Jeden Freitag haben wir drei Platten für euch – zumeist drei Tipps, mindestens aber drei Meinungen. Nicht immer neu, doch immer die Erwähnung wert. Heute mit: Niagara, Nils Frahm und Oliver Doerell / Jawad Salkhordeh.
Niagara – Magna Moralia
Christian: Seit beinahe zehn Jahren schickt das Trio Niagara Musik aus dem portugiesischen Underground in die Welt. Auf ihrem eigenen Label erschienen vor allem CD-Rs mit unkategorisierbaren, aber visionären Lo-Fi-Instrumentals (eine Übersicht bietet die gerade bei Discrepant erschienene Compilation „1807“. Für das Label Príncipe geleiteten António Arruda, Alberto Arruda and Sara Eckerson ihren Sound erst auf die Tanzfläche, und umgehend wieder hinab: Auf „Pais & Filhos“ überwogen düster-dräuende Synthesizer-Studien. Synthesizer sind der gemeinsame Nenner im Output der Band, und sie stehen auch im Mittelpunkt des neuen Albums, müssen sich das Rampenlicht aber diesmal mit einem Klavier teilen. Auf „Magna Moralia“, das bei der Warp-Tochter Disciples erscheint, zeigen Niagara erneut ein neues Gesicht. Es ist eine Verbeugung vor New-Age-Musik, eine Art Genre-Exkursion und ihr bisher langhaarigster Release. Begleitet von zartem Klingeln künden gleich zu Beginn Piano-Figuren und strahlende Klangflächen von einer bisher unbekannten Harmonie. Hier darf es plätschern und flöten, und hin und wieder ziehen fluoreszierende Arpeggi durch den Mix. Im Gegensatz zum ungestümen Frühwerk ist diese Moralia designte Friedfertigkeit. Liquide Musik, die zwar wie eine Jam anmutet, in Wahrheit aber perfekt konstruiert sein dürfte (wie Niagara improvisierend klingen, lässt sich hier nachhören). Musik, die – wie in „VI“ – wiederholt auseinander zu fallen droht, aber doch immer wieder zusammenfindet. Was in den weiter hinten platziertenTracks des Albums geschieht, vermag ich dann auch gar nicht mehr sagen, da hatte mich „Magna Moralia“ längst rausgeschoben. Zwar nicht aus der Welt, aber doch aus jedem Analysemodus.
Nils Frahm – Old Friends New Friends
Jan-Peter: Ich habe eine Zeitlang, die ist aber schon was her, recht viel von dieser pianesken Musik gehört. Ludovico Einaudi, Francesco Tristano, Hauschka, ich werfe schon jetzt vieles in einen Topf, das vielleicht nicht in einen Topf gehört. Nils Frahm, ja den auch. Es gibt, das wissen wir alle, ja einen regelrechten Frahm-Tribe. Dazu zähle ich definitiv nicht, aber sein neues Album möchte ich trotzdem vorschlagen. Wie so viele Projekte, deren Resultate in diesen Zeiten erscheinen, ist es auch ein Coronababy in dem Sinne, dass Frahm die Stücke nun, da Konzerte selten sind, kuratieren konnte. Entstanden sind sie bereits seit 2009, aufgenommen auf unterschiedlichen Klavieren – logisch. Ein Klavier, ein Klavier: „Nils Has A New Piano“ heißt auch ein Stück, Nummer 14 von insgesamt üppigen 23, eines der lieblichsten. Obwohl, lieblich ist hier ja eigentlich alles. Was auch gleichzeitig eine enorme Enge erzeugt. Etwas mehr Chromatik, Spannung erzeugende Akkorde, das ist ja seine Sache nicht so wirklich. Nils Frahm spielt Steely Dan, das wäre mal was. Oder Joe Hisaishi wenigstens. Nun denn, wenigstens wird bei uns im Büro gerade die Wand aufgebohrt. Das gibt der Elegie einen gewissen Beatboden.
Oliver Doerell / Jawad Salkhordeh – سایه
Thaddi: Das Jahresende ist bestimmt durch Platten und Veröffentlichungen von Freunden. Ich bin beim reviewen dieser Alben tatsächlich nur wenige bzw. gar nicht mehr befangen. Hätte mich das neue Album von Arovane nicht gekickt – ich hätte es einfach liegen gelassen. Das Gleiche gilt für diese Zusammenarbeit von Oliver Doerell und dem aus Iran stammenden Musiker Jawad Salkhordeh. Der spielt Tombak-Trommel und die Setar, eine Laute mit langem Hals. Diese klassischen Instrumente der persischen Musiktradition fallen in das wie immer emotional aufgeladene Sound-Bett von Doerell, dem immer noch besten Innenausstatter für musikalisch unerwartet komplexe Raumarchitektur. Und natürlich passen beide Welten perfekt zusammen. Denn: Es ist mitnichten so, dass hier Tradition auf Moderne trifft. Auch Doerells Mischung aus Elektronik und Field Recordings ist mittlerweile Teil einer langen Tradition und somit „nur“ ein weiteres Versatzstück unserer globalen Kultur. Eine Kultur, die – westlich dominiert – natürlich nach wie vor versucht, sich mit „exotischen“ Ansätzen, also dem Kolonial-Sampling, interessant zu machen. Wenn zwei Freunde sich offen und vorbehaltlos jedoch ihren Einflüssen widmen, beide sich für die Arbeit des jeweils anderen interessieren und – das ist wichtig – sie auch verstehen, dann entsteht hoffentlich etwas Magisches. Genau das ist beiden Musikern gelungen.