Jóhann Jóhannsson – A User’s ManualChapter 9 – Copenhagen Dreams (2012) – Deutsch
2.5.2022 • Sounds – Gespräch: Kristoffer Cornils, Thaddeus HerrmannWeit über 20 Alben hat Jóhann Jóhannsson in seiner Karriere veröffentlicht. Wer weiß schon, wie viele Tondokumente noch in der Schublade liegen, die posthum noch veröffentlicht werden könnten. Regelmäßig lassen Kristoffer Cornils und Thaddeus Herrmann das Werk des Komponisten Revue passieren – chronologisch, Album für Album. In der neunten Folge geht es um „Copenhagen Dreams“ aus dem Jahr 2012, den Soundtrack zum gleichnamigen Film von Max Kestner, der bereits 2009 erschien.
English Version? Click here.
Wieder ein Soundtrack, wieder in einem vollkommen anderen Setting: 2009 veröffentlichte der dänische Regisseur Max Kestner den urbanen Dokumentationsfilm Copenhagen Dreams beziehungsweise Drømme i København. Seine Stadt, seine Bilder. Beton vs. Himmel, leere Straßen, volle Straßen, semi-konkreter Voyeurismus, angedeutete Bewegungen hinter Fenstern der Großstadt. Verkehr, Menschen, Umwelt, eine eingedampfte vermenschlichte Variante von Koyaanisqatsi, die in keinem berühmt-berüchtigten Moloch spielt, sondern in einer der wunderbarsten Städte Europas, inmitten derer, die „Hygge“ erfunden haben. Also morbid irgendwie, vor allem aber kuschelig. Auftritt Jóhannsson. Ihm gelingt es, mit seiner ganz eigenen Interpretation von Melancholie diesen stillen Bildern einen aufwühlenden Puls hinzuzufügen. Drei Jahre nach dem Film erschien 2012 der Soundtrack.
Thaddi: Soundtracks für Städte? Hmm, tja, also. Ich nähere mich diesem Album von JJ – einem absoluten favorite, um das vorauszuschicken –, eher abstrakt. Denn ich weiß rein gar nichts über Kopenhagen. Or do I? Denn als Westberliner Junge wuchs ich mit der Olsenbande auf, deren Filme im DDR-TV rauf und runter liefen. Bei uns zu Hause waren DDR 1 und DDR 2 in der Röhre eingespeichert. Ich habe viele Erinnerungen an diese Filme, die in ganz unterschiedliche Richtungen wuchern. Mit meinem Vater (er hat die alle auf DVD und will sie mir immer leihen) rekapituliere ich die fröhlichen und so skurrilen wie absurden Momente. Was aber wirklich hängengeblieben ist: die Leere der Stadt. Die „Gangster“-Gang marschierte immer durch leere Straßen. Das muss anstrengend gewesen sein, immer kurz nach Sonnenaufgang am Sonntagmorgen zu filmen, wo nur Busse ohne Menschen durch die Gegend fuhren. Ich selbst erlebte die Stadt erst 1991 – auf Interrail. Und war vollkommen begeistert und verzaubert. Weil: In Kopenhagen war man schon so viel weiter als in Berlin. Alles lief, alles funktionierte – und Getränkedosen waren in ganz Dänemark verboten. Was ein Heaven! Später dann lernte ich die Szene der elektronischen Musik kennen und fand viele Freunde, die mir noch heute sehr wichtig sind.
Aber zurück zu diesem Album. Die Idee, mit schöner Musik den Alltag in einem urbanen Zentrum zu orchestrieren, ist weder originell noch neu. Nun muss ich aber auch zugeben, dass ich den Film in seiner Gänze nicht gesehen habe. Vielleicht könntest du mir, Kristoffer, mal dein Login zu MUBI „borgen“, dort kann man Copenhagen Dreams nämlich streamen. Wie so oft bei Jóhannsson ist mir jedoch auch hier das ausschlaggebende Bewegtbild eher egal. Ich lege mich in dieser Mischung aus Streichern, Piano, Knispel und Echo einfach ab. Und vergesse dabei alles. Auch wann ich die Platte gekauft habe. Das Vinyl steht im Regal, aber die Kreditkarte wurde mit Sicherheit erst Jahre nach 2012 belastet. Was ich sagen will: Ich verliere langsam aber sicher die Timeline-Festigkeit im Werk von Jóhannsson. Das ist aber auch ganz schön, weil ja auch nicht wichtig. 2009? 2012? Scheißt der Geysir drauf. Oder bin ich auf dem vollkommen falschen Pfad, Kristoffer?
Kristoffer: Wo du dich damit rumtreibst, kann ich nicht sagen. Eine Steilvorlage lieferst du mir von dort aus dennoch, weil ich ganz genau weiß, wann und sogar wo ich „Copenhagen Dreams“ gekauft habe: Rough Trade East, Herbst 2012. Ich habe den heutzutage relativ normalen und damals noch schwindelerregenden Preis von umgerechnet 28 Euro bezahlt, weil ich eine – laut Hype-Sticker – farbige Variante des Albums dafür hätte bekommen sollen. Habe ich dann aber doch nicht und deshalb ans Label geschrieben, die mir netterweise meines relativ unfreundlichen Tons zum Trotz eine Extra-12" in grüner Farbe aus den USA rübergeschifft haben. Gut, dass die Vinyl-Version im Gatefold kam, jetzt habe ich eine Doppel-LP der gleichen Platte in schwarzer und grüner Farbe drin.
Und wo ich schon bei persönlichen Anekdoten mit wenig Mehrwert für unser Publikum bin, kann auch gleich die nächste kommen: In Kopenhagen war ich vielleicht mal als Kind, weil die Familienurlaube im Herbst gerne auf Rømø oder sønstwø in Dänemark stattfanden. Als Erwachsener war jedoch erst im Jahr 2018 in der Stadt. Es gab vegane Hot Dogs, viel teures Bier und ein zu lautes Techno-Festival. Top! Rückblickend kann ich die Stadt indes lediglich bedingt mit diesem Soundtrack in Verbindung bringen. Was auch daran liegt, dass MUBI den Film zwar listet, ihn aber nicht in Deutschland verfügbar gemacht hat, weshalb ich ihn nicht gesehen habe. Das Prinzip ist immerhin einleuchtend, wie du allerdings sagst auch nicht neu. An der Stelle noch eine Randnotiz, bevor wir zur Musik übergehen: Bitte aufhören, „Menschen am Sonntag“ neu zu vertonen. Es reicht!
Also, jedenfalls ... Ich hatte „Copenhagen Dreams“ lange nicht mehr gehört, gut drei Jahre lang nicht mehr – sagt mir zumindest mein treuer last.fm-Account. Ich hatte von der Platte vor allem im Gedächtnis, dass mir nach jedem Durchlauf davon nur sehr wenig im Gedächtnis hängenblieb. Die Stücke sind schließlich kurz und sehr impressisonistisch – nicht ganz so definiert wie auf „Englabörn“, eher schlierig wie „And in the Endless Pause There Came the Sound of Bees“. In den meisten Fällen zumindest. Ich liebe das Cover. Schätzungsweise handelt es sich schlicht um einen Still aus dem Film Kestners, aber es schien mir immer schon perfekt, die Musik darunter zu umschreiben: Flüchtiges, im Moment fixiert. Grobkörnig und doch von einer Strahlkraft. Ein vernebelter Glanz. So höre ich auch diese Stücke, die weitgehend auf der mit „IBM 1401, A User's Manual“ und „Fordlandia“ etablierten Formel basieren: Orchester- beziehungsweise Kammermusik trifft auf elektronische Manipulation und klangliche Beigaben aus der elektronischen Musik. Dazu noch ein paar post-rockige Momente, die an „Dís“ oder besser noch das Frühwerk von Sigur Rós erinnern, sowie die üblichen Taschenspielertricks aus Jóhannssons Repertoire. Schön. Nur was macht das im Gesamten so besonders für dich?
„Kompositorisch empfinde ich dieses Werk als nahezu perfekt.“
Thaddi: Stichwort Elektronik: Die kommt hier stellenweise wirklich ganz besonders laut durch. Und das mag ich sehr gern. Weil es eben nicht den generellen Ton verändert, sondern im Werk Jóhannssons nur einen ganz subtilen Akzent setzt, der uns schon immer bewusst und bekannt war. Kompositorisch empfinde ich dieses Werk als nahezu perfekt. Die Schönheit, das gleichbleibend Beliebige, die Perfektion in kurzen, kaum messbaren Momenten. Das funktioniert auch, wenn ich das Stadtbild von Kopenhagen nicht mitdenke. Schon sehr gut.
„Ist das vielleicht sogar die bestmögliche Herangehensweise, um eine Stadt – oder zumindest einen solchen Film über dieselbe – in all ihrer Komplexität zu … spiegeln, kommentieren?“
Kristoffer: Ich finde das Stichwort der Beliebigkeit ziemlich bemerkenswert. Denn obwohl oder gerade weil du das wertfrei meinst und es also kein Vorwurf ist: Die Heterogenität dieser Skizzen oder besser gesagt Vignetten ist ja kaum zu leugnen. Hier taucht ein quietschfideles Streicherquartett auf, dort erklingen verhuschte Piano-Akkorden. Deswegen meine Frage nach dem Gesamt(klang)bild: Was bleibt da eigentlich zurück, wenn „Copenhagen Dreams“ einmal durchgelaufen ist? Bei mir in der Vergangenheit zumindest reichlich wenig. Das liegt nicht an den einzelnen Stücken als solchen, die trotz ihrer Kürze – nicht wenige sind knapp eine Minute, das längst gerade einmal viereinhalb Minuten lang – doch vor Einfallsreichtum geradezu platzen. Sondern daran, dass sie scheinbar beliebig nebeneinander stehen, keine wirklichen Anknüpfungspunkte miteinander haben. Das finde ich nicht schlecht, eigentlich, aber es lässt mich „Copenhagen Dreams“ einerseits nicht unbedingt als kohärentes Ganzes wahrnehmen und andererseits wirft es in mir die Frage auf: Ist das vielleicht sogar die bestmögliche Herangehensweise, um eine Stadt – oder zumindest einen solchen Film über dieselbe – in all ihrer Komplexität zu … spiegeln, kommentieren? Was meinst du?
Thaddi: Als erklärter „Feind“ von Soundtracks, die vor allem oder ausschließlich aus ebensolchen kurzen Snippets bestehen, kann ich hier konstatieren: Die Musik ist für mich auch als Album rund und schlüssig. Warum ist das so? Schwierig! Vielleicht ist es der vereinende Duktus, der Ton, die Stimmung, in der/mit der alles zusammenfließt. Musikalisch bin ich hier tatsächlich bei Jóhannsson. Und entkopple dann auch auch den thematischen Bezug. Das ist meinerseits per se schon ein Statement, da ich mich ja in den vergangenen Episoden unsere gemeinsamen Reihe immer wieder gegen das Prinzip „Soundtrack“ ausgesprochen habe. Hier passt alles. Geschenkt: Es mag die kategorische „Sweetness“ der Musik sein, die mich packt. „Copenhagen Dreams“ ist vielleicht das einzige Album Jóhannssons ohne jegliche Ecken, von Kanten ganz zu schweigen. Aber das passt schon. Und es gibt Momente, in denen ich (wir? alle?) das auch brauchen. Wir reden da nochmal drüber, wenn wir uns mit „The Theory Of Everything“ beschäftigen.
Kristoffer: … was ja einer meiner erklärten Lieblings-Soundtracks Jóhannssons ist, auch wenn ich ihn nur schwerlich verteidigen kann. Aber wenn wir nun doch beim Thema sind: Ist „Copenhagen Dreams“ nicht vielleicht eine Art Sammlung von Soundtrack-ähnlichen Kompositionen, die recht bedeutungsoffen scheinen und eigentlich aber, na ja, dann doch beliebig wirken, wenn sie aus dem Kontext gehoben werden? Ich liebe einige dieser Stücke, ich finde vor allem ihre Titel faszinierend – die allerdings womöglich auf den Film rekurrieren, so genau weiß ich das nicht. Ich frage mich allerdings, ob ich sie für sich genommen wirklich genauso genießen würde wie hier. Ich habe das Gefühl, wir schauen mit „Copenhagen Dreams“ dem Komponisten in seiner Werkstatt über die Schulter. Eben hatte er noch „Fordlandia“ und „And in the Endless Pause There Came the Sound of Bees“ fertiggestellt, schnitzt ein paar kurze und, genau, süßliche Stückchen zusammen und denkt schon darüber nach, wo er die eigentlich unterbringen kann. Und weil aber das nächste Projekt – in der Chronologie wäre das „The Miners’ Hymns“ – etwas musikalisch ganz anderes braucht, wirft er all das in einen Topf.
„ Ich verstehe dieses Album eher als eine Zeitkapsel voller Polaroids – ein unsortiertes Wirrwarr aus Momentaufnahmen.“
Ich weiß gerade kaum mehr, worauf ich hinaus will, ich meine nur: „Copenhagen Dreams“ klingt für mich bisweilen wie eine Aneinanderreihung von Demos aus dem Portfolio eines Komponisten, der später den Hollywood-Soundtrack neu definieren soll und hier aber noch mit seinen hart erarbeiteten Mitteln ein bisschen Stückwerk produziert. Das finde ich im Endergebnis toll, eventuell aber schließt sich damit aber auch ein Kapitel. Denn danach folgen die großen und wenig später die ganz, ganz großen Auftragsarbeiten oder besser gesagt Kollaborationen mit Denis Villeneuve. Danach ging es eigentlich kaum mehr zurück zu einem solchen Sound wie diesem. „Copenhagen Dreams“ verstehe ich deswegen vielleicht eher als eine Zeitkapsel voller Polaroids – ein unsortiertes Wirrwarr aus Momentaufnahmen. Was nun eigentlich wieder bestens zum Sujet des Films passt.
Thaddi: Was du ja eigentlich sagen willst: Du liebst dieses Album, weißt aber nicht genau warum oder willst es nicht zugeben. Ich hab dich lieb. Das ist doch genau der Punkt: Wir hören hier jemandem zu, der sich entwickelt, orientiert. Egal, wie schwer oder bedeutungsvoll seine Alben zuvor waren: Hier droppt jemand Sounds und Tracks auf Bewegtbild, das irgendwie mäandert. Eine Stadt, seine Menschen, Architektur, Verkehr, whatever. Und er packt bei diesen Kompositionen seinen inneren Satie aus. Nichts anderes tut Jóhannson ja hier. Und nun stell dir Erik mal mit einem Moog vor. Wie hätte sich die Welt entwickeln können!? Egal, auch alles nicht wichtig. Wie in kaum einem anderen Soundtrack von Jóhannsson höre ich hier ein Album, das auch jenseits aller Bilder eine wirklich bedeutungsvolle Tiefe entwickelt.
Kristoffer: Ich weiß nicht genau, was ich daran liebe – völlig richtig. Das finde ich aber gerade so attraktiv an „Copenhagen Dreams“. Denn du hast Recht, da steckt eine gewisse … nennen wir es mal Kontingenz drin, die in vielen seiner ansonsten so stringenten Soundtracks und Alben überhaupt nicht zu finden ist. Als Soundtrack, als Album stellt es insofern eine Anomalie in seinem Werk dar. Eine ganz leise, einladende, schöne.
Thaddi: Die Kopenhagen-Kontingenz. Mit diesem Begriff unter dem Arm lass uns einfach einen Betriebsausflug machen, um das genau zu überprüfen. Ich habe gerade keinen gültigen Perso. Sobald der erneuert ist, ruf ich dich an – mit gebuchtem EasyJet-Ticket.
Kristoffer: Um es mit Track sieben zu sagen: „They Dream They'll Get There“!