Mitgehört: Musik aus dem Filter-SchwarmHeute: Marc Oliver Grad – Kardiologe und Fotokünstler
15.7.2019 • Sounds – Protokoll: Martin Raabenstein, Illustration: Isabell SimonIn seiner Kolumne „Mitgehört“ befragt Martin Raabenstein ganz unterschiedliche Menschen, was sie musikalisch umtreibt. Von prägenden Momenten bis zu aktuellen Highlights: Die Jukebox des Filter-Schwarms wird mit jeder Folge bunter. Dieses Mal: Marc Oliver Grad. Ohne Musik kann der Berliner Kardiologe nicht. Zwischen Jonny Greenwood, Visible Cloaks, Kamasi Washington, Steely Dan und The Rah Project findet er die innere Ruhe und Konzentration, die es in so einem Job braucht. Oder auch in der Fotografie, seiner zweiten großen Leidenschaft.
Lieber Marc Oliver, stell dich doch zunächst kurz vor.
Ich wurde 1963 in Hamburg geboren und bin am Bodensee aufgewachsen. Ich lebte dann eine Weile in München, bis es mich dann zum Medizinstudium nach Berlin zog – das war 1986. Danach habe ich in verschiedenen Berliner Kliniken als Kardiologe gearbeitet: am Deutschen Herzzentrum, dem Universitätsklinikum Charité Virchow und dem Unfallkrankenhaus Berlin. Gemeinsam mit lieben Kollegen haben wir dann das POLIKUM aufgebaut, ein ärztliches Versorgungszentrum in Bezirk Steglitz, bei dem ich dann auch später einer der Leiter war.
Neben der Medizin beschäftige ich mich viel mit Fotografie, eigentlich schon seit Mitte der 1980er-Jahre, auch wenn das lange brach lag. Seit zehn Jahren interessiere ich mich nun erneut verstärkt dafür. Das war eine ganz langsame Wiederannäherung. Mit der Erfahrung wuchs auch mein Equipment. Irgendwann habe ich dann die abstrakte Fotografie und die Langzeitbelichtung für mich entdeckt. Die meisten meiner Motive sind in realem Umfeld geschossen und durch eine bewusste Verschiebung des Fokus in die Unschärfe gezogen. Die surreale Anmutung meiner Arbeiten gewinne ich durch verschiedene Layer oder Doppelbelichtung. Das eigentliche Objekt der Aufnahme entsteht so als neues, reinterpretiertes Werk im Auge des Betrachters.
Schön, dass du uns in deinen musikalischen Alltag schauen lässt. Bevor es damit losgeht: Woran arbeitest du gerade?
Danke dir! Ich arbeite derzeit an sehr unterschiedlichen Projekten im medizinischen Bereich. Das sind der Aufbau meiner eigenen Praxis und ein weiteres, größeres Projekt, bei dem auch neue Behandlungsmethoden für Herzschwächepatienten angewandt werden. Dazu habe ich eine EKG-App für die Apple Watch entwickelt, die seit kurzem im App Store zu haben ist. Am allerliebsten allerdings widme ich meine Energie der Fotografie: Ich experimentiere gerade sehr viel, um die Grenzen meiner Darstellungsform zu erweitern, konnte in letzter Zeit sehr gut verkaufen und möchte darüberhinaus mein Studio vergrößern.
Was hörst du zur Zeit gerne?
Elektronische Musik ist Kern und Ausgangspunkt meines musikalischen Zugangs. Darum beginne ich hier meine Liste mit „Everything Is Recorded“ von Richard Russell, „Serenitatem“ von Visible Cloaks, Yoshio Ojima & Satsuki Shimano, „Rock Music“ von Shlohmo oder „Bodysong“ von Jonny Greenwood. Greenwood bildet einen wunderbaren Übergang zur Neoklassik, auch dafür interessiere ich mich. Und mag aktuell besonders die „Bach Reworks“ von Víkingur Ólafsson, dazu springt mir sofort „Piano Works“ von Philip Glass ins Ohr. Auch die Violinen-Konzerte von Shostakovich passen hier gut, eingespielt von Eldbjørg Hemsing & Olari Elts mit den Wiener Symphonikern. Greenwood gibt mir zudem einen schönen Link zu Kamasi Washingtons „Heaven And Earth“ oder „Score“ von The Raah Project. Von da ist es für mich dann nicht mehr weit zu Weltmusik. Als kleinem Nachtisch zu gesättigten, musikalischen Abenden genehmige ich mir gerne „San Patricio“ von den Chieftains mit Ry Cooder. Jun Miyakes „Live In Paris“ oder „Lost Memory Act 2“ runden das Ganze ab. Eine kleine, mich schon seit meiner frühen Jugend begleitende Schwäche ist der Sound der Fender Stratocaster oder der Gibson Les Paul. Darum habe ich eine immer wiederkehrende Sehnsucht nach Rock: das wären dann „Live At Leeds“ von The Who oder „The Dark Side Of The Moon“ von Pink Floyd.
Was macht das alles so speziell für dich? Dazu hast du doch bestimmt eine sehr persönliche Geschichte zu erzählen.
Richard Russell ist ein Schlitzohr, mit seinem exczellenten, genreübergreifenden Gespür bringt er mein Herzblut umgehend in Wallung. „Serenitatem“ ist eine meisterhafter Spagat zwischen traditioneller und elektronischer Musik. Minimal Music von Philip Glass oder Steve Reich beglücken mich schon sehr lange. Bei Víkingur Ólafsson hatte ich das große Glück, den Meister persönlich kennenzulernen und wunderbare Abende mit ihm verbringen. Dazu gibt es eine kleine Anekdote: Als Glass sich bei ihm meldete, um über eine gemeinsame USA-Tour zu reden, erwiderte Vikingur verdattert: „Der Philip Glass, ich dachte, der sei schon lange tot?“. Auf Hemsing wurde ich durch eine befreundete Cellistin aufmerksam und war sofort begeistert. The Raah Project stehen für mich für genialen Crossover-Jazz, absolute Virtuosität gepaart mit genialer Kompositionstechnik und das ganze dann noch mit Rap unterlegt – großartig. Washington ist für mich jazzsymphonischer Overdrive, die Art, wie er seine Soli wie in eine zehnschichtige, mehrfarbige Zuckerwatte verpackt, das ist genau meine Musik.
Verbringst du generell viel Zeit mit Musik? Wo hörst du am liebsten Musik und warum?.
Ich liebe es neue Tracks aufzuspüren, forsche jedem unbekannten Sound umgehend hinterher, ganz egal, ob ich ihn im Radio oder im Restaurant gehört habe. Musik wirkt bei mir wie lebenswichtige Vitamine. Ich höre immer Musik, ich denke, da liebt bei mir eine kleine Störung vor. Bei meiner Arbeit kommen ständig Leute ins Zimmer, da brauche ich eine gewisse Wall-Of-Sound, um nicht unablässig abgelenkt zu werden. Ob bei manchmal langwieriger Büroarbeit, beim Sport – ich fahre für mein Leben gerne Fahrrad und Snowboard – oder beim Fotografieren, die Musik ist unablässiger Teil meines Lebens. Es gibt allerdings eine Ausnahme: bei Bergwanderungen lausche ich lieber der Natur, ohne Zutaten, ganz pur sozusagen.
Und dein All-time-favourite? Track oder Album?
Das ist eine hundsgemeine Frage, für jemanden, der ebenfalls eine sehr weite musikalische Spannweite hat. Ich sag jetzt mal ganz frech: „Do You Feel Like I Do?“ von Peter Frampton, einfach um dich zu ärgern. Das könnte ich mit meiner langen Jugend als Garagenband-Mitglied argumentieren, immer in diesen mieffigen Kellern auf bierdurchsafteten Flokatiteppichen, von den großen Live-Events träumend. Immerhin sind wir mal auf einem Landjugend-Ball aufgetreten, das war natürlich genau das Gegenteil zu Framptons Ruhm. Die ehrlichere Antwort, du ahnst es sicherlich, ist „Aja“ von Steely Dan. Wann immer ich umzog, war der Aufbau der Stereo-Anlage meine erste Aktion in der neuen Wohnung. Und „Aja“ natürlich die Scheibe, die ich auflegte. So konnte ich die Raumakustik prüfen und gleichzeitig alte Geister austreiben und mir neue herbeiwünschen.