Plattenkritik: Dub Tractor – WaitFür alle Sternen-Gucker:innen
10.2.2023 • Sounds – Text: Thaddeus HerrmannDer Kopenhagener Musiker Anders Remmer ist einer der renommiertesten Electronica-Produzenten weltweit. Mit seinem neunten Album geht er neue Wege.
Ich weiß noch ziemlich genau, wo ich Anders Remmer zum ersten Mal erlebt habe. Wann? Da wird es schon schwieriger. Egal. Irgendwann in den 1990er-Jahren spielte Dub Tractor zusammen mit Opiate und mindestens noch einem weiteren Act in der Berliner „Maria am Ostbahnhof“. Zu DDR-Zeiten war das wohl ein wichtiges Postamt – direkt am heutigen Ostbahnhof und damaligen Hauptbahnhof gelegen. Die Umbauarbeiten im wenige Gehminuten entfernten Berghain waren noch pure Fantasie – die ganze Gegend ein Wasteland. Da stand dieser schlaksige Typ mit der dominanten Brille auf der Bühne an seiner MPC (wenn ich das recht erinnere) und hämmerte Tracks auf die PA. Das hatte Swing und Groove – und dass es in Kopenhagen Menschen gab, die genau die Musik machten, die ich damals feierte, war ein ziemlicher Flash. Ich kannte die Musik von Dub Tractor, aber nicht den Menschen dahinter. Wir tranken ein Bier.
So entwickelte sich eine Freundschaft, die in einigen Releases auf dem Label mündete, das ich mit einem Freund in Manchester zu diesem Zeitpunkt gerade gegründet hatte. Diese Info ist wichtig, denn natürlich bin ich befangen, wenn Anders Remmer heuer – nach sechs Jahren Stille – neue Musik veröffentlicht. Ich hatte mit diesen zwölf Track weder gerechnet, noch hatte ich an Dub Tractor in den vergangenen Jahren wirklich gedacht. „Wait“ ist so wichtig. So groß und so anders (sic!).
Den Style von Dub Tractor zu beschreiben, ist nicht ganz einfach. Gut, der „Dub“ ist im Projektnamen angelegt und war bislang eigentlich auch immer auf seinen Produktionen gegenwärtig. Die Meta-Ebene des Echos, der dirt der Tape-Loops zwar nicht immer präsent, aber doch verlässlicher Taktgeber. Denn Remmer ist mit so viel Musik aufgewachsen, dass das klassische Venn-Diagramm für die Beschreibung des Künstlers in den hellsten Farben sofort implodiert. Ja, aber nein. Vielleicht, aber Moment mal. Mit seiner Liebe zum Indie-Rock einerseits, seinem Gesang, seinem Gitarren- und Bassspielen andererseits und seinem Wissen über elektronische Musik saß Remmer immer mitten zwischen den Stühlen – und fühlte sich pudelwohl. Diese Stühle sind natürlich erst „relevant“, seitdem Spotify Genres erfunden hat, die es so gar nicht gibt, junge Menschen aber irgendwie abholt. Ich kenne mich damit nicht aus, auch wenn ich mich beruflich auseinandersetzen müsste.
„Wait“ ist anders. Gesang? Passé. Bassgitarre? Ebenso. Tatsächlich ist „Wait“ eine Art Rücksturz zu seinen Ursprüngen. Zur Auseinandersetzung mit den elektronischen Produktionsmitteln und einem klaren Fokus auf Klang. Dort: die Schaltkreise. Hier: ich. Lasst uns anfangen. So oder so ähnlich wird die initiale Phase von „Wait“ abgelaufen sein. Schicken wir die Oszillatoren auf die Rennbahn. Und schauen, was passiert.
Die zwölf Tracks erzählen mit minimalem Einsatz eine maximale Geschichte. Sie sind still-pulsende Miniaturen, die zwischen fast schon zufällig aufgesetzten Arpeggios und eindeutigem musikalischen Storytelling Wärme und Ruhe orchestrieren. Gleichzeitig aber auch Bewegung, Entwicklung, epische Größe und kaum sichtbare Verletzlichkeit ausleuchten Und zahlreiche Referenzen referenzieren, die uns alle abholen.
Über den Jahreswechsel schaute ich die „TV“-Serie Night Sky. Ich liebe J.K. Simmons, Setting und das extrem langsame Erzähltempo gefielen mir ausgesprochen gut. Schade, dass es keine zweite Staffel geben wird. Wenn Herr Simmons und Frau Spacek in ihrer Aussichtskuppel sitzen und die ihnen fremde Welt betrachten, hätte ich mir als Untermalung die Musik von Dub Tractor gewünscht. Meine Güte, hätte das gut gepasst. Viel besser als das schon ziemlich gute Sound-Design der Serie. Ich denke auch – wenn wir schon beim Thema Sound-Design sind – an Raymond Scott und seine Arbeiten für die Bendix Corporation. Deren Claim „The Tomorrow People“ hallt in mir bis heute nach. Dub Tractor macht genau das. Musik für die „Tomorrow People“, wenn vielleicht auch nur für die Gelegenheiten, in denen die Techniker:innen chillen und in den Weltraum schauen.
Lasst uns alle mehr träumen.