Plattenkritik: Kid Koala – Creatures of the Late Afternoon (Phonocordia)Turntable-Pionier erschafft Brettspiel-Konzeptalbum
20.4.2023 • Sounds – Text: Ji-Hun KimNach über 20 Jahren im Geschäft erfindet Kid Koala aka Eric San die Schallplatte neu.
Der kanadische Künstler und Musiker Kid Koala hat sich vor 20 Jahren den Ruf als kreativster und deepster Turntablist der Welt etabliert. Niemand konnte mit Scratches, Samples, Dubplates und präzisen Skills so berührende Geschichten schreiben. Kid Koala zeichnet Comics, hat Musik für Filme gemacht, sein Fokus liegt aber noch immer auf seinem Instrument, dem Turntable. Das ist immer wichtig zu sagen, weil die wenigsten Turntablists haben es wirklich geschafft, eine eigene künstlerische Handschrift zu entwickeln, die sich vom Showboat-Sich-Selbst-Abfeiern auf Contests emanzipiert. Nun ist sein neues Album erschienen. „Creatures of the Late Afternoon“ ist zunächst ein Doppelalbum. Aber darüber hinaus ist das Vinyl ein Brettspiel und die Geschichte darin die Grundlage für eine Bühnenshow, die demnächst weltweit aufgeführt werden soll. Ein Konzeptwerk also und mir wäre nicht bekannt, ob es so etwas in der Geschichte bis jetzt gegeben hat. So wird das Musikmedium wieder zum sozialen Event.
Man erkundet das Cartoon-Universum um einen Studiokomplex, in dem diverse musikalische Kreaturen ihren Lebensmittelpunkt haben. Sie eint der gemeinsame Kampf, das in der Nähe liegende Naturkundemuseum zu retten. Es geht aber auch um großindustrielle Algorithmen und Tech-Giganten, die die Welt der Musik und Kunst bedrohen. Das Ende der Artenvielfalt, das Ende der Musik, Klimakatastrophe – es geht hier also um etwas, und die Themen sind trotz der fantasievollen Gestaltung von Corinne Merrell alles andere als realitätsfern. Das Brettspiel ist mit 150 Spielkarten aufwändig und komplex gestaltet. Die 20 Tracks auf der Doppel-LP sind ebenso aufwändig produziert. Jedes Instrument auf der Platte wurde von Kid Koala selbst aufgenommen. Darunter Klavier, Schlagzeug, Bass, Synthesizer, Saxophon, Trompete, Klarinette, Vibraphon, Hammond-Orgel, E-Gitarre, Clavinet, Drum-Machine, Tremoloa, Banjo, Kontrabass, Pauken, Mundharmonika, Theremin, Wurlitzer E-Piano, Rhodes-Piano, CP70-Piano, Percussion, modulares Sequencing, Modem und Effekte. Die Stems hat der Musiker wiederum auf seinem eigens gebauten Vinylcutter auf Platte schneiden lassen, um die Tracks auf seinen Turntables zu kreieren. Für das 82 Sekunden lange Stück „Jump & Shuffle“ wurden per Hand über 1.130 Scratches und Cuts zusammengeschnitten.
Es ist also auch eine künstlerische Liebeserklärung an das Medium Schallplatte. Heute, in denen Platten oft nur noch Sammelobjekte und Geldanlagen sind, fordert Eric San aka Kid Koala die Fans quasi auf, sich intensiv mit dem Objekt auseinanderzusetzen. Die Karten müssen geschnitten, die Würfel gefaltet und die Figuren geklebt werden. Angrabbeln und Anfassen ausdrücklich erwünscht. Für Turntablisten ist das Vinyl das Werkzeug. Wer also das Album in Mint auf Discogs weiterverkauft, ist ein Feind der Musik. „Creatures of the Late Afternoon“ ist ein charmantes Vinyl-Kunstwerk mit vielen liebevollen Details. Es zeigt auch den vielschichtigen Wert, den das haptische Medium mit sich bringt. Die Geschichten werden reicher, um so häufiger man damit spielt.