Plattenkritik: Chat Pile – Cool World (The Flenser)This is America

Chat Pile Cool World Cover

Dass Rock aus den USA immer noch politisch relevant, sozialkritisch und innovativ sein kann, beweist die Band Chat Pile aus Oklahoma. Keine zarte Kost, dafür substanziell und eindringlich zugleich.

Nach zwei Wochen Hit-Radio im Urlaubsauto merkt man schnell: Nur Sommerhits aus den Achtzigern und Neunzigern machen auch krank im Kopf. Es ist wie zwei Wochen Burger King und Spaghettieis. Das geht einfach nicht. Umso substanzieller und aussagekräftiger erschien mir im kalten Berlin daher das zweite Album von Chat Pile „Cool World“. Chat Pile sind eine Noise-Rock-Band aus Oklahoma mit viel Überschneidungen zu Metal respektive Sludge Metal. Dazu zählen laut Genrekanon die Melvins, Clutch, Unsane, Neurosis – alles ziemlich großartige Bands. Chat Pile schrauben das Narrativ weiter. Die Erscheinung relativ un-metalig. Die Videos eher rau und artsy. Sänger Raygun Bush, der weniger ein klassischer drahtig-athletischer Shouter ist, sondern stattdessen wie ein bierseliger, aber wütender Onkel am Zaun zetert und über die Missstände der amerikanischen Gesellschaft klagt, aber dennoch empathisch und rührend philosophisch zugleich ist.

Chat Pile sind sozialkritisch und ein garstig berstender Entwurf für amerikanischen Rock der Gegenwart. Die Band spielt auch technisch auf einem beeindruckendem Level. Verstecken neue Techniken, Riffs und Rhythmen in einer vermeintlich klassizistischen Produktion. Die Hallräume, Gitarreneffekte und das Gating der Drums referieren eher an The Cure und My Bloody Valentine als an moderne, klinisch geschnittene Metal-Produktionen. Die Songs wabern, klatschen, sind organisch, miefen nach kaltem Rauch und apokalyptischen Whiskey im Proberaum. „Cool World“ ist wie ein staubiger, rougher Roadtrip – ein großer amerikanischer Roman, der Missstände offenbart und die Geschichten der Unsichtbaren erzählt, fordernd ist, sich im Kopf festsetzt und den so schnell nicht mehr verlässt. Das muss ein Album erstmal können.

Pageturner – Oktober 2024: Realität(en)Literatur von Claire Dederer, Isabel Wilkerson und Frank Bruni

Plattenkritik: Bogdan Raczynski – You're Only Young Once But You Can Be Stupid Forever (Disciples)Laptop-Musik von heute für damals