Plattenkritik: Richie Hawtin – Closer AppQuo vadis Techno?

Richie Hawtin Closer App Start

Foto: Willy_Vanderperre

Sind Apps überhaupt Alben? Ist das hier die Progression der Live-CD hin zur „interaktiven Experience“? Ji-Hun Kim hat sich die neue App „Closer“ von Richie Hawtin angeguckt, angehört, angefasst – ach, was auch immer.

Der Kanadier Richie Hawtin war bekanntlich schon – so will es die Legende – bei der Geburt von Techno in Detroit dabei, und seit Tag 2 bereits ist er der ausgewiesene und selbst deklarierte Lanzenträger, wenn es um technologische Innovationen im DJ-Business geht. Hawtin entwickelte maßgeblich das digitale DJ-Vinyl-System Final Scratch mit, das die Blaupause für Traktor und Serato gewesen ist. Er baute den File-Store Beatport mit auf, spielte mit digitalen Dateien, als die Allermeisten noch unnachhaltiges Vinyl als Import kaufen wollten und selten bekamen, und entwickelte einen eigenen Mixer, der den Sound-Ansprüchen im 21. Jahrhundert gerecht werden soll. Darüberhinaus ist Richie Hawtin umtriebiger Unternehmer, betreibt seit langem Labels und Equities wie Minus und Plus 8; den japanischen Sake versucht er ebenfalls mit allen Kontakten und Einflüssen wieder auf die kulinarische Weltkarte zu bugsieren. Was treibt Richie Hawtin eigentlich an? Woher sein inhärenter Drive der Wechselwirkung zwischen Produktionsmethoden, Musik und Fortschritt seinen eigenen Nudge zu verleihen?

In den letzten Jahren war der Minimal-Techno-Pate mit seiner Performance „Closer“ weltweit unterwegs. Kürzlich erschien sein Live-Album „Closer: Combined“, eine Art Best-of-Pastiche diverser Live-Konzerte aus Glasgow, London und Tokio. Nun ist die Smartphone-App „Closer“ erschienen, die einen neuen immersiven Zugang zu Richies Live-Darbietungen bieten will. Die Frage stellt sich: Inwiefern macht es heute überhaupt noch Sinn, zwischen einem Stream, einer Playlist, einem Album und einer App zu unterscheiden? Wo doch alle nur noch von „Experience“ sprechen, aber zumeist stumpfes Konsumieren meinen? Alte Klugscheißer, die das Musikhören in den 80ern mit Platten inklusive Nadelpusten und Entstauben gelernt haben, braucht man diesbezüglich nicht anzusprechen. Deren Kommentar steht wie die Verweigerungshaltung spießiger (vermeintlich umweltschützender) Dorfbewohner gegenüber Windrädern.

Screenshot Closer 1

Screenshots aus der App „Closer“

Screenshot 2
Screenshot Closer 3

App geht der Drop

In der App gibt es derzeit zwei interaktive Live-Shows. Das Angebot soll weiter ausgebaut werden. Auch Live-Livestreams sollen bald kommen. Der erste Content ist die App-Repräsentation des Albums „Closer: Combined“, bei der zweiten gibt es einen kompakten Mitschnitt aus einem Konzert in Budapest zu bewundern. Die Downloads sind recht speicherintensiv (4,2 GB für die Combined-Performance), sollen im Zeitalter von abundanten und passiven DJ-Livestreams jedoch einen erweiterten Zugang liefern. Was durchaus gelingt: Auf dem dreigeteilten Portrait-Touchscreen können User und Fans durch unterschiedliche Kameraperspektiven swipen und Plastikman/Richie Hawtin bei seiner Arbeit über die Schulter schauen. Der Künstler arbeitet die App so auf, dass sie auch für Musiker*innen und DJs interessant ist. Was passiert gerade am Mixer? Welcher Modular-Synth wird gerade gedreht und wo kommt gerade die Hi-Hat her?

Die Performance ist in etwa das, was man heute gerne Hybrid-Liveset nennt. Zum einen gibt es fertig produzierte DJ-Files, die vom Rechner kommen. Dazu kommen Drummachines, die teils über Ableton Push angesteuert werden, ein Effekt-Bus, wie eine kompakte, aber edel kuratierte Synthesizier-Fraktion mit telegenen Patch-Kabeln. Während der Rezeption können die User nicht nur das Videosignal individualisieren, sondern auch zwischen den vier Soundquellen hin und her schalten. So, als schalte man am Master-Mischpult die einzelnen Gruppen auf solo. Dass Richie Hawtin mit der App seine Hosen runterlassen würde, wäre zu viel gesagt, aber er beweist Willen zur Transparenz – und das ist in Zeiten, wo der große Mythos des gottgleichen DJs ein ähnliches Image-Problem hat wie das von Silicon-Valley-CEOs, ein interessanter und durchaus begrüßenswerter Ansatz. Nennen wir es mal so. Und es ist gar nicht despektierlich gemeint: Die App ist eine Art Hollywood-Boiler-Room mit Stems.

Das ist alles gar kein so großes Zauberwerk – auch wenn die opulente Live-Produktion und die Hallengrößen für die allermeisten Artists Imaginationsfolie bleiben werden. Und Richie Hawtin will mit denkbar möglichen kreativen Mitteln aufzeigen, was im Bereich Techno und Rave noch weiterhin möglich ist, ohne vollends der vergilbten Musealisierung anheim zu fallen. Das scheint ihn weiterhin anzutreiben. Und auch wenn ich ihn nicht persönlich frage konnte, dürfte er bestimmt sagen, dass in heutigen Zeiten eine App die Fortschreibung der Schallplatte, CD, DVD ist. Natürlich gibt es hier mehr zu bestaunen als bei einer Live-CD und natürlich hören heute ohnehin die allermeisten Menschen nur noch Musik über das eigene Smartphone. So gesehen ist das nur konsequent, und wer auf Hawtins dräuend-brachialen und klinischen HiFi-Techno steht, ist hier bestens aufgehoben. Es offenbart sich aber die Frage nach der Demokratie von Musik. Dass jemand wie Richie Hawtin so ein aufwendiges Projekt über viele Monate mit diversen Programmier*innen, Agenturen und der tatkräftigen Unterstützung von Telekom Electronic Beats realisieren kann, ist legitim und sollte auch mit solch breitem Pektoralmuskel inszeniert werden. Alles andere wäre ein Fail. Die meisten Techno- und House-Producer hocken aber däumchendrehend in ihren Bandcamps und warten auf befreiende „Ka-ching“-E-Mails. Inwiefern sollen oder können sie motiviert werden, es den Beletage-DJs wie Hawtin gleichzutun?

Richie Hawtin Portrait Closer

Richie Hawtins Blick stets nach vorne gerichtet. | Foto: Willy_Vanderperre

Ja, wohin?

Die Entscheidung, diese Rezension als Plattenkritik zu labeln, ist bewusst gewählt. Denn selbst zu Vinyl-Zeiten konnten sich nur die besser gestellten Labels Dreifach-180-Grammer und Inlays im Vierfarbdruck leisten. Noch heute: Nur die großzügig bevorschussten Bands und Acts können sich große Live-Shows rauslassen. So gesehen ist vieles beim Gleichen geblieben. Für Fans ist so eine „Experience“ ja auch eine wunderbare Sache. Der Sound wummert präsent (gute Kopfhörer sollte man schon mit dem Telefon pairen), Publikumsjauchzer lassen den Rezipierenden auf dem Festival-Floor wähnen. Es stellt sich am Ende aber nicht die Frage, inwiefern die mediale Aufbereitung von Techno neue Wege betreten kann. Da werden sich immer Türen öffnen, auch wenn Boiler Rooms in anderthalb Jahren nur noch über TikTok laufen.

Aber wohin entwickelt sich der Sound von Techno? Der genuine Inhalt, die innere Protesthaltung, die Zukunft seiner Ästhetik und Formsprache? Doepfer-Modulars und Beatport-WAVs sind ja 2019 auch alles andere als future. Die Klänge von „Closer“ erinnern eher an einen gut ausgestatteten VW-Passat-Neuwagen. Stabil, gehobene Mittelklasse, nichts wackelt und die Elemente sitzen ingenieurhaft perfekt. Die meisten würden auch sofort in so ein Auto einsteigen und damit losfahren oder es ihrem Papa zu Weihnachten schenken. Die Mobilitätswende ist das aber nicht. Die ist ein Tesla oder ein anderes E-Auto jedoch auch nicht. Dem stets getriebenen Pionier Hawtin das zum Vorwurf zu machen, wäre aber nicht angebracht, auch nicht fair und soll auch nicht die Message hier an dieser Stelle sein. Doch man merkt gerade in so ambitionierten Projekten, dass elektronische Tanzmusik an zahlreichen Ausfransungen (gerade mit Anschlusspunkten zum Mainstream) an ein Ende des normativen Storytellings angelangt ist. Fangen wir doch alle kollektiv an, dieses ästhetische und soziale Narrativ neu zu erzählen. Viele chaotische und kontingente Elemente zuzulassen und neu zu clustern. Sich von Businessmodellen, Followerzahlen und KPIs frei zu machen und eben Dinge nicht mehr auf den Outcome und Conversion Rates zu planen. Was dann passiert? Keiner weiß es. Aber genau das macht die Angelegenheit doch wieder spannend.

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