Plattenkritik: Wilco – Hot Sun Cool Shroud (dBpm)Eiscreme auf Asphalt
4.7.2024 • Sounds – Text: Susann MassuteDass Country nicht gleich Country ist, beweisen Wilco auf ihrer neuen EP „Hot Sun Cool Shroud“. Sonnige, leichte Songs, die wieder einmal die großartige Qualität der Band in komprimierter Form zeigen.
2024 war das Jahr, in dem ich mich mit dem Country versöhnte. Anlass war Ji-Huns intensive Recherchearbeit für das letzte Beyoncé-Album und eine fast neunstündige Dokumentation auf Arte. (Was für ein Umstand, dass jeder andere Sender ungefähr 30 Minuten Fakten-Fastfood zu jedem Thema anbietet und Arte diese epischen Proseminare ins Videoformat gießt!) Jedenfalls wurde ich in meiner ignoranten Country-Abneigung (weil Country, das ist ja irgendwie White Trash, irgendwie Trump und irgendwie nur weiß, so mein Vorurteil), eines Besseren belehrt. Auch mit dem freundlichen Hinweis, dass die von mir sehr geliebte Band Wilco ja ziemlich genau in diesem Genre brilliert und dass Country eben nicht gleich Country ist.
2024 beschert uns außerdem zum 30-jährigen Band-Jubiläum eine so frische, sommerliche Best-Of-Wilco-Komprimierung in EP-Form. „Hot Sun Cool Shroud” erinnert daran, dass diese Formation aus Chicago vielleicht eine der größten Rockbands der letzten Jahrzehnte ist. Wilco bearbeitete bisher nicht wirklich das EP-Format (es gab bisher Bonus-EPs zu Albumveröffentlichungen oder kostenlose Download-EPs wie „Moon like the Moon”, die es zu „Yankee Hotel Foxtrot” gab), umso spannender, wie sie hier in sechs Songs einfach alles reingeben. Das erste Lied „Hot Sun” ist ein wahrhaftiger Opener, der die Hörerin mit Tweedys „Hey Hey”, flotter Gitarre und weichen Synthesizern direkt auf eine heiße amerikanische Asphaltstraße und unter eine erbarmungslose Sonne beamt. Das einminütige „Livid” brettert direkt danach mit Hardrock-Anleihen über jene Straße, „Ice Cream” drosselt das Tempo: „You said I was cool / Enough to be ice cream / You melted me on the floor / I almost died / I cried for more” haucht Tweedy und kühlt die staubige Sommerseele. Und der Rausschmeißer „Say You Love Me” ist so ein bewegender Country-Song, so wie (Alternative) Country sein sollte. „Once you’re gone, you shine on in your friends” – Wie schafft Wilco, dass das überhaupt nicht kitschig klingt, sondern einfach nur luftig und melancholisch?
Das Cover-Artwork fasst die ganze Poesie der sechs Songs so schön ein. Auf Packpapier leuchtet eine Limette und leider sieht man es nicht in den Streaming-Miniaturen, man muss ganz nah rangehen: Die grüne Zitrusfrucht ist aus lauter kleinen Edelsteinen und Perlen filigran zusammengesetzt, das Innere ganz schwarz. Beim Anschauen kann man es schon fühlen, wie dieses sommerliche Obst ganz kalt und stachelig erscheint. Eine Erinnerung daran, dass man manche Platten nicht nur mit einem „+” der virtuellen Bibliothek hinzufügen sollte, sondern sie sich doch besser zum Anschauen ins Regal stellt.