Er gilt als einer der prägenden Vertreter eines Genres, das mittlerweile vielen musikbeflissenen Menschen mehr Bauchschmerzen als Freude beschert. Dabei war Nils Frahm schon immer viel mehr als der Träumer am Klavier, der auf der Erfolgswelle der Neoklassik dem dunkelroten Sonnenuntergang entgegen surft. Und doch fällt bei jeder Täter-/Opfer-Diskussion immer wieder sein Name. Das Feuilleton liebt ihn, die Werbeplakate für sein neues Album sind zehn Meter breit, seine Konzerte ausverkauft. Zu recht, sagt Matthias Hummelsiep, der „All Melody“ gehört und einen von vier Gigs im Berliner Funkhaus gesehen hat. Frahm ist seiner Kritik immer mindestens einen Akkord voraus.
Nils Frahm hat das Berliner Funkhaus gleich vier Abende voll bekommen. Respekt! Erleichtert und angesteckt von der euphorischen Stimmung balanciert er nach dem Konzert auf seinem beweglichen Klavierhocker. Gerade hat er sein neues Album „All Melody“ vorgestellt, das nun auf seinem Heimatlabel Erased Tapes erscheint. Im Restnebel und Scheinwerferlicht verbeugt er sich artig in alle Richtungen, eingerahmt von seinem Konzertflügel, Klavier, Mischpult, Samplern, aufgetürmten Monitoren und analogen Synthesizern. Ein auffallend durchmischtes Publikum: natürlich viele junge Leute, aber auch einige Besucher fortgeschrittenen Alters. Hier ein gähnendes Kind, dort ein wippender, blanker Käsefuß. Wären da nur nicht die ständig umfallenden Bierflaschen. Trinkt anderthalb Stunden einfach mal gar nichts, dann müsst ihr auch nicht aufs Klo! Trotzdem war das Publikum beachtlich fokussiert. Nils Frahm schafft es immer wieder, den Zuhörer in seinen Sog zu ziehen, ihn an seiner Musik teilhaben zu lassen. Viele kauften sich danach die neue Platte im Foyer, handsigniert vom Meister vor Ort. Das Konzert war mitunter ein ungewohnt hartes Brett – deutlich elektronischer als früher. Und wie klingt das Album?
„All Melody“ strotzt vor Selbstbewusstsein und Nils Frahm zeigt auf überzeugende Weise, wie umfassend sein musikalisches Interesse gelagert ist.
Frahm konnte sich nicht entscheiden, denn er wollte ursprünglich drei Alben zeitgleich veröffentlichen: eines mit Klavierstücken, ein zweites aufgenommen mit verschiedenen Musikern und Instrumenten im Ensemble und ein drittes, rein elektronisches Album. Doch aus dieser Idee wurde dann „All Melody“ geschmiedet, das alle drei Klangbereiche einbezieht. Eins wird klar beim Durchhören: Widmete sich Frahm auf allen Platten zuvor noch ausgiebig dem Klavier, rückt das Instrument auf „All Melody“ erstmals in den Hintergrund. Das Album wirkt massig mit deutlich fetteren Beats und den breit und groß angelegten orchestralen und choralen Arrangements. Die leisen Töne sind (fast) vorbei. „All Melody“ strotzt vor Selbstbewusstsein und Nils Frahm zeigt auf überzeugende Weise, wie umfassend sein musikalisches Interesse ist. Insgesamt ist es eher ein Abriss seiner momentanen Schaffenskraft: „Dieses Album vereint diejenigen Aufnahmen, die meines Erachtens nach hervorstechen, und es beschreibt meine jüngsten musikalischen Entdeckungen auf die für mich denkbar beste Art“, beschreibt er sein Werk selbst.
Seine Herangehensweise ist gewohnt unorthodox. Die Tracks haben keine herkömmlichen Songstrukturen, sondern bauen auf definierten minimalistischen Patterns auf, die Frahm mit Samples, Melodiebögen, Hall-Effekten und weiteren Spielereien auskleidet. Dabei geht es ihm immer um die Instrumente selbst und was man für Klänge und Geräusche aus ihnen heraus bekommt. Das heißt auch, dass er nicht der Typ für sound studies ist, der mit Aufnahmegerät bewaffnet durch das Funkhaus huscht, um jedes Knarzen und Quietschen aufzunehmen.
Das Funkhaus an der Nalepastraße ist die Keimzelle seiner neuen Musik. Im mondänen Saal 3 hat er mit Hilfe von Freunden in den letzten Jahren ein modernes Studio eingerichtet, die neuen Tracks eingespielt und manchmal auch auf einer Matratze übernachtet, wenn es mal wieder zu spät wurde. Hierher hat er auch einige Gastmusiker und -sänger eingeladen, die auf „All Melody“ mitwirken. „Fundamental Values“ wird von einer Trompete eingeleitet, die folgende repetitive Tonfolge wird mit Bass-Marimba und Bratsche gespielt, darüber improvisierte Klavierakkorde von Frahm. Ein Track, der ewig so weiter vor sich hin klimpern könnte und bei dem es sich lohnt, genauer hinzuhören, um die vielen kleinen Details zu entdecken. Genau mit dieser Art von Musik sorgte Frahm 2009 mit der EP „Wintermusik“ für spitze Ohren – eine Platte, die eigentlich nur für seine Eltern als Weihnachtsgeschenk gedacht, weil er keine Kohle hatte.
Doch seine entschleunigt wirkende Musik fand schnell ein dankbares Publikum und vielleicht ist auch genau das sein Schlüssel zum Erfolg – leise Töne anzuschlagen, bei denen man schon genauer hinhören muss. Er fordert damit seine Zuhörer heraus, wie zum Beispiel beim reinen Klavierstück „Forever Changeless“ vom Album „All Melody“. Nils Frahm frickelt Musik um des Klangs Willen, und der kann wie bei „Forever Changeless“ auch sehr einfach und schlicht gemacht sein. Das heißt auch, dass er in seiner Musik nie bestimmte Geschichten verarbeitet, um damit womöglich noch stärker auf die Tränendrüsen zu drücken, als die Musik es eh schon tut.
Elektronisch und majestätisch dann die halligen und großflächigen Synthesizer und der voranschreitende Beat beim Track „All Melody“, der in den letzten Jahren schon live zu hören war und bei dem Frahm bei den Konzerten zwischendurch von den elektronischen Geräten an den Flügel wechselt. Darauf folgt das treibende und nervöse „#2“ (Frahm spricht den Titel „Raute Zwei“ aus). Er raved sich bei diesem Track ganz besonders zwischen seinen Pulten warm, regelt hier und da, als wäre er nur für sich. Mit seinem Maschinenpark wird der ausgebildete Pianist nun auf ausgedehnte Welttour gehen, die der nächster Höhepunkt seiner steil gehenden Karriere werden soll. Bespielt werden Konzerthäuser und Clubs in Nordamerika und Japan, doch zunächst stehen 34 fast allesamt ausverkaufte Konzerte zwischen Bordeaux und Oslo an. In Europa ist Nils Frahm definitiv angekommen.