Plattenkritik: Roman Flügel – Balmy Evenings (Mule Musiq)Fließen ohne Plätschern

PLATTENKRITIK - ROMAN FLUEGEL - BALMY EVENINGS - BANNER

Producer Roman Flügel fühlt sich in den unterschiedlichsten Spielarten der elektronischen Musik zu Hause. Und baut mit seiner neuen LP „Balmy Evenings“ ein lautes Tiny House, in dem all diese Spielarten spielerisch Risotto kochen.

Im kommenden November veröffentlich Stefan Betke aka Pole wieder ein Album. Vielleicht gehen wir aus diesem Anlass mal wieder ein Bier trinken und reden über „unsere kleine Musik“, ein Begriff, der sich in zahllosen Gesprächen und Begegnungen zwischen uns als Code entwickelt hat. Elektronische Musik kann groß sein, muss aber nicht. Im Gegenteil: Abseits des klassischen und durchformulierten Dancefloors entstehen die besten Ideen. Das war schon immer so, um ehrlich zu sein, Roman Flügel weiß das sicher auch, dabei hat die Anekdote mit Pole rein gar nichts mit seiner neuen Platte zu tun. Aber: Ohne die Electronica der 1990er- und Nuller-Jahre als stetig pulsenden Impulsgeber wäre der Techno heute so leer wie aktuell die Ersatzteillager von Aeroflot. Darüber gesprochen wird jedoch selten bis gar nicht. Stattdessen der fluide Begriff missbraucht, um dem Genre-Wahnsinn der Festival-getriebenen 4/4-Industrie eine Komponente hinzufügen zu können, die gut zu Insta-Storys zum Sonnenuntergang passt.

Auf „Balmy Evenings“ widmet sich Roman Flügel abseits des Bassdrum-Diktats genau dieser klanglichen Vielfalt. Dass die LP beim japanischen Label Mule Musiq erscheint, passt wie – pardon – Arsch auf Eimer. Natürlich hat Flügel als DJ und Produzent immer wieder bewiesen, dass er multidisziplinär unterwegs sein kann und auch gerne ist. Flügel ist jemand, der seinen shit nicht nur kennt, sondern auch liebt, sich nie mit nur einer Ausprägung begnügen könnte. Im Zweifelsfall heißt das: Die DJ-Sets sind geschmackvoll und geschmackssicher. Und wie sieht das bei den eigenen Tracks, EPs und Alben aus? Wie es sich im jeweiligen Moment am besten anfühlt. Allein das ist schon eine Stärke.

„Balmy Evenings“ klingt – und damit lehne ich mich sehr weit aus dem Fenster, fühle mich gleichzeitig aber auch verdammt gut – ungefähr so, als hätten sich Plaid mit Brian Eno getroffen, um ein Rework dessen Albums „Neroli“ zu besprechen. Alle drei bekamen sich natürlich sofort heftigst in die Haare, kündigten die Freundschaft, fielen sich in die Arme und zogen ergebnislos ihrer Wege. Nur: Ergebnislos war dieses fiktive Meeting natürlich nicht. Subtil befruchteten sich hier unterschiedliche Generationen der elektronischen Musikproduktion. Tatsächlich unterstelle ich Flügel, ein Plaid-Fan zu sein. Das mag stimmen oder nicht: Für mich passt es. Die Harmonien, der Wechsel der Tempi innerhalb bestimmter Tracks sprechen eine klare Sprache. Natürlich bleibt Flügel in dieser in elf Tracks gegossenen Liebeserklärung an Andy Turner und Ed Handley professionell vage und schiebt Takt für Takt sein ganz eigenes Universum auf die Abschussrampe in Richtung Unendlichkeit. Beats, Loops, Chords, Stimmungen (also moods, nichts Tonales) pendeln zwischen präzise-rauschender Empathie, einem kontinuierlichen Dialog zwischen dem Analogen und Digitalen, rhythmischen Reminiszenzen an die gute alte Zeit und von allem vollkommen entkoppelten Entwürfen der für alle Zeiten gültigen Prämisse, das einfach alles geht, was kann.

„Balmy Evenings“ ist keine stille Platte per se. Ihre Dringlichkeit erschließt sich jedoch vielleicht nicht allen. Zum Beispiel denen, die Electronica mit einem melodischeren Remix eines stumpfen Beatport-Bangers assoziieren. Euch kann ich leider nicht helfen. Wenn ihr die Platte mögt, hab ich euch lieb. Bei Kommentaren wie „Ja, hübsch, aber warum ist denn nicht …“ bin ich aber raus. Schaut eure Insta-Storys, fahrt auch 2023 wieder auf Festivals, lasst euch beballern von Bullshit-Bassdrums vor Absperrgittern wie auf Anti-AKW-Demos. Vielleicht spielt an diesen Wochenenden sogar Roman Flügel vor euch. Was während seines Sets mit euch passieren wird, glaubt ihr auch dann noch nicht, wenn ihr wieder nüchtern seid.

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