Plattenkritik: Taylor Deupree – Sti.ll (Greyfade / Nettwerk)Wie akustisch ist Elektronik?
31.5.2024 • Sounds – Text: Thaddeus Herrmann2002 veröffentlichte Taylor Deupree sein Album „Stil.“. Die LP gilt heute als stiller Klassiker der elektronischen Musik, als eine der intensivsten Auseinandersetzungen zwischen Mensch und Maschine, also Laptop. Rund 20 Jahre später ist zusammen mit dem Multi-Instrumentalisten Joseph Branciforte die akustische Neuinterpretation „Sti.ll“ entstanden.
Ich erinnere mich gut an die frühen Nullerjahre. An eine Zeit, in der ich davon überzeugt war, dass klickige Electronica eine Größe jenseits der Nische bleiben würde. Bestärkt wurde ich in meiner Hoffnung u.a. von der schieren Release-Flut auf 12k, dem Label von Taylor Deupree. Immer Killer, egal ob fluffig oder fast schon akademisch-streng. Nicht erinnern kann ich mich tatsächlich an „Stil.“, wobei ich aus dieser temporären Leerstelle in meinem Kopf keine weiteren Schlüsse ziehe. Das Werk war schnell nachgehört, der Wirkmacht-Level wieder eingepegelt.
Die vergangenen 20 Jahre stehen nicht nur für eine konsequente Weiterentwicklung der elektronischen Musik, sondern so natürlich wie leider auch für viele unschöne Auswüchse, Adaptionen und Aneignungen. Damit meine ich nicht den bewussten Schulterschluss von Musiker:innen aus dem einen oder anderen Feld mit dem jeweils anderen, sondern die orchestrale Ausschlachtung, die – Beispiele gibt es reichlich – oft genug von den Macher:innen der Elektronik selbst initiiert wurden. Ob das Naivität ist, der Wunsch nach Bestätigung oder einfach die Vorstellung, wie geil es sein könnte, mit der 909 in der Philharmonie zu stehen? Zum Glück kann die KI noch nicht in Köpfe gucken.
Natürlich ist „Sti.ll“ weit von diesen Ansätzen entfernt. Das hat einerseits damit zu tun, dass es die vier Tracks von Taylor Deupree schlicht nicht hergeben, orchestral aufgeplustert zu werden. Und andererseits, weil alle Beteiligten eine ganz genaue Vorstellung zum Prozess hatten. Deupree wollte, dass alles live eingespielt wird. Keine Loops, kein Pro Tools. Und Branciforte schwebte eine so präzis wie nur irgend mögliche Performance vor – von den Melodieelementen bis zu den verstecktesten Rausche-Klicks. Wie viele es davon gibt, war gar nicht leicht zu ergründen, weil von „Stil.“ nur die Stereo-Version und keine Einzelspuren mehr vorliegen. In einem langen Prozess isolierte Branciforte am Rechner so viele „Spuren“ wie möglich und notierte sie. Übersetzte sie in Informationen, die von Musiker:innen mit akustischen Instrumenten gelesen, gespielt und interpretiert werden können.
Diese Musiker:innen sind: die Klarinettistin Madison Greenstone, Jazz-Gitarrist Ben Monder, Flötistin Laura Cocks, Cellist Christopher Gross und Kontrabassist Sam Minaie. Branciforte selbst spielt Vibrafon, Taylor Deupree war während der Aufnahmen anwesend und hatte mit Sicherheit das eine oder andere zu sagen.
Es kommt nicht oft vor, dass mich eine Neuaufnahme oder Neuinterpretation derartig berührt wie „Sti.ll“ es tut. Die wogende Leichtigkeit des Originals mit den all den Sounds, Techniken und Tricks, die die Post-2YK-Zeit begleiteten, mit ihrer Wärme auf der einen und der der Technologie und Geisteshaltung geschuldeten Roughness auf der anderen Seite, bekommt in der Neueinspielung natürlich einen neuen Sound. Nicht nur tonal, sondern auch in Sachen Haltung. Die Sogwirkung bleibt jedoch erhalten, entwickelt dabei aber eine vollkommen andere Art der Energie. Das Überführen der MIDI-Beats in akustische Handbewegungen, die Übersetzung der sequenzierten, also digitalen, Rhythmik in Partitur-basierte, analoge Annäherung und schließlich der kategorische Clash zwischen tradierten Instrumenten und den technischen Möglichkeiten des Studios machen „Sti.ll“ zu einem mehr als beeindruckenden Beispiel der zeitgenössischen Ensemble-Musik. Sound ist Sound. Sound wird Sound. Sound bleibt Sound.
„Sti.ll“ gibt es schon jetzt auf den Streaming-Plattformen. Mitte Juni erscheint das dem Werk, der Idee und der Musik angemessene Format – ein Buch. Mit begleitenden Texten, Hintergrundinformationen und Bildern des Aufnahmeprozesses, von denen ich hier bereits einige zeigen darf. Das ist schon sehr boutique, vielleicht aber auch einfach genau der richtige Weg, besondere Musik und einzigartige Projekte zu dokumentieren. „Sti.ll“ ist der zweite Teil dieser FOLIO-Reihe. Klingt nach einem Abo, das mehr befriedigt als die Sammelleidenschaft haptischer Objekte in digitalen Zeiten.