Plattenkritik: Vince Clarke – Songs Of Silence (Mute)Der Replikant aus Basildon
24.11.2023 • Sounds – Text: Thaddeus HerrmannIm Alter von 63 Jahren veröffentlicht Vince Clarke – Gründer von Depeche Mode und Mastermind von Erasure – sein erstes Solo-Album.
Vince Clarke ist einer meiner Helden. Diese Tatsache hat rein gar nichts mit seinem Schaffen aus den den vergangenen 30 Jahren zu tun, sondern bezieht sich viel mehr auf eine kurze Epoche in den 1980er-Jahren, als er als zunächst als Gründungsmitglied von Depeche Mode bewies, wie man zuckersüßen Pop mit zuckersüßer Produktion dennoch cool verpacken konnte. Noch viel mehr aber auf seine beiden Alben mit Alison Moyet als Yazoo, die für mich immer das Gegenstück zu Soft Cell waren und den Soul und Funk im Synth-Pop hell erstrahlen ließen. Und natürlich mit seinem One-Off-Projekt The Assembly zusammen mit dem Engineer Eric Radcliffe und dem Sänger Feargal Sharkey (ja, genau der). Bestimmt auch noch mit seiner Single „One Day“ zusammen mit Paul Quinn. Bei Erasure jedoch, seinem Projekt zusammen mit Andy Bell, war ich dann spätestens 1989 komplett raus. Ich hätte wissen müssen, dass die frühe Coverversion von Abbas „Gimme, Gimme, Gimme“ ein Vorbote dessen war, was kommen sollte. Ich verlor das Interesse. Auch seine Zusammenarbeit mit Martin Gore als „VCMG“ ließ mich 2011/12 vollkommen kalt. Was für ein Techno-Quatsch!?
Auch wenn ich das Interesse an Clarkes Musik verlor, das Interesse an ihm als Person blieb. Ich habe den Musiker aus dem südostenglischen Basildon immer als bescheidenen Wahnsinnigen wahrgenommen. Er ließ sich ein Studio bauen, das einem Iglu nachempfunden ist, sammelte Synthesizer, sequenzierte seine Tracks mit einem BBC-Computer und empfand das Digitale in der elektronischen Musik trotz Sampling-Affinität immer als überschätzt. Kann man drüber streiten, muss man sogar. Aber wie Clarke nach seinem Umzug in die USA sein Synth-Museum in einem Holzhaus in the middle of nowhere aufbaute und präsentierte ... das war und ist schon sehr gut. Hätte halt nur bessere Musik entstehen können. Vielleicht ja abseits von Erasure. Solo. Ein Soloalbum. Eine LP von Vince mit Clarke. Er musste 63 Jahre alt werden, um sich dazu durchzuringen. Gute Entscheidung?
Ich hätte noch mehr ahnen müssen. Dass Clarke 2015 ein Licht aufging, als er mit Jean-Michel-Jarre für dessen Album „Electronica 1“ zwei Songs schrieb. Warum habe ich nie ausladende Soundscapes für mich entdeckt, die Hallräume immer klein gehalten, nie den inneren Vangelis auf meinem Minimoog gespielt? Wo waren die Laser in meinem Leben? 2016 sagte Jarre diesem Magazin: „Wir suchen immer noch nach dem nächsten Philip K. Dick.“ „Songs Of Silence“, das erste Solo-Album von Vince Clarke, ist sein ganz persönlicher Philip K. Dick. Bzw. sein Vangelis. Sein Bladerunner. Sein Replikant.
Den zehn Tracks des Albums lässt sich per se rein gar nichts vorwerfen. Es wabert, es drückt, es hat Atmosphäre, gute Ideen, eine angenehme Tiefenstaffelung im Sound-Design, warm-pulsende Arpeggios, und ja: diese ganz einfachen und doch so schwierig zu programmierenden Flächen, die in all ihrer Flüchtigkeit mehr Impact haben als alle Bassdrums dieser Welt zusammen. Vielleicht wabert es hier und dort ein wenig zu waberig. Vielleicht sind ein paar Sounds dann doch zu nah dran am verstaubten Kanon der esoterischen Synthesizer-Deepness. Aber das geht schon alles mehr als ok. Vielleicht ist „Songs Of Silence“ nicht das Alterswerk von Clarke, sondern einfach nur dessen Anfang. Je öfter das Album in den vergangenen Monaten bei mir lief, desto seltener hatte ich daran etwas auszusetzen.
Das ist nicht edgy. Das ist nicht anders. Und das ist schon gar nicht modern oder zeitgenössisch. Das alles war Clarkes Musik aber nie oder zumindest nie wirklich. Auch nicht politisch. Und wenn Clarke im Stück „Blackleg“ den alten britischen Protest-Song „Blackleg Miner“ zitiert, zeigt das nur, dass selbst jemand, der im Glitterpop mit Diskokugel sein Geld verdient, noch so etwas wie ein Gewissen hat. „All tracks are having a sense of sadness, of things going bad, things crumbling“, sagt er zu „Songs Of Silence“. Ob das stimmt, können wir ja nochmal besprechen. Mir scheint, dass wir mehr solche Platten brauchen. Platten, die referenzieren und weiterdenken. In aller Vorsichtig und Subtilität. Das mag alles ein Zufall sein. Dafür ist Clarke aber eigentlich zu clever. Mit Kontext und Wirkmacht kannte sich der Musiker schon immer aus. Nun plötzlich, nach über 30 Jahren, stimmt der Kontext wieder. Und die Wirkmacht auch.