Das Londoner Trio zeigt mit seinem zweiten Album, wozu Rock im 21. Jahrhundert in der Lage sein kann. Und wieso Bands heute so wichtig sind.
Was Genres und Stilistiken im Pop anbetrifft, ist das 21. Jahrhundert bislang ein Jahrhundert der Konsolidierung. Wurde in den 90ern noch gefühlt alle drei Wochen das Rad neu erfunden und die Verschränkungen zwischen technologischen Entwicklungen (Personal Computer, Sampler, MK2, Internet etc.) und musikalischem Output eng verbunden, bietet die Gegenwart eine völlig andere Basis und Spielwiese als noch vor zwanzig Jahren.
Gerade die 90er waren vielleicht das beschleunigteste Jahrzehnt der Musikgeschichte – und Journalist:innen waren sich nicht zu schade, Genres im Zeitraffer zu erfinden wie Zara heute Kleidungsstücke. Aus Oldschool HipHop wurde New School, East Coast gegen West Coast, Conscious wollte anders sein als Gangsta Rap. In England war der Teilchenbeschleuniger auch bekannt als Hardcore Continuum besonders aktiv: Acid House, Hardcore, Happy Hardcore, Jungle, Drum and Bass, Garage, Post Garage, 2Step, IDM – wir kratzen hier nur an der Oberfläche.
Das hatte indes viel mit Individualisierung zu tun. Es gab einen gewissen Zwang der Entscheidung. Was in den 60ern mit den britischen Subkulturen anfing, erreichte in den 90ern quasi einen Höhepunkt. Jugendliche mussten ihr knappes Taschengeld für Musik und Mode und das Dazugehören zu einer Subkultur wohl überlegt investieren. Ob man als Raver:in sich zu Gabber, Trance, French House oder Drum and Bass zuordnete, war quasi wie eine Ehe, ein Schritt, der so schnell nicht rückgängig gemacht werden konnte. Alpha-Industries-Bomberjacke mit baggy Vintage-Cordhose ging nicht. Alleine die Grabenkämpfe, die im Hardcore (also dem Punk-Epigon) ausgefochten wurden, wirken rückblickend zwar romantisch aber auch ein bisschen naiv. War etwas Straight Edge oder nicht? Ist das schon Emo? Ist das noch Emo oder schon der Ausverkauf an den College Rock? Es war viel Ideologie dabei.
Was ist neu?
Wer heute eine Band gründet oder Musik macht, hat eher das Problem, dass der Fundus an Einflüssen und Referenzen nahezu unendlich ist. Habe ich als Teenie noch mit wachsender Nase genickt, wenn jemand fragte: „Kennste nich, hasse nich?!“, oder man musste sich anhand einer Plattenrezension mühsam imaginieren, wie eine Platte geklungen haben könnte, ist heute das Pop-Universum in Klang und Bild eine Sekunden-Suchanfrage entfernt. Popmusik unterliegt keiner linearen Historizität mehr. Sie verknüpft sich jeden Tag neu und schafft je nach Blickwinkel ständig neue Kontexte. Der Generationenkampf in den 70ern äußerte sich ästhetisch und politisch: „Wir tragen jetzt Iro und stecken uns Sicherheitsnadeln durch die Backe.“ Aber auch zu Beginn des Jahrhunderts war es ein Politikum, wenn man mit Laptop statt Band auf die Bühne ging und sich nicht wenige wunderten, was das soll und nicht weniger schimpften: „E-Mails auf der Bühne schreiben kann ich auch.“ Heute haben Heavy-Metal-Bands genauso Laptops auf der Bühne wie Funk- und Soul-Bands. Die Weiterentwicklung von Pop ist weniger plakativ, sie spielt sich eher im Hintergrund ab, beziehungsweise in neuen Sichtachsen. Gerade ältere Generationen monieren gerne, dass heute nichts Neues mehr passieren würde und immer die gleiche Suppe neu aufgekocht. Sei es, dass Trance und harter, schneller Techno auf den Dancefloors wieder regiert oder dass seit einigen Jahren unzählige Indie-Bands rauskommen, bei denen es schwer auszumachen ist, ob die Musik tatsächlich neu ist oder aus den Nineties stammt.
Aber wieso schreibe ich das alles? Auch weil die englische Band Moin mit ihrem zweiten Album „Paste“ in diesem Zusammenhang sehr gut in die heutige Zeit passt. Beim ersten Hören ist man verleitet abzuwinken, das klinge wie Post-Rock aus den späten 90ern. Dann aber ist es das wieder nicht. Gerade wenn man sich die Zusammenstellung des Trios anguckt. Zum einen sind Moin das experimentelle Elektronik-Duo Raime (Joe Andrews und Tom Halstead), das bislang mit düsteren und komplexen Ambient-Alben auf sich aufmerksam machte, aber auch den Boiler Room mit Jungle-DJ-Sets auseinanderzunehmen vermochte. Und zum anderen wäre da die Weltklasse-Schlagzeugerin und Perkussionistin Valentina Magaletti, die ich bislang eher unter Kunstmusik, Improvisation und experimenteller Performance eingeordnet hätte, so auch ihre Arbeit „Batterie Fragile“, bei der sie ein Drumkit aus Keramik in Museen und Theatern spielt. Oder „A Queer Anthology of Drums“, das 2020 auf Takuroku erschien, dem Label des legendären Café OTO in London.
Neue Perspektiven
Bei Moin denkt man hingegen an Chicago, an Labels wie Thrill Jockey und Touch & Go. Als hätte die Band 20 Jahre nie etwas anderes gemacht, dabei ist das exakte Gegenteil der Fall. Das musikalische Ergebnis bei „Paste“ ist konkreter geworden als noch beim Erstling „Moot“, der noch zackiger und unverfrorener klingt. Die neun Tracks sind in sich simplizistisch, spannen in ihrer Gesamtheit aber einen interessanten Rahmen auf, der eben auch die experimentellen und elektronischen Hintergründe der Beteiligten durchschimmern lässt, das jedoch nie referenziell oder selbstgefällig. Die verzerrrten Gitarren sägen alles andere als verhalten und sind sehr selbstbewusst, und man darf das Projekt auch nicht missverstehen. Es ist hier beileibe nicht so – wie zu oft in der Geschichte –, dass arrivierte elektronische Producer plötzlich meinen, „echte“ Musik machen zu müssen, sich neben ein Orchester stellen oder eine mediokre Band zusammenstellen und dabei sich dann doch arg zu vergreifen und man eher mitleidsvoll-wohlwollend wie bei Kindergartenkindern in die Hände klatscht. Das Ergebnis zwar äußerst bescheiden, aber ein Fleißbienchen für Courage darf man vergeben. Immerhin hat man sich getraut und „neue Synergien“ geschaffen. Ach Maria, was wurde hier schon alles falsch gemacht. Und wie oft sind erfolgreiche DJs und Producer:innen schlichtweg miserable Musiker:innen.
Bei Moin entstehen eben jene neuen Sichtachsen und Perspektiven, von denen ich eingangs gesprochen habe. Hier entsteht Rock, der sich weder vergangenen Szenen unterordnet, noch nach Bestätigung in diesen heischt. Es wirkt nicht gewollt und hat ebenso mit dem Narrativ des Post-Rock, das als Gegenentwurf auf reaktionären Bestandsrock verstanden werden kann, wenig zu tun. Immer wieder tun sich spannende Brechungen auf. Sind das jetzt wirklich Bass und Gitarre oder woher kommt jener Abstraktionsgrad, der in bestimmten Sequenzen ganz eigene Stimmungen erzeugt? Kann man das jetzt Post-Post-Post-Rock nennen? Muss man nicht. Weil ich denke, dass es heute immer unwesentlicher wird, neue Genres und Klassifizierungen zu bemühen. „Paste“ dürfte demnach zahlreiche Lesarten anbieten. Für mich ist es aber der Beweis, dass London nach so tollen Serendipitäten wie Black Country, New Road, deathcrash, Black Midi und eben auch Moin die spannendste Stadt für Rock und Bandmusik geworden ist (was immer noch überrascht) und „Paste“ ist nicht nur ein exzellentes Beispiel dafür. Es zeigt auch, dass sich diese Art der Musik eventuell vor einer großen Neudefinition mit viel Potential befindet. Für einiges muss das passende Vokabular eventuell erst noch entwickelt werden.