei zu bleiben?
In allererster Linie ist es die Liebe zur Musik. Für mich persönlich ist es das Erschaffen von Musik. Ich liebe es einfach zu schreiben, aufzunehmen. Für Zar Monte Cola, der in meiner Band Schlagzeug spielt und Multiinstrumentalist ist, der liebt eher das Spielen, ist dafür im Label eher der praktische Typ. Er macht viel Siebdruck und hat ein Kassettenproduktionsgerät. Das ist eine Richtung, die wir verstärkt angehen wollen – Sachen selber herstellen. Wir touren unglaublich gerne. Während der Pandemie ist aber viel weggefallen. Wenn ich überlege, dass wir bei meiner allerersten Solo-Tournee in einem halben Jahr 2.000 CDs verkauft haben. Nur durchs Live spielen, ohne Label. Da verdient man ja 15 Euro pro CD. Da können Punks wie wir zwei Jahre von leben. Bei Sea + Air haben wir auf Tourneen auch mal 10.000 CDs verkauft. Das teilt man dann durch drei, vier Leute auf. Aber das sind schon wesentliche Einnahmen.
Dabei sagt man so lange schon, die CD sei tot.
Bei Sea + Air haben wir ohne Promo und kaum Presse vom ersten Album gut 10.000 Einheiten verkauft. Beim zweiten Album, bei dem es sehr viel Promo und Presse gab und sogar in die Top 50 der deutschen Album-Charts eingestieg, wurden nicht mal 2.000 Alben verkauft. Obwohl die Band etablierter und bekannter war. Man musste also mehr live spielen. Glücklicherweise hat das Publikum verstanden, dass man ein bisschen mehr für Live-Konzerte ausgeben muss. Mit Corona wurde dann dieses Standbein auch noch weggetreten. Da haben wir uns wirklich Gedanken gemacht, ob man weitermacht. Eine Sache, die noch nicht im Manifest steht, ist eine Music Society – eine Mischung aus Abonnement, bedingungslosem Grundeinkommen und eine Art Patreon, die wir etablieren wollen. Das wird noch ein paar Jahre dauern. Aber die Idee ist, dass keiner damit reich wird, die existentiellen Sorgen von Musikerinnen und Musikern jedoch, die sie morgens beim Aufstehen haben, ausgebügelt werden. Da bin ich einfach super optimistisch, dass wir das hinbekommen. Die Frage ist natürlich, wie viele Leute wir da mitziehen können.
Die Frage ist generell, wovon sollen Musiker:innen überhaupt leben? Wie ist die Gemengelage?
In unserem Falle wird es so laufen, dass es eine Art Grundgehalt gibt, das alle bekommt, die dabei sind. Aber jeder soll die Möglichkeit haben on top was dazuzuverdienen. Wir setzen eine Obergrenze, das ist dann ein bisschen sozialistisch. Was darüber hinaus verdient wird, soll dann zu 50 Prozent wieder zurück in den Topf kommen. Es gab vor einiger Zeit einen Aufruf von Herbert Grönemeyer, der die Situation ganz gut beschrieben hat. Allerdings ist er Millionär, wir müssen uns unterdessen überlegen, wo die Miete herkommt. Wenn du wirklich was verändern willst, dann mach genau das und gib was von deinen Millionen ab. So blöd und billig das jetzt klingt: Aber ich denke, dass die Großen für die Kleinen stehen müssen. Es wird andauernd viel ausgesiebt. Aber es bleiben immer die übrig, die von ganzem Herzen Musik machen wollen. Das ist in der Kunst allgemein so. Wenn so ein Modell aber funktionieren sollte, dann wollen wir das so breit wie möglich streuen. Es geht um Teilhabe.
Ich bin von so sozialistischen Ideen durchaus angetan. Aber funktioniert Pop gerade historisch betrachtet überhaupt ohne Verdrängung, Charts und Kapital?
Ich bin mittlerweile der Meinung, dass Pop in der Form vorbei ist. Es gibt immer noch populäre Musik. Aber Pop und Rock sind eigentlich Klassik geworden. Ein alter Schuh, und was überlebt hat ist handwerklich gut. Das wirklich Neue, die großen Revolutionen sehe ich nicht. Da ist auch das Streaming dran Schuld. Flach gesagt: Pop ist eigentlich tot. Wenn ich in eine Eisdiele gehe und die Musik dort höre, dann wirkt das für mich eher wie Werbung, um Eis vor Ort zu verkaufen. Es gibt Bereiche, in denen kehrt Musik wieder dahin zurück, wo sie herkommt. Musik hören ja alle, aber nicht jeder Mensch ist Musik-Nerd. Deswegen glaube ich, dass Nerds weiterhin für Musik Geld ausgeben. Das ist auch ein Markt, wo weiterhin Geld verdient werden kann. Die normalen Pop-Fans haben früher auch kein Geld ausgegeben für Musik. Die haben einmal im Jahr die „Bravo Hits“ gekauft, was aber völlig ok war.
Man hätte mit dem unendlichen Zugang zu Musik eigentlich davon ausgehen können, dass jetzt alle zu Musik-Nerds werden, aber das ist in der Tat überhaupt nicht eingetreten. In was für Produktkategorien denkt Ihr bei eurem Label? Es gibt Tonträger, was noch? Bei DIY denke ich an fotokopierte Fanzines und so.
Dieses Jahr machen wir erstmal nur das Label und versuchen die Society aufzubauen. Wir spinnen aber herum. Ein Fanzine wird es ganz bestimmt geben, wenn auch nicht dieses Jahr. Wir planen nur vier bis fünf Releases pro Jahr. Wir lernen mit jedem Release dazu. Der Plan für die nächsten fünf Jahre ist, dass wir jedes Jahr einen weiteren Zweig hinzunehmen. Booking ist super wichtig. Ein bisschen hat man das zwar immer auch selbst gemacht, aber da gibt es ein, zwei Leute, die bereits Interesse haben, mit uns zu arbeiten. Ich finde Videos auch wichtig. Das geht auch mit kleinem Budget, wenn man kreativ ist. Technisch ist das möglich, aber es gibt wenige, die das auch so umsetzen können und wollen. Wir planen natürlich Label-Nächte und Tourneen. Wir wollen aber nicht nur in Berlin, Köln und Hamburg, sondern auch gerne in kleinen Städten spielen. Dort gibt es oft gute Szenen, die wir unterstützen wollen. Aber eins nach dem anderen. Die Kunst ist das allerwichtigste, das darf nicht aus den Augen verloren werden.
„Ich habe ein großes Herz dafür, die Jugendzentren wieder zu beleben.“
Gibt es einen frommen Wunsch deinerseits, die Provinz wieder mehr in den Mittelpunkt zu rücken?
Es gibt in vielen Städten Szenen, 15- bis 30-Jährige, gerade im Post-Punk, was größer als je zuvor ist, die selbst Musik machen, sich treffen und Bands gründen. Wie das am Ende aussehen wird, müssen die entscheiden. Aber die Welle schwappt in kleinere Städte über. Ich habe ein großes Herz dafür, die Jugendzentren wieder zu beleben. Deswegen machen wir auch immer wieder kleine Touren, wo wir viel in diesen Locations spielen. Da wollen wir keine gehypten Venues, da reicht uns auch eine Gaststätte, wo 35 Leute kommen. Wenn das ein gutes Konzert wird, dann kommen das nächste Mal 65 und so passiert dann was. Die amerikanische DIY-Szene ist so entstanden. Sonic Youth haben die ersten fünf Jahre nur solche Gigs vor drei Leuten im mittleren Westen gespielt. Das hat aber die Band zu der gemacht, die sie heute ist. Auch Fugazi haben im Jugendzentrum in Stuttgart gespielt, da haben die aber schon 700 Leute gezogen. Das sind Geschichten, an die ich glaube, und die ich auch wiederhaben möchte.
Am 25. Juni 2022 findet die erste Labelnacht von Ghost Palace im Urban Spree in Berlin statt. Mehr Infos hier.