Politik und GesellschaftRian Treanor, King Midas Sound, Rosaceae – drei Alben, drei Meinungen

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Die Umstände hätten nicht unfairer sein können. Einen Tag nach dem Tod von Mark Hollis trifft sich der Debattierclub, um drei aktuelle Alben mit dem Klammerbeutel der Musikkritik zu pudern. Also schnell die Fotos auf dem Kaminsims umgedreht, auf das Vergessen angestoßen und laut gemacht. Rian Treanor – der Sohn von Mark Fell (SND) widmet sich nach Veröffentlichungen auf Warp und Death Of Rave auf seinem Debütalbum für Planet Mu der Schnittmenge zwischen Gabba-informierter Sheffield-Tradition, Footwork-Haken und irgendwas mit House. Kann das gutgehen? Ist das modern oder gelebte Realität eines sich auflösenden, ehemals großen Königreichs? Immerhin kommt so Bewegung in die aktive Trauerarbeit. Die ist auch das Stichwort beim neuen Album von King Midas Sound. Geschrumpft auf Originalbesetzung (Kevin Martin aka The Bug und Vocalist Roger Robinson), widmen die beiden eine ganze Platte der Aufarbeitung einer in die Brüche gegangenen Beziehung. Das ist heikel und erschütternd – auf allen Ebenen, aber nicht so wie gedacht. Wichtig und wirklich erschütternd ist das Thema, dem sich die Hamburgerin Leyla Yenirce auf ihrem Album „Nadia’s Escape“ auseinandersetzt – dem Genozid an den Jesiden durch den IS. Ein großes Werk, das der Runde eindrücklich beweist: Tod ist nicht gleich Tod.

RT-Rian Treanor

Rian Treanor, Ataxia, erscheint am 15. März auf Planet Mu.

Rian Treanor – Ataxia (Planet Mu)

Thaddeus: Wir sind alle ganz evil. Und pissen. Das ist die Lehre aus dem ersten Stück von Rian Treanors Debüt-LP. Und nun?

Kristoffer: Wissen wir immerhin, wie es klänge, wenn sie Siris Algorithmus aus Lydia-Lunch-Gedichten gesourct hätten. Ich hätte drauf verzichten können. Dazu dann noch viel Beat-Geflatter à la Autechre meets Jlin in so lala. Okay. Ich glaube, ich setz mir Kopfhörer auf, lasse das Album von Mark Hollis Revue passieren und ihr sprecht – Deal?

Thaddeus: Nein. Denn: Ich finde die Platte gar nicht blöd. Sie nervt in Maßen – immer mal wieder, hat doch aber auch einen sehr modernen Drive und viele gute Momente. Gerade hinten raus, wenn es weniger klatschig wird und eher klassisch daherkommt, mache ich damit sofort meinen Frieden. Das läuft schon. Erinnert sich jemand an seine vorherige Musik? War die ähnlich getaktet? Ich hatte keine Zeit, das zu recherchieren, geschweige denn nachzuhören.

Kristoffer: Ich kenne diese Person nicht und weiß nicht, ob ich sie kennenlernen möchte. Ich glaube, es gab da Releases auf diesem Warp-Ableger und, was wohl wichtig ist, auf The Death of Rave. Hilft das weiter? Klingt zumindest über weite Strecken wie SND – dem Projekt von seinem Vater – im Gabba-Modus. Auch darauf hätte ich verzichten können.

Thaddeus: Herrje. Den Gabba höre ich hier nun wirklich nicht, dazu klingt das Album auch viel zu modern. Vielleicht ist das das Problem? Christian?

„Einfach mal die Producer-Skills ausstellen, danke, fertig.“

Christian: Gabba immer gerne, aber „Ataxia“ ist in erster Linie doch Sound-Design. Es ist clean und schroff zugleich, so metallern-ungemütlich und immer ein bisschen drüber, das ist schon geil. Als Album erschließt es sich mir aber nicht, weil zu random. Nach diesem Quatsch-Opener wird ein paar Tracks lang geballert, dann plötzlich flötet eine hochgepitchte Stimme, es gebe „Good News For You“ – über so einen uplifting Footwork-Track. Der an und für sich super ist, aber ab da verliert das Album den Faden. Das ist eher eine Art Showcase. Also einfach mal die Producer-Skills ausstellen, danke, fertig.

Rian Treanor

Kristoffer: Mir drängt sich vor allem das Gefühl auf, dass diese Platte an sich nicht notwendig ist. Ich liebe den letzten Track, weil er als Intro für ein smoothes, aber jackendes House-Set perfekt wäre. Das aber war’s auch schon. Der Rest kommt meiner Auffassung schlicht zu spät: SND, Mark Fell solo, Gábor Lázár, EVOL und schließlich Jlin, vor allem die, haben das Feld meiner Meinung nach über die Jahre und Jahrzehnte dermaßen gut beackert, dass da kaum noch Nischen über bleiben. Und Rian Treanor kann meiner Meinung nach keine füllen. Das einzige, was ich mir vorstellen kann: Das dürfte live funktionieren, so Unsound-mäßig, mit viel Visuals und so weiter, irgendeiner Kulturförderung im Rücken oder notfalls einem coolen Getränkehersteller. Aber ich bin heute auch etwas garstig.

„Ist das die neue Sheffielder Schule? Ich meine, der Norden wollte ja immer auf die Zwölf hauen.“

Thaddeus: Unbedingt und ein bisschen kratzbürstig noch oben drauf. Wir könnten jetzt einfach aufhören und nur darüber sprechen, wie wir das Festival-Jahr 2019 aushalten, den einen oder anderen Haken schlagen, um die Kulturförderung selber abzugreifen und damit in einer Wall-Toilette eine „Galerie mit Ausschank“ aufzumachen – wird ja bald wieder Sommer. Aber ich nehme mal mit: Es wäre wünschenswert, wenn dem Album gleich eine Freikarte für das kulturgeförderte Festival mit boomender Instagram-Community beiliegen würde, die total heiß auf die alles verändernde A/V-Premiere ist. Vielleicht können wir das ja noch anregen. Aber im Ernst: Der SND-Verweis ist durchaus interessant und jetzt, da du ihn vorbringst, kann ich ihn auch sofort nachvollziehen. Kommen ja auch aus der gleichen Stadt. Ist das die neue Sheffielder Schule? Ich meine, der Norden wollte ja immer auf die Zwölf hauen.

Christian: Die haben SND aber wirklich sehr gut kaschiert, die Zwölf.

Thaddeus: Ich sehe hier aber durchaus Kontinuitäten, modern verpackt und ein bisschen über Gebühr versampelt, aber okay. Das versendet sich natürlich heutzutage in der globalisierten Gleichförmigkeit und Austauschbarkeit. Aber: Ich habe der Platte eigentlich gar nichts vorzuwerfen, außer dass hier das eintritt, was bei dieser Art von Musik immer mit mir passiert: Nach 15 Minuten muss ich auf den Standstreifen.

„Ich erhebe hier wohl so einen verqueren Authentizitätsanspruch, aber mir fehlt der strenge Körpergeruch, der Schweiß, das alles.“

Kristoffer: Der Titel „Ataxia“ lässt sich laut Promoschreiben mit „the loss of full control of bodily movements“ übersetzen, womit wir wieder am Anfang wären: Pisse, Scheiße, das alles. Schließmuskellösender IDM! Geht es noch mehr auf die Zwölf? Ich glaube nämlich schon. Was mich ein wenig stört, ist dieses wirklich überslicke Sound-Design. Ich erhebe hier wohl so einen verqueren Authentizitätsanspruch, aber mir fehlt der strenge Körpergeruch, der Schweiß, das alles. Das wird nur über die gelegentlichen Vocal-Samples ein wenig herbeigesampelt, bleibt aber an sich die reine Referenz. White-Cube-Musik für Reinsträume. Da bin ich noch früher als nach 15 Minuten raus und melde mich, wie gesagt, nur zum letzten Track wieder, weil danach Honey Dijon direkt anfangen könnte aufzulegen.

Thaddeus: Coming up! Zuvor muss ich aber die IDM-Referenz streichen. Weil: Die ist historisch markiert, und nur weil heute eigentlich alles Deep House ist, müssen wir uns nicht dieser Hashtag- und Buzzword-basierten Vereinfachung anschließen. Wir hatten diese Art von Musik ja aber doch das eine oder andere Mal hier auf dem Tisch. Die Einschätzungen fielen dabei immer sehr unterschiedlich aus, auch wenn die Schnittmenge, die Herangehensweise und die Produktion ähnlich war. Woran liegt das? Ist der eine weiße Raum einfach weißer als der andere?

Christian: Wenn du auf Jlin anspielst, dann liegt es vielleicht daran, dass ihre Musik doch eine gewisse Newness hatte, Treanor greift dagegen in mehrere Schubladen, rollt virtuos zusammen, was er da so findet und hievt es in die Auslage.

Kristoffer: Erstens das, und zweitens fehlt mir hier einfach der konzeptuelle Überbau. Ich habe danach eben im Press-Release gesucht und wenig gefunden: Synkopierung, rhythmische Fragen, Musik eher visuell denken – ja mei, okay. Musik-Musik ist nicht immer gute Musik. Bei Jlin zum Beispiel ließen sich da noch andere Fragen stellen, gerade auch weil es neu war: Wo kommt das her, wo geht es hin? Den Impuls habe ich hier überhaupt nicht, weil ich meine, es sofort zu wissen. Es kommt aus der SND-Schule und endet im White Cube. Case closed und alle Schubladen gleich mit.

RT-King Midas Sound

King Midas Sound, Solitude, ist auf Cosmo Rhythmatic erschienen.

King Midas Sound – Solitude (Cosmo Rhythmatic)

Christian: Das Gegenteil zur Treanor wäre dann King Midas Sound. Ein Album, das eine Geschichte erzählen will. Also sprichwörtlich: Die Erzählung läuft hier über Spoken Words. Die Vocals sind ganz weit vorne im Mix. Das ist eine Akzentuierung, die es eigentlich unmöglich macht, „Solitude“ nur als Sound zu hören. Und worum geht's in der Erzählung? Darum, dass die Frau weg ist. Superklassisch. Hier aber superschlimm. Und superpeinlich. Finde ich. Wie geht es euch damit?

Thaddeus: Ich habe das ganze Album über darauf gewartet, dass es plötzlich an der Tür klingelt. Dingdong, war nur Spaß, bin wieder da. Ich hatte mir das sogar gewünscht – damit das unerträgliche Leiden von Roger Robinson endlich ein Ende hat und auch ich es nicht länger ertragen muss. Es ist eigentlich ja total unfair, sich mit den Vocals auseinanderzusetzen. Wer so offen textet, ist automatisch angreifbar. Ich werde aber das Gefühl nicht los, dass Robinson eigentlich mich angreift. Und das ist auch unfair, fast schon übergriffig in seiner streckenweise kaum zu ertragenden Banalität. Aber zurück zur Türklingel: Das Album zerfällt musikalisch trotz aller verwaschenen musikalischen Gleichförmigkeit in zwei Teile. „Bluebird“ ist der Moment, in dem Martins Sound aufbricht und greifbarer wird. Da dachte ich: Nee, ein Happy End kommt hier nicht mehr bei rum, aber immerhin lichtet sich das, was sich dringend lichten muss. Natürlich kann man argumentieren, dass das Album genau an dieser Stelle den sonischen Pathos bekommt, den es nicht braucht. Lasse ich gelten. Ich war an dieser Stelle aber doch irgendwie dankbar ob meiner inneren Erschöpfung. Letztlich wird für mich das Album mit dieser Wende auch rund. Ich kann es jetzt als die Beschreibung eines depressiven Schubs in einer besonders dunklen Nacht interpretieren. Und wir erleben mit, wie es langsam wieder hell wird. Das ist dann doch recht hoffnungsvoll.

Kristoffer: Ich weiß nicht. Ihr scheint da beide ein Narrativ drin zu sehen, ich eher das pathologische Verhalten eines 17-Jährigen, der Tagebuch führt.

„Es ist wirklich entsetzlich. Ich finde das abstoßend“

Christian: Ich zitiere mal sinngemäß: „Früher fickten wir wie wilde Tiere.“ „Ihre Haut war so weich.“ „Seitdem sie weg ist, will mein innerer Vogel nicht mehr singen!“ „Mit wem schläft sie jetzt? – Ich weiß sie schläft mit jemandem! Ich habe sie schließlich online gestalkt. Sie tut jetzt Dinge, die sie vorher nicht getan hat, also muss sie ja mit jemandem schlafen.“ Es ist wirklich entsetzlich. Es geht letztlich darum, dass der Erzähler eine Frau unbedingt besitzen will. Schlimmer noch: Er kann sie sich nicht mal als autonome Person vorstellen. Sorry, ich wiederum kann das nicht als die total ehrliche Leidensgeschichte hören, die es wohl sein soll. Ich finde es abstoßend.

King Midas Sound

King Midas Sound: Kevin Martin und Roger Robinson. Foto: Nick Sayers

Kristoffer: Ganz genau. Und klar kann das ein genuiner Ausdruck von Schmerz sein, oder aber sogar Rollenprosa, denn selbst in der Musik müssen Sprecher und Autor nicht ein und dieselbe Person sein. Aber irgendwie drehen solche Passagen das ganze Album, das übrigens – kein Witz – am Valentinstag veröffentlicht wurde, für mich komplett auf den Kopf. Plötzlich ist das kein Herzschmerzdrama mehr wie angekündigt, sondern sind nur sehr krude, über sexuelle Dominanz verhandelte Besitzansprüche. Ich glaube ganz ernsthaft, dass sie froh sein kann, das nicht mehr ertragen zu müssen. Und überhaupt: Vielleicht hätte sie sogar das interessantere Album draus gemacht.

Thaddeus: Ha! Guter Punkt. Ich muss das klarstellen: Nur weil ich meinen letzten Beitrag mit dem Wort „hoffnungsvoll“ beendet habe, finde ich das Album nicht gut. Im Gegenteil. Das ist furchtbar. Von A-Z nicht auszuhalten – auf allen Ebenen. Text, Musik und alles, was man da hineininterpretieren kann, aber tunlichst bleiben lassen sollte.

Kristoffer: Ja, da würde ich mich wirklich noch weniger mit aufhalten als mit Rian Treanor. Tatsächlich hätte ich mir einige der Tracks noch als semi-interessante Ambient-Skizzen zuführen können. The Bug macht das schon recht souverän, aber schafft vor allem einen Backdrop für diese … Befindlichkeitslyrik mit all ihren unguten Dimensionen. Was mich lediglich wundert: Die Problematik des Ganzen kam noch in keiner Rezension auf, die mir unterkam. Aber vielleicht habe ich selbst da lieber den Laptop zugeklappt, als mich tiefer damit zu befassen.

Thaddeus: Ja, der Platte sind viele auf den Leim gegangen. Wahrscheinlich auch aus an dieser Stelle vollkommen unangebrachten Verbundenheit und falsch verstandenem Respekt gegenüber Kevin Martin. Schade.

RT-Rosacaea

Rosaceae, Nadia’s Escape, ist auf Neoprimitive erschienen.

Rosaceae - Nadia’s Escape (Neoprimitive)

Kristoffer: Umso besser vielleicht, dass ich zufällig auf das Debüt-Album von Rosaceae gestoßen bin. Kommt aus Hamburg, gehört wohl zum Kollektiv One Mother, das mir allerdings ebenfalls unbekannt ist. Was ich weiß: Dieses Album setzt sich mit dem Genozid an der jesidischen Bevölkerung durch den Daesh auseinander, der seit 2014 läuft. Schluck. Wie Rosaceae hier allerdings vorgeht, ist interessant. Ich hatte ja vorhin schon Mark Hollis genannt, dessen Tod gestern bekannt wurde. Talk Talk und natürlich auch Hollis solo waren ja Meister der Stille – das war eine Musik des Mangels. Wo nichts war, dröhnte es gemeinhin am lautesten. Etwas Ähnliches sehe ich hier am Gange: Weder ist diese Musik oberflächlich im Hintergrundmusik-Sinne noch deep. Sie ist nicht licht, nicht dark. Sondern wie ausgehöhlt. Das gerade macht sie überwältigend, und zwar in der Breite. Thaddi meinte vorab, er könne mit ein paar der Tracks etwas anfangen, vielleicht aber nicht mit allen, und da stimme ich zu. Im Gesamten finde ich das Album aber großartig. Gerade auch weil das Narrativ hier gelingt: Nach und nach schleichen sich Vocals ein, erst verfremdet und dann fremd, wie Kurmanci für mich eben fremd ist – und selbst da musste ich googeln, um mich der Sprache wegen zu versichern, und weiß dennoch nicht, ob ich wirklich auch Kurmanci höre. Dann gibt es eine Simultanübersetzung vor einem UN-Ausschuss zu hören und selbst für ein mitteleuropäisches Publikum ohne die entsprechenden Sprachkenntnisse verdichtet sich das Ganze zu einer unerhörten Geschichte. Ich stand an der REWE-Kasse, als ich das Stück zuletzt gehört habe, und habe mich vor der Welt und meiner Passivität in ihr nur noch geekelt. Doch nach dieser Passage, und das ist bemerkenswert, wird musikalisch nicht auf die Pathos-Tube gedrückt – sondern es ist, als würde sich die Musik nur noch mehr verflüchtigen. Dramaturgisch ist das stark, weil die Inhalte dadurch umso schwerer wiegen. Tolles Album, durch und durch.

„Das ist musikalisches Storytelling at its best.“

Thaddeus: Es ist tatsächlich sehr gut arrangiert bzw. sequenziert. Auch wenn es anfangs sperrig und unwirtlich wirkt: Schritt für Schritt, also Track für Track, baut die Musikerin ein Bild zusammen und befördert so eine Geschichte, die sich in ihrem ganz eigenen Tempo entwickeln kann. Man nimmt die ungute Stimmung des Beginns in sich auf, wird aber dennoch hineingezogen. Wie in einen Strudel. Und auch wenn man hier ganz schnell wieder raus will, fühlt es sich irgendwie auch ganz gut an. Das ist musikalisches Storytelling at its best. Sehr gut.

„Dass man das Thema in einem klanglich so zeitgemäßen Gewand verhandelt, ist schon deshalb super, weil der Rundfunkbeitrag zur gleichen Thematik mit traditioneller arabischer Musik unterlegt werden würde.“

Christian: Mich hat das Album auch total beeindruckt. Allerdings muss ich gestehen, ich habe es komplett unvorbereitet gehört. Fand es musikalisch super. Und dann kam diese Passage mit der der Rede vor der UN, die hier gesampelt oder vorgelesen wird – die hat einen krassen Bruch erzeugt, weil ich da erst registrierte, worum es eigentlich geht. Da wird einem dann schwindelig. Und dass man so ein Thema in einem klanglich so zeitgemäßen Gewand verhandelt, ist eben schon deshalb super, weil der Rundfunkbeitrag zur gleichen Thematik wahrscheinlich mit traditioneller arabischer Musik unterlegt werden würde. Bei Rosaceae kommt das Thema deshalb ganz anders an mich ran. Unerwartet, und ohne diesen komischen Filter, der mir suggeriert, dass das alles ja ganz weit weg sei.

„Das ist Musik, die muss gehört werden. Viel häufiger und dringlicher als, na ja, King Midas Sound.“

Kristoffer: Das ist eine extrem gute Beobachtung und reiht sich, glaube ich, sehr gut in den Lobgesang auf Rosaceaes Storytelling ein: Hier wird Nähe durch Entfernung generiert. Zumal ich wirklich diese kontrastreiche Gestaltung der Tonalität auch bemerkenswert finde: Da wird durch die Musik wenig emotional eingerahmt, keine Interpretation durchs Drücken auf die Gefühlsklaviatur vorgefertigt. Diese Offenheit des Sounds macht den Inhalt, der über die Stimmen – ausnahmslos weiblich, wenn ich das richtig identifiziere, denn dieser Genozid ist auch ein Femizid – transportiert wird, umso wirkungsvoller. Und klar, das erscheint auf einem kleinen Label im Kassettenformat, aber: Das ist Musik, die muss gehört werden. Viel häufiger und dringlicher als, na ja, King Midas Sound.

Thaddeus: Eh klar. Diese Gegenüberstellung von zwei möglichen musikalischen Szenarien finde ich interessant. Ich kann das unbedingt nachvollziehen, was Christian sagt. Aber würde es umgekehrt nicht genauso funktionieren? Letztlich ist das doch eine Diskussion über den Sample-Ethnizismus. Bleibt man bei dieser Art von Storytelling lieber bei einem musikalischen Rahmen, der „originär“ ist, um so Glaubwürdigkeit und Verbundenheit zu signalisieren? Oder ist es – wie hier – die bessere Entscheidung, mit einem anschlussfähigeren, weil westlichen Mischmasch aus Electronica und Noise das Sujet des Albums besser verständlich oder gar kompatibler wird? Ich frage das ganz wertfrei, weil: Ich habe keine Antwort.

Kristoffer: Vielleicht, und vielleicht machen wir sie hier auch gerade zur Übersetzerin wider Willen. Aber ich sehe ihre Musik gar nicht zwangsläufig als westlich, sprich es ist uns als elektronisch-abstrakter Sound vielleicht eher vertraut als folkloristische Traditionen oder wie auch immer, im Grunde ist es aber vor allem Geräusch. Nah am Noise gebaut, und damit in kultureller Hinsicht, sagen wir, transzendent oder zumindest diffus, wohl weitgehend entkoppelt von den üblichen Signifikanten von Herkunft. Zumal wir vielleicht als überspannte Musikjournos das erstmal stilistisch wesentlich normaler finden, als die Mehrheitsgesellschaft es je könnte. Ich glaube, ich war auch deswegen so glücklich über dieses Album, weil ich erst kürzlich noch in einem Text für sperrige Musik plädiert hatte, die aus diesem elendigen Playlist-Hintergrundgedudel wieder rauskommt. Die extrem und konfrontativ ist und Vocals nicht nur als ASMR-Brieftaube einsetzt – sondern mich anspricht, im wahrsten Sinne des Wortes. Und dieses Album ist genau das für mich: Ein musikalischer Widerhaken, der mir vielleicht klanglich nicht unbedingt extrem vorkommt, weil ich auch mal gerne an Frühlingstagen mit Masonna im Kopfhörer spazieren gehe, der mich aber inhaltlich mit einer Dringlichkeit erwischt, mich politisiert, sodass ich über größere Zusammenhänge außerhalb des reinen Sounds nachzudenken anfange. Und das ist großartig.

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