Jóhann Jóhannsson – A User’s ManualChapter 7 – Personal Effects (2008) – Deutsch
29.9.2021 • Sounds – Gespräch: Kristoffer Cornils, Thaddeus HerrmannWeit über 20 Alben hat Jóhann Jóhannsson in seiner Karriere veröffentlicht. Wer weiß schon, wie viele Tondokumente noch in der Schublade liegen, die posthum noch veröffentlicht werden könnten. Einmal pro Monat lassen Kristoffer Cornils und Thaddeus Herrmann das Werk des Komponisten Revue passieren – chronologisch, Album für Album. In der siebten Folge geht es um den nach Jóhannssons Tod veröffentlichten Soundtrack zum Film „Personal Effects“ von David Hollander.
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Ein bisschen scheint es so, als seien unsere Jóhannsson-Experten in der Chronologie durcheinandergekommen: Nicht nur liegen die Veröffentlichungsdaten des Films „Varmints“ (Oktober 2008) und „Personal Effects“ (Dezember 2008) nah beieinander. Das aus dem ersteren Projekt entwickelte Album „And in the Endless Pause there Came the Sound of Bees“ (Juni 2009) erschien auch lange vor dem OST von Hollanders Film. Der indes war zwar schon im Mai 2009 auf DVD zu haben (ein halbes Jahr nach Premiere: nie ein gutes Zeichen), bis zur Veröffentlichung der Musik aber verstrich noch viel mehr Zeit: Ende Mai 2020 legte die Deutsche Grammophon den Soundtrack erstmals auf Vinyl auf und machte ihn vollständig auch digital erhältlich. Bloße Resteverwertung oder doch notwendige Archivaufarbeitung? Kristoffer Cornils und Thaddeus Herrmann kommen gestärkt aus der Sommerpause, um genau das bei Kaffee und Kirschstreuselkuchen zu diskutieren. Sie schlagen ein weiteres Kapitel des – streng nach Entstehungszeit, nicht nach Veröffentlichungsdatum organisierten – User’s Manual auf.
Kristoffer: Ich habe keine Ahnung, warum dieser OST erst posthum erschien, obwohl es sich doch um Jóhannssons erste Hollywood-Produktion handelte.
Aber zuerst zum Film, bevor wir zur Musik kommen. Die Story ist nicht uninteressant und birgt viel Potenzial. Die von Michelle Pfeiffer gespielte Mutter eines taubstummen Jugendlichen schlägt sich als Hochzeitsplanerin in einem Gemeindezentrum durch und trifft auf einen von Ashton Kutcher dargestellten Ex-Wrestler. Wo sie aufeinandertreffen, ist interessanter als der Verlauf ihrer gemeinsamen, voraussehbaren (Liebes-)Geschichte: bei einer Selbsthilfegruppe für die Angehörigen von Mordopfern. Seine Schwester wurde brutal von einem Unbekannten umgebracht, ihr Ehemann im Suff von einem Kumpanen erschossen.
„Personal Effects“ erzählt als Film also eine Geschichte von individueller Trauerarbeit, die zur gemeinsamen Sache wird. Jóhannssons Musik würde da eigentlich sehr gut reinpassen, würde David Hollander nicht noch jegliches Potenzial des Plots komplett auf narrativer und ästhetischer Ebene verspielen. Alberne Blödeleien (Kutcher verdingt sich als Promoter für eine Fast-Food-Kette namens Megabird, natürlich im Hühnchenkostüm) und eine allzu ernste Cinematografie (alles ist in kaltes, nacktes Licht getaucht) reiben sich auf die unschönste Art aneinander. Platte Dialoge, mangelnde Chemie zwischen den beiden Hauptfiguren, bedingt vor allem durch Kutchers unterirdisches Spiel, machen die Sache nicht besser.
Von den 16 Stücken des OST kommen tatsächlich auch nur recht wenige und stattdessen viele kitschige Balladen auf der Akustikklampfe zum Einsatz. Und wenn doch, dann sollen sie die den Mangel an Emotionalität in bestimmten Szenen wettmachen, klingen aber in ihrer Wärme in der frostigen Atmosphäre der Bilder völlig fehl am Platz. „Personal Effects“ wurde trotz seiner Star-Besetzung und einigen Oben-ohne-Aufnahmen Kutchers dann auch beim Kinostart kaum beachtet und verschwand buchstäblich wieder schnell von der Bildfläche. Erst im vergangenen Jahr legte die Deutsche Grammophon den Soundtrack erstmals auf Platte auf und verzichtete dabei wohlweislich auf allzu konkrete visuelle Anspielungen auf den Film. Nun also die Frage: Hätte es überhaupt Not getan? Was meinst du als jemand, der sich nicht durch diese 110 Minuten unterwältigende Kinokunst gequält hat?
„Das drummt dem Fass dann doch den Neoklassikboden aus.“
Thaddi: Vorausgeschickt: Ich hatte dir neulich ja schon geschrieben, dass ich das Album vorbereitend nach vergleichsweise langer Zeit wieder gehört hatte. So sehr mich der generelle Ton auch ansprach: Es entwickelten sich im Kopf bei mir auch Fragen und Zweifel. Ob das hier nun wirklich gut ist? Doch dann, es ist gerade mal drei Tage her, starb ein geschätzter Journalistenkollege von mir. Ich konnte es es gar nicht glauben, war er doch deutlich jünger als ich. Ich kannte ihn nicht besonders gut, verstand mich mit ihm dafür immer umso besser, wenn wir uns trafen oder gemeinsam unterwegs waren. Wir hypnotisiert klickte ich auf dem iPad und machte diesen Soundtrack an. Weil: Seit er letztes Jahr veröffentlicht wurde, mochte ich die Musik, sie erschien mir dann aber eben doch etwas arg einfach konstruiert. Es stellt sich heraus, dass es oft die ganz einfachen Dinge sind, die ich in bestimmten Situationen brauche.
Aber: Ich empfand beim ersten Hören das Album dann doch als zu einfach und gleichförmig. Eigentlich handelt es sich ja um eine extreme Ausprägung der einen Seite von Jóhannssons Musik. Das Schöne, das Getragene. Ich mag die Geradeaushaftigkeit der Komposition. Alles ist sehr einfach gehalten, immer wieder variiert er die Themen leicht – wie man dies eben im klassischen Soundtrack-Geschäft tut. Als Album reicht mir das hingegen nicht, das Repetitive und ja, auch das Tränendrüsige ist dann doch ein wenig zu viel, selbst für mich. Der „Höhepunkt“ – der Track „Wrestling“ mit dem akustischen Schlagzeug – drummt dem Fass dann doch den Neoklassikboden aus. Und ich frage mich, ob es seine eigene Idee war, kompositorisch begründet, oder ob irgendein Executive sagte: „Oy, Jóhann, können wir hier nicht noch so ein bisschen Schlagzeug mit reinholen?“ Also ... ich weiß nicht so recht.
Kristoffer: Ich auch nicht. Der Track ist tatsächlich interessant, ein kleiner „Dís“-Throwback im Grunde – Post-Rock! Und er sticht deswegen natürlich raus. Während der Rest des Albums für meine Ohren ziemlich formularisch wirkt. Ironischerweise fasst Jóhannsson darauf seine Frühphase als Filmkomponist sehr gut zusammen, und es führt auch ein direkter Weg zum Soundtrack von „The Theory of Everything“, den ich ja tatsächlich großartig finde. Aber es wirkt eben auch sehr wie das, was es ist: eine bloße Auftragsarbeit. Es sind schöne Momente dabei, keine Frage, und Jóhannsson zeigt einmal mehr, dass er die Arbeit mit dem Orchester beherrscht, viele Gefühle in ein paar Pianotupfern unterbringen kann und so weiter und so fort. Aber mir fehlt schlicht die … na ja, Vision! Der Soundtrack zu „The Theory of Everything“ war für mich so grandios, weil er darin trotz aller grundlegenden Kitschigkeit wirklich meisterhaft mit Leitmotiven gearbeitet hat. Das klingt hier auch an, wird aber nicht konsequent zum Konzept erhoben. Trotz gelegentlicher klanglicher Brüche – E-Gitarren, das Schlagzeug –: Mit den archetypischen Topoi der Filmmusik hält er in Hinsicht auf musikalische Experimente sehr zurück. Nur würde ich es ihm selbstverständlich nicht vorwerfen, schließlich ist es ein Job gewesen. Ich muss mich allerdings korrigieren: Ich habe eine Ahnung, warum dieser Soundtrack nur posthum und mit über einem Jahrzehnt Verspätung erschienen ist. Er war schätzungsweise nicht unbedingt stolz darauf. Zurecht, böse gesagt.
Thaddi: Genau das ist ja die Frage aller Fragen. Warum erschien die Musik nicht schon zum Filmstart? Das erschwert die Einordnung auf der Zeitachse seines Werk zusätzlich. Ich weiß, du bist jemand, der die Jahreszahlen all seiner Releases runterbeten kann, ich bin da trotz aller Verbundenheit nicht ganz so sattelfest. Für mich klingt dieses Album wie ein Mash-up aus – wie du richtig sagst – seinen frühen Werken, nur nicht so tief und beeindruckend, und dem klassischen Hollywood-Geschäft, das er damit aufnahm. Das stimmt alles natürlich nicht, denn wenn wir uns im Laufe dieser Reihe mit weiteren OSTs von ihm beschäftigen werden, tun sich ja ganz andere klangliche Spektren auf. Die offenherzige Schönheit – ich sage es mal lieber so, als es kitschig zu nennen – ist aber einerseits plump überwältigend, gleichzeitig jedoch eindimensional. Was ich bei „Theory Of Everything“ genau wie du nicht höre. Ich kann gar nicht genau sagen, ob das mit den deutlich anderen Leitmotiven zu tun hat oder schlicht mit der Güte der Melodien. Dass er nicht unbedingt stolz auf diese Musik hier war … weiß ich nicht. Ich kann nicht in seinen Kopf schauen, denke aber, dass es dann doch nicht so weit von einigen seiner anderen Alben für Filme entfernt ist. Oder?
„Finger weg von meinem Jóhannsson!“
Kristoffer: Das ist richtig. Das letzte Mal haben wir uns ja „And in the Endless Pause There Came the Sound of Bees“ angehört. Im Vergleich dazu hören wir einige Parallelen. Andererseits werden wir uns als nächstes „The Miners’ Hymns“ vornehmen, meinen absoluten Lieblings-Soundtrack von ihm. Und in dem wird wesentlich mehr kompositorischer Mut hörbar. Das liegt sicherlich ebenfalls daran, dass das Format – ein Stummfilm – ihm wesentlich mehr Freiheiten geboten hat. Allerdings muss ich dann eben doch sagen, dass mir dieser Jóhannsson wesentlich besser gefällt als derjenige, der diese 16 Stücke vermutlich in ein paar Tagen zusammenge(hans)zimmert hat. Es ist ein Soundtrack voller Taschenspielertricks aus dem eigenen und dem gängigen Hollywood-Fundus. Ein Brotjob, der genauso angegangen wurde, obgleich auf professionell hohem Niveau für einen, der vergleichsweise noch am Anfang stand. Schade ist das schon irgendwie, und ich weiß nicht, wie ich zu dieser nachträglichen Veröffentlichung durch die Deutsche Grammophon stehe, die ja zwischenzeitlich in diesem Sommer im EP-Format noch mehr Archivmaterial und B-Seiten auf die Streaming-Plattformen dieser Welt gespült hat. Da wird ein irrer Reibach mit gemacht, so scheint es, und das finde ich schon respektlos. Obwohl da vielleicht ein paternalistischer Zug bei mir durchkommt: Finger weg von meinem Jóhannsson! So oder so: „Personal Effects“ lässt sich nett durchhören und es ist keineswegs das Schlechteste, was er je produziert hat – den Titel kann „Dís“ in alle Ewigkeiten erfolgreich verteidigen – und doch lässt es mich kalt. Es fehlen mir schlicht die Ideen.
Thaddi: Touché in Sachen Deutsche Grammophon. Wobei ich das auch verstehen kann. Denn natürlich lässt sich genauso argumentieren, dass Fans es gerne sehen, wenn auch die letzten Fitzelchen eines Gesamtwerkes veröffentlicht werden. Weil sie einfach da sind und angehört werden können. Egal wie es dann bewertet wird.
Kristoffer: Klar, das stimmt schon und es ist ja auch so, dass ich denke, dass der gute Max Brod der Welt einen Gefallen damit getan hat, Kafkas Testament zu ignorieren. Aber gerade in der Musik finde ich derlei 2Pacisierungen des Nachlasses mindestens grenzwertig, weil das Material in den seltensten Fällen wirklich was taugt!
Thaddi: Das mag oft genug stimmen, entkräftet meine These aber nicht. Das sollen die Leute selbst entscheiden. Wenn man Fan ist, ist der Wissensdurst mitunter endlos. Da finde ich es in Ordnung, das auch zu veröffentlichen. Und mein Bild von Jóhannsson macht auch so eine eher durchschnittliche Platte nicht kaputt. Im Gegenteil: Sie ist ein weiteres Puzzleteil, das mein Bild seiner Arbeit vervollständigt und mich sie noch besser einordnen lässt. Das Album, der Soundtrack, die Platte wird dadurch nicht besser. Vielleicht habe ich da auch ein zu idealistisches Bild von seiner Musik und meinem Verständnis. Jeder Ton, der mir hingeworfen wird, macht mich … na ja … informierter. Und das finde ich positiv. Eine neue Facette, beziehungsweise eine andere. So fügt sich alles langfristig hoffentlich noch besser zusammen.
Kristoffer: Da ist schon etwas dran. Als Historiker beziehungsweise notorischer Kontextualisierer, als den du mich ja schon geoutet hast, füllt dieser Soundtrack eine – wenngleich auch sehr kleine, meine ich – Lücke. Ich plädiere also dafür: Im Grund ist das eine Vorskizze zu dem, was er fünf Jahre später mit „The Theory of Everything“ ablegen sollte.