Plattenkritik: Adam Wiltzie – Eleven Fugues For Sodium Pentothal (Kranky)Kein Eskapismus
12.4.2024 • Sounds – Text: Thaddeus HerrmannDen US-amerikanischen Komponist und Musiker Adam Wiltzie kennt man vor allem von seiner Arbeit mit Stars Of The Lid. Aber wie klingt es, wenn er solo arbeitet?
Ein alter Schulfreund von mir verreist gern. Wir sehen uns nicht oft – nicht oft genug –, aber immer wenn wir zusammensitzen, meist in größerer Runde mit weiteren ehemaligen Pennälern, erzählt er euphorisch entweder von einem gerade absolvierten oder dem bereits geplanten nächsten Urlaub. Auch Ausflugstipps für die Region hat er immer parat. So schickte er mir kürzlich ein paar Fotos der Radarstation auf dem Teufelsberg im Berliner Grunewald. Wo früher zu Mauerstadtzeiten das US-amerikanische Militär den Ostblock belauschte, wird heute zwar kaum mehr als langweilige Streetart gezeigt und Limo verkauft, die Kulisse ist aber einmalig. Natürlich war ich dort oben schon, es ist aber Jahre her. Sofort erinnerte ich mich nicht nur an die Aussicht, sondern auch den charmanten Decay dieser Örtlichkeit. Der nächste Ausflug kommt bestimmt. Warum ich das hier schreibe? Ich wünsche mir, dass Adam Wiltzie dort oben auf dem Teufelsberg in der bröckelnden Kuppel ein Konzert mit seinem neuen Album „Eleven Fugues For Sodium Pentothal“ spielt.
Aber wer ist überhaupt Adam Wiltzie? Eine Legende, wie ich in diesem Magazin schon mehrmals behauptet habe. Er spielte bei Starts Of The Lid, bis sein Band-Partner Brian McBride 2023 verstarb. Er ist bei A Winged Victory For The Sullen, hat mit Labradford gearbeitet und den Flaming Lips und Aix Em Klemm gegründet. Kranky halt. Ein großer Musiker unserer Gegenwart, der auf seinem neuen Album eben diesem unserem gegenwärtigen Leben tief in den Schlund schaut. Orchestral und ambient. Aber eben nicht neoklassisch berechenbar, sondern wurzelnd in einem Sound- und Kompositions-Design, das praktisch all seine Projekte und Veröffentlichungen getragen hat und trägt. Tragend, aber nie depressiv. Überlegt, aber nie zurückhaltend. Sanft, aber nie lasch. Und wenn die Bögen die Saiten streichen und die Synthesizer in der Hallfahne von Texas träumen und dabei auf die halbakustische Gitarre warten, deren einziger Akkord den Sonnenuntergang um mehrere Stunden am Horizont zurückdrängt, dann ist die Welt plötzlich für einen kurzen Moment erträglich.
Wiltzie mag das anders sehen mit der Erträglichkeit. Er sagt, ein Traum sei der Ausgangspunkt für dieses Album gewesen. Ein Traum, den er regelmäßig durchlebt hat. Dass Menschen, die seine Musik hören, sterben. Vielleicht braucht dabei zumindest ab und zu den Gedanken an einen temporären Ausstieg aus allem in Form eines Anästhetikums. „Eleven Fugues For Sodium Pentothal“ ist ein Album, bei dem zumindest ich ganz zu mir komme, alles um mich herum vergessen kann. Das ist kein Eskapismus, dafür gibt es ja bekanntlich Deep House. Die Platte ist eher eine Art Stützstrumpf für das mitunter überforderte Gehirn, eine Konzentrations- und Kontemplationshilfe, um das zu reflektieren, was wirklich wichtig ist. Wiltzie wäre nicht Wiltzie, wenn er um diesen ihm in die Schuhe geschobenen Ansatz nicht einen wundervoll gewebten Mantel des cinematischen Arrangements legen würde. Das Gefühl, der state, der dabei entsteht hat erst im Nachgang etwas mit der Idee des Sich-Wohlfühlens zu tun. Das Auf und Ab in den Stücken spiegelt einen struggle, den wir alle tagtäglich erleben, ob wir es nun zugeben oder nicht. „Eleven Fugues For Sodium Pentothal“ ist in all seiner Distanziertheit auch immer offen. Und mindestens so tief wie Jòhannsson zu seinen besten Zeiten. Und genau das möchte ich live auf dem Teufelsberg erleben.