Plattenkritik: Mark Pritchard – Under The SunRostrot wie der Mars
13.5.2016 • Sounds – Text: Thaddeus HerrmannNach rund 25 Jahren und gefühlten 756 Releases veröffentlicht Mark Pritchard das erste Album unter seinem eigenen Namen.
28 East Boyz, Africa HiTech, Chameleon, Chaos & Julia Set, Global Communication, Harmonic 33, Jedi Knights, Link & E621, Mystic Institute, Pulusha, Reload, Secret Ingredients, Series 7, Shaft (2), Use Of Weapons, Vertigo, Harmonic 313, Link, M. Meecham, N.Y. Connection, Roberto Edwardo Turner, Troubleman, William Parrot.
Unter diesen Namen prägt Pritchard seit rund einem Vierteljahrhundert die elektronische Musik. Allein oder gemeinsam mit anderen Musikern. Pritchard hat gemeinsam mit seinem langjährigen Weggefährten Tom Middleton als Global Communication Ambient neu definiert. Als Link Drum And Bass um eine smashende Variante erweitert, als Reload Techno geprägt, als Jedi Knights Electro und mit Harmonic 313 dem auf allen Kanälen stotternden Detroit eine Liebeserklärung mit auf den Weg gegeben. Nur mit seinem eigenen Namen wollte Pritchard selten in die Öffentlichkeit. Was macht das Album „Under The Sun“ also so besonders, das nun der richtige Zeitpunkt gekommen scheint?
Wer so lange dabei ist, so viel erreicht hat, muss sich und der Welt nichts mehr beweisen. „Under The Sun“ speist seine Kraft aus genau dieser langen kreativen Schaffensperiode, die hinter Pritchard liegt. Praktisch jedem Genre der elektronischen Musik hat er mit seinen Ideen einen nachhaltigen Stempel aufgedrückt, das neue Album scheint als eine Art Rückkanal zu fungieren, über den die Essenz der Vergangenheit konzentriert und akzentuiert in Richtung Gegenwart schwappt, dabei aber stets nur schleierhaft angedeutet bleibt und sich selten in nachvollziehbaren Tracks manifestiert. 16 Stücke packt Pritchard auf sein Album, Bibio ist dabei Thom Yorke ebenso genau wie Linda Perhacs. Immer dann wird es konkret, wird aus der Skizze ein festes Fundament. Die restlichen Entwürfe schweben kontinuierlich kurz über dem Erdboden. Das gilt auch für das Stück „The Blinds Cage“, das Pritchard gemeinsam mit Beans vom Anti-Pop-Consortium aufgenommen hat, eine dystopische Spoken-Word-Performance, die ungewöhnlich ritterlich-distanziert daherkommt. Distanz und Dystopie sind ohnehin entscheidende Stichworte.
Pritchard kann nicht anders, als auch dieses Album als schillernden Science-Fiction-Entwurf zu maskieren. Das gehört bei ihm seit jeher zum guten Ton, ist Identifikationsmoment und prägender Stichwortgeber. Durch die sich im stetigen Fluss befindliche Stimmung der Platte jedoch, entfaltet „Under The Sun“ eine Sogwirkung, wie man sie so von Pritchard noch nicht kannte. Wäre die Platte ein Film, ein Science-Fiction-Film – was sonst – dann wäre „Under The Sun“ eher ein zeitlupiger Weltraumflug von Kubrick’schem Ausmaß, als eine effekthaschende Schlacht von Gut gegen Böse. Es wäre ein friedlicher Film, der Weltraum wäre heller als sonst und doch wäre immer Vorsicht geboten. „Under The Sun“ ist eine fast schon mystische Auseinandersetzung mit dem Gefühl des Sich-Behütet-Fühlens in unsicheren Zeiten. Pritchard erreicht das mit Sounds, die bekannt und vertraut scheinen, dabei jedoch rein gar nichts mit klassischen Erwartungshaltungen in Richtung elektronischer Musik zu tun haben. Wäre das Album eine Farbe, wäre „Under The Sun“ rostrot. So wie noch manche Geländer oder Absperrgitter angemalt sind, mit reichlich Patina und vielen Stellen, an denen der Großteil der Farbe schon wieder abgeplatzt ist. Das befördert Erinnerungen, schafft aber auch Vertrauen. Darüber stülpt Pritchard die Magie, die nur er beherrscht. Unvorhersehbare Kehrtwenden, überraschende Bass-Explosionen, rumpelnde Percussion, Folk-Ausbrüche minnegesanglicher Ausmaße, minimal pulsende Sähkö-Reminiszenzen, ambiente Experimente und kluge Brüche, die das Album immer wieder auf Null zurücksetzen.
Mit „Under The Sun“ ist Mark Pritchard ein beeindruckendes Album gelungen. Ein Album, das man so von ihm nicht unbedingt erwartet hätte, gleichzeitig aber schon seit langer Zeit in der Luft lag. Es war Zeit für einen ähnlich ganzheitlichen Entwurf wie zum Beispiel das Ambient-Meisterwerk 76:14 von Global Communication, auch wenn beide Platte rein gar nichts gemein haben. Was nicht weiter verwunderlich ist. Es liegen ja auch 24 Jahre dazwischen, in denen viel passiert ist. Und die Pritchard konstant mit seiner Musik begleitet hat.