Plattenkritik: New Order – Music Complete„Solchen Songs kann man doch nicht böse sein?“ – ein Streitgespräch
24.9.2015 • Sounds – Gespräch: Thaddeus Herrmann, Ji-Hun KimNew Order wollen es nochmal wissen. Dabei hat sich die Band um Bernard Sumner in den vergangenen Jahrzehnten wiederholt aufgelöst, angebrüllt, wieder vertragen und schließlich erneut in die Haare bekommen. In dieser Zeit sind auch einige gute Tracks und Alben entstanden, auch wenn die Band oft lediglich auf „Blue Monday“, „Bizarre Love Triangle“ und natürlich das Joy-Division-Erbe reduziert wird. Dabei trifft die ewig mitschwingende Melancholie von „Love Will Tear Us Apart“ auf niemanden mehr zu als New Order selbst. Nach zehn Jahren Pause erscheint nun das neue Studioalbum der Band: „Music Complete“. Klingt nach Schlussstrich, scheint aber eher ein Neustart zu sein. Auf die Zukunft von New Order werden in Wettbüros in Manchester bestimmt ein paar Pfund fünfzig gesetzt. Derweil hören Ji-Hun Kim und Thaddeus Herrmann gemeinsam das Album. Und besprechen es in Echtzeit. Bewusst unvorbereitet. Ein Streitgespräch, in dem vor allem Einigkeit herrscht. Musik ist eben doch nur Musik, complete hin oder her.
##01. Restless
Thaddeus: Du und New Order. Wie ist das so?
Ji-Hun: Gute Frage. Finde ich schon ziemlich super, jeden Song kenne ich aber nicht in- und auswendig. Aber New Order waren für mich immer die besseren Joy Division, auch wenn mich dafür viele lynchen wollen.
Thaddeus: Von mir nicht, ich bin da ganz bei dir. Aber: New Order war und ist für mich eine Track-Band, keine Album-Band. Es gibt unfassbar tolle Songs. Konsistente, gute Alben aber nur wenige, meiner Meinung nach. „Brotherhood“ gehört dazu, die Rock-Platte, und natürlich „Get Ready“, die beste der Band. Dieser Track hier, der hätte dort auch drauf sein können. Unprätentiös, ein guter Pop-Song.
Ji-Hun: Stimmt es, dass diesmal Peter Hook nicht dabei ist? Der Bass klingt dafür aber ziemlich nach ihm. Was ist da passiert?
Thaddeus: Der ist ja schon seit 2007 nicht mehr dabei. Die Details des Zerwürfnisses erinnere ich nicht, es ist ja nur eine von vielen Trennungen in der Band-Geschichte. Die haben sich immer wieder gezofft, gehasst, wieder zusammengerauft. Manchester halt.
Ji-Hun: Ich finde den Opener aber ganz schmissig, funktioniert in Glastonbury genauso wie im Schlafzimmer.
##02. Singularity
Ji-Hun: Du hast das Album ja schon gehört … Für mich ist es die Premiere. Gänzlich unvorbereitet.
Thaddeus: Ok, ich gebe zu, ich hab schon geschmult. Und bin nicht so richtig überzeugt. Warum? Auf „Get Ready“ hatte es die Band geschafft, Rock und Elektronik wirklich stimmig zu verbinden. Rock- oder Stücke, aber irgendwie immer auf Maxi-Länge und auch arrangiert wie Techno-Tracks. Das fand ich brillant. Hier auf der Platte entgleitet die Mischung der Band ein wenig. Das hat viel mit Sounds zu tun. Solchen Verzerrungen wie gerade, oder auch den ziemlich cheesy Arpeggios.
Ji-Hun: Das Synthie-Riff ist aber schon eine Reminiszenz an „Bizarre Love Triangle“, oder? Ich verstehe den Rave hier nicht so recht.
Thaddeus: Eben! Seit „Bizarre Love Triangle" sind ja auch 20 Jahre vergangen. Das müsste man ein bisschen besser reflektieren.
Ji-Hun: Schon eher 30 Jahre, oder?
Thaddeus: Die 80er sind für mich immer 20 Jahre her. Boah, jetzt kommt der Drop!
Ji-Hun: Gute Altersstrategie. Muss ich mir merken. Aber hey, irgendwie kann man solchen Songs nicht böse sein. Das ist wie mit der Verwandtschaft, die hat man halt lieb.
Thaddeus: Kein Thema. Oha, jetzt wird es emotional-weltraumig. Nächster Track.
„Die Hacienda hat seit 3.000 Jahre zu, man muss doch irgendwann mal wieder nach vorne schauen!“
##03. Plastic
Ji-Hun: Da soll doch jemand von den Chemical Brothers mitproduziert haben. Das könnte das doch sein.
Thaddeus: Wenn jetzt der Breakbeat kommt, ja. Ah, 909-Trash. Auch geil.
Ji-Hun: Ich rate mal, dem ist so. Hacienda, he?!
Thaddeus: Ja, es gab in den 90ern eine ganze Armada von One-Hit-Wondern, die so klangen. Nur eben ohne die Hits. Komische Britpopraveschlager.
Ji-Hun: Ja, das Bassline-Arpeggio und die Pads sind ein bisschen, sagen wir, generisch. Oder ist das doch Trademark-Sound?
Thaddeus: Peter Hooks Basslines sind ja immer noch Teil des New-Order-Sounds, obwohl Hook gar nicht mehr dabei ist.
Ji-Hun: Keine Frage, der jetzige Bassist, wer das auch immer ist, hat den schwierigsten und undankbarsten Job im Pop-Business.
Thaddeus: Dafür ist ja aber die alte Keyboarderin wieder dabei. Darf ich weiter skippen? Ich mag das nicht so richtig.
Ji-Hun: Ne, warte mal. Chris-Liebing-Moment, Alter.
Thaddeus: Dummdidumm ...
Ji-Hun: Anders gefragt: Altern New Order eigentlich gut? Hier ist man sich nicht so sicher.
Thaddeus: Ich finde nein. Habe aber auch keinen Vorschlag, wie die Band besser hätte altern können. Mir scheint das alles ein wenig unreflektiert in den Sounds. Klar, das war mal so. Aber die Hacienda hat ja nun auch schon 3.000 Jahre zu, man muss doch irgendwann mal wieder nach vorne schauen. Das hier, das ist die falsche Richtung.
##04. Tutti Frutti
Ji-Hun: Nun ja. New Order sind jetzt nicht A-ha!, haben es aber auch nie in die Liga von Depeche Mode geschafft. Da kennst du dich aus. Analysieren Sie mal. Der Song „Tutti Frutti“ fängt aber auch so an, wie er heißt. Kiwi oder Erdbeere?
Thaddeus: Geht auch Mango? Wir leben doch in der Zukunft, oder? Ich kann zu Italo Disco nichts Schlaues sagen, auf der Hugo-Egon-Balder-Waage ist mir das hier aber zu sehr Schlager und zu wenig alles andere. Knallt komplett raus.
Ji-Hun: Unterschätze Hugo Egon Balder nicht, der ist ein veritabler Musiker.
Thaddeus: Der hätte den Track auch anders gedreht, unbedingt!
Ji-Hun: Ja, trotz Disco-Vorliebe muss ich dir da beipflichten. Das ist leider nichts.
##05. People On The High Line
Thaddeus: Vielleicht wird’s ja jetzt wieder besser. Ah, nach Disco kommt Funk.
Ji-Hun: Nile-Rodgers-Gedächtnisgitarre und Piano-Akkorde. Hmm. Klingt genauso wie der Song davor.
Thaddeus: Das will ein Rave-Piano sein, ist aber eher eins aus dem Western-Saloon.
Ji-Hun: Ist es eigentlich gut oder schlecht, dass Bernard Sumners nie singen gelernt hat?
Thaddeus: Ich finde das nicht schlecht. Ich mag es, wenn Stimmen manchmal einfach umkippen. Ist sympathisch. Der Rest des Songs darf nur nicht zu komplex sein. Sonst fällt es zu schnell auf. Wie wäre denn Sumner mit richtig viel Autotune? Kann man das mal ausprobieren, bitte?
Ji-Hun: Autotune macht ja auch nichts besser, und ich liebe ja falsche Stimmen. Stell dir nur mal Blue Monday mit Freddie Mercury vor.
Thaddeus: Besser macht das natürlich nichts, aber moderner! Naja. Blue Mercury? Hui. Können wir uns darauf einigen, dass das hier einfach ein Track ist, der es früher nicht mal auf die B-Seite einer 7” geschafft hätte?
Ji-Hun: Für mich sollte ein gutes Album im zweiten Viertel an Tiefe gewinnen. Diese Version von Deepness steht nicht in meinem Dictionary.
Thaddeus: Ich mach die Percussion mal aus.
„Wusstest du, dass Iggy Pop ein kürzeres Bein hat?“ „Nee, aber ein kürzerer Track wäre mir lieber.“
##06. Stray Dog
Ji-Hun. Nochmal zu meiner Frage von vorhin, Thaddi. Wieso sind New Order nie so groß wie Depeche Mode geworden?
Thaddeus: These: Weil die Band live immer scheiße war.
Ji-Hun: Och, ich hab die 2001 glaub ich mal in Köln gesehen und fand Peter Hook und Co. schon ganz geil.
Thaddeus: Es gibt so ein paar Bands, die live einfach nichts drauf haben. Oder anders: Nicht genug, um wirklich den Ruf aufzubauen, den es braucht, um in die ganz große Oberliga vorzustoßen. The Jesus & Mary Chain zum Beispiel. Was für eine Katastrophe auf der Bühne. Gut, die hatten auch nie Bock drauf. Aber ich glaube, dass New Order das früher auch nie wollten. Vielleicht täusche ich mich. Aber als Liveband sind die nie zusammengewachsen. Vielleicht ist das heute aber auch anders, mit teilweise neuer Besetzung. Wer weiß.
Ji-Hun: Apropos Oberliga. Sag mal, ist das nicht Iggy Pop?
Thaddeus: Und wie. Der hat ja eine große Elektronik-Karriere vor sich. Wenn mich nicht alles täuscht, macht der gerade eine Platte mit Carsten Nicolai zusammen.
Ji-Hun: Dein Ernst?
Thaddeus: Doch, doch, da war was. Kommt noch dieses Jahr, glaube ich. Kann nur besser sein, als das hier, oder? Obwohl …
Ji-Hun: Bin ja skeptisch. Wusstest du, dass Iggy Pop ein kürzeres Bein hat?
Thaddeus: Ein kürzerer Track wäre mir lieber. Aber nee, wusste ich nicht. Der Arme!
Ji-Hun: Jetzt haben wir die Platte aber gefressen. Prejudice-Button auf Reset. Jetzt.
##07. Academic
Thaddeus: Hat geholfen. Geht toll los.
Ji-Hun: Ja, klassisch, ein bisschen wie der erste Song. Aber stimmt mich versöhnlicher.
Thaddeus: Es gibt ja die unterschiedlichsten Vorstellungen darüber, wann und mit welchem Sound New Order nun am besten sind. Das hier macht für mich viel Sinn. Und bei dem Refrain hängt man doch gerne vor dem Späti rum.
Ji-Hun: Ja, mit Taschenlampe und Feuerzeug statt Handy im Publikum. Als Konzerte noch Konzerte waren. So jetzt genug altklug gescheißert. Will ein bisschen wie „Crystal“ sein, schafft es aber nicht, oder?
Thaddeus: Ja, stimmt. Aber „Crystal“ war ja auch ein wirklich erhabener Track. An dem darf man sich gerne noch ein paar Mal versuchen.
Ji-Hun: Erhaben trifft es gut.
Thaddeus: Und der hier, der hätte auch schon vor drei Minuten vorbei sein können. Das meinte ich vorhin. Wenn New Order gut sind, dann gelingt es ihnen, diesen einen Moment praktisch endlos in die Länge zu ziehen.
##08. Nothing But A Fool
Ji-Hun: Was ist eigentlich dein Lieblingssong der Band. Also so richtig Lieblingssong?
Thaddeus: Der eine Track? „Shellshock“, in der 12”-Version.
Ji-Hun: Aha.
Thaddeus: Und deiner?
Ji-Hun: Ich bin da Mainstream. „Bizarre Love Triangle“ finde ich jedes Mal herzzerreißend schön. Wenn der auf irgendeiner betrunken-schlechten Party läuft, falle ich jedes mal wie im Songtext auf die Knie und himmel irgendwen an.
Thaddeus: Ja, bei diesem Song wird mir auch immer noch ganz warm ums Herz.
Ji-Hun: Finde den Song aber prima. Gefällt mir gut.
Thaddeus: Total. Episch. Dreht sich die Platte noch zum Ende hin?
##09. Unlearn This Hatred
Thaddeus: Here we go again, Ravekeule.
Ji-Hun: Bisher bester Songtitel auf jeden Fall. Oh ne, warte. What …? Eieieiei, wie kann man denn, da wurde es gerade so gut! Der Chorus pegelt es wieder ein bisschen ein. Aber das ist es leider nicht.
Thaddeus: Den Drum-Break fand ich gut. Den haben sie sich bei Atari Teenage Riot abgeguckt.
Ji-Hun: Glaubst du ernsthaft, bei dem Song hatten die Atari Teenage Riot auf dem Schirm?
Thaddeus: Auf gar keinen Fall! Das macht die 909 auf Wunsch ganz alleine.
Ji-Hun: Das ist mir, um dich zu zitieren, zu viel eierlegende Vollmilchsau. Dancepop trifft Butch-Techno-Beats anno 2006 und dann wieder New-Order-typische Basslines. Das ist im wörtlichen Sinne kaputt produziert.
##10. The Game
Thaddeus: Den hier mag ich. Weiß gar nicht warum!
Ji-Hun: Klingt einfach konsistenter und rockiger. Vielleicht können die das einfach besser mittlerweile?
Thaddeus: Dance Music im klassischen Sinne versteht die Band jedenfalls anno 2015 grundlegend falsch.
Ji-Hun: Ich finde es aber gut, dass Bernard Sumner heute nicht mit der Swedish House Mafia oder Avicii zusammen Tracks macht.
Thaddeus: Vielleicht müssten die ihn ja nur fragen? Egal. Vergessen. Ganz schnell. Passt viel besser so, wie es ist.
Ji-Hun: Nach dem Ritt bin ich echt gespannt, wie das Album abschließt.
##11. Superheated
Ji-Hun: Ballade zum Schluss?
Thaddeus: Harfe!
Ji-Hun: Das mit der Ballade nehme ich zurück. Der erste lupenreine Pet-Shop-Boys-Song auf dem Album. Ein ganz smarter Move, muss ich sagen.
Thaddeus: Irgendwie passt das gut. Entwickelt sich zu einem guten Song. Hätte ich nach den ersten Takten nicht erwartet. Crescendo zum Schluss?
Ji-Hun: Und? Was sagst du zum Abschluss?
Thaddeus: 50/50. Wie ganz oft bei New-Order-Alben. Aber das macht nichts. Ich hab die irgendwie so lieb, dass ich mich immer freue, wenn sie dann doch noch eine Platte machen. Und sich doch nochmal wieder gegenseitig in die Augen schauen. Die Welt kann dadurch eigentlich nur besser werden. Pathetisch, ich weiß, aber ich folge nur dem Song.
Ji-Hun: Ich bin auch hin- und hergerissen. Hat gute Momente. Man will bei den Aussetzern aber nicht wirklich glauben, dass da mehr dahinter steckt.
Thaddeus: Lösung: Mach dir eine Playlist mit den guten Songs und packst noch „Bizarre Love Triangle“ rein.
Ji-Hun: Check!