Jóhann Jóhannsson – A User’s ManualChapter 6 – And in the Endless Pause there Came the Sound of Bees (2009) – Deutsch
12.7.2021 • Sounds – Gespräch: Kristoffer Cornils, Thaddeus HerrmannWeit über 20 Alben hat Jóhann Jóhannsson in seiner Karriere veröffentlicht. Wer weiß schon, wie viele Tondokumente noch in der Schublade liegen, die posthum noch veröffentlicht werden könnten. Einmal pro Monat lassen Kristoffer Cornils und Thaddeus Herrmann das Werk des Komponisten Revue passieren – chronologisch, Album für Album. Im Juli geht es um die im Jahr 2009 erschienene Soundtrack-Arbeit „And in the Endless Pause there Came the Sound of Bees“.
Der Animationsfilm „Varmints“ ist nur knapp 24 Minuten lang und trägt doch genug Verstörungspotenzial für ein ganzes Leben in sich. Marc Crastes Verfilmung seines als Illustrator gemeinsam mit der Autorin Helen Ward verfassten Buchs hat ein anthropomorphes, nagerähnliches Tierchen zum Protagonisten, in dessen heiler Welt schon bald dunkle Wolken aufziehen – buchstäblich gesprochen. Eine riesige Stadt wird von Tieren in Handarbeit hochgezogen. Es folgt die Vertreibung, es kommt die Verzweiflung. So weit, so „Als die Tiere den Wald verließen“. Doch der knurrige Protagonist begeht Landflucht und zieht nur von einer Pflanze begleitet in die Cyberpunk-esque Metropole. Was folgt, ist eine Geschichte ökologischen, ästhetischen und zoopolitischen Widerstands. Wie das ausgeht, sei an dieser Stelle noch nicht verraten. Begleitet aber wird es von der Musik Jóhann Jóhannssons, der seinen Soundtrack im Jahr 2009 auf Type unter dem Namen „And in the Endless Pause there Came the Sound of Bees“ veröffentlichte.
Kristoffer: Erbaulich, aber niederschmetternd. Und vice versa. So würde ich Varmints charakterisieren, ein Film, der auf billigen Klischees aufgebaut ist und strenge Dualismen bedient: Die Natur ist in freundliche und weichgezeichnete Farben getaucht, alles Konstruierte, Technische, Industrielle ist duster und vernebelt. Es ist ein moralinsaurer Short, der den tradierten Umweg über ein schwer definierbares Tierwesen nimmt, um eine Aussage über die Menschheit zu treffen. Das mag in Ordnung sein, weil er sich vermutlich an ein sehr junges Publikum richtet und einen pädagogischen Zweck verfolgt. Allerdings ist die Lehre daraus eine, wie ich finde, zutiefst ökokonservative: Wir müssen die von uns gemachte Welt verlassen, um zur Natur zurückkehren. Möglich gemacht wird das in Varmints durch surreale, fliegende Quallen. Heißt das nun, dass die Erlösung gar nicht aus uns selbst heraus möglich ist, sondern wir nur die Ankunft unserer transluziden Overlords erwarten müssen? Aha. Wie dem auch sei: Obwohl ich den Film schon vor einigen Jahren angeschaut habe, nehme ich „And in the Endless Pause there Came the Sound of Bees“ von diesen Bildern entkoppelt wahr. Zum Glück. Gereicht wurde mir das Album damals in LP-Form von einem Bekannten. Der war mit John Twells, dem Betreiber von Type, befreundet und hatte so ziemlich jede Platte aus dem Katalog des damals extrem prägenden Labels im Schrank stehen – mochte diese eine aber nicht sonderlich. Bei mir war sie in der Hinsicht besser aufgehoben, lange Zeit gehörte sie zu meinen Lieblingsveröffentlichungen von Jóhannsson. Erst Anfang dieses Jahres habe ich für einen Mordspreis das Tape-Reissue auf Discogs geschossen und es an einem bitteren Wintertag bei meinem täglichen Zwangsspaziergang in Dauerschleife gehört. In den Winter und zu depressiven Löchern passt dieser Soundtrack meiner Meinung nach tatsächlich trotz all seiner gelegentlichen lichten, gar euphorischen Momente zum Trotz immer noch am besten. Wie geht es dir damit?
Thaddi: Wäre das Werk von Jóhannsson eine kleine ungeschützte Insel im Meer, würden wir hier Zeugen eines Wetterumschwungs sein. Dabei beziehe ich mich gar nicht auf den Film. Es windet aus einer anderen musikalischen Richtung. Egal wie leicht und licht das freundliche Leitmotiv auch sein mag auf diesem Album: Der Komponist konfrontiert uns hier erstmals mit seiner kategorisch dunklen Seite, beziehungsweise zeigt, dass er auch die beherrscht. Anders als noch bei früheren Kompositionen lässt er ein Thema nicht mehr an- und abschwellen, lauter und leiser werden, sondern bringt zwei Entwürfe miteinander ins Gespräch, beziehungsweise lässt sie gnadenlos aufeinandertreffen. Das Dunkle dominiert diese Kompositionsarbeit meinem Empfinden nach. Natürlich grummelte es auch früher schon. Hier jedoch reißt Jóhannsson die Soundtrack-Trickkiste mit derartiger Wucht auf, dass man schon nach hinten überkippen könnte. Keinerlei Vorwarnung. Vielleicht ist „And in the Endless Pause there Came the Sound of Bees“ seine eigentliche Hollywood-Bewerbung – bewusst oder unbewusst. Das ist „big screen“-Material, zieht alle Register, die Klischee-Begriffe wie „suspense“ triggern und bedienen.
Entsprechend verdattert war ich damals beim Hören des Albums. Auch ich sah den Film erst viel später. Und als ich ihn jetzt zur Vorbereitung nochmal schaute, schärfte sich interessanterweise in mir eine neue Haltung dazu. Es mag daran liegen, dass ich aktuell ohnehin sehr nah am Wasser gebaut bin. Vielleicht pulst in mir auch mit 49 Jahren immer noch Wunsch, mir meine kindliche Naivität erhalten zu können. Ich empfinde diesen Kurzfilm als genau richtig für unsere Zeit. Auch wenn ich das quallende Ende dann doch als falsche Auflösung erachte, braucht es meiner Einschätzung nach gerade heute so eindrücklich-überzeichnete Adaptionen der Lage. Und vielleicht auch den Abstraktionsgrad mit dem possierlichen Fabelwesen. Sobald die Auswirkungen globaler Probleme auf andere Spezies projiziert werden, sind sie vielleicht oder hoffentlich für uns noch greifbarer. Dann ist weniger Orwell und mehr Seele. Ich erinnere mich gut, wie ich 1986 „When The Wind Blows“ im Kino sah. Ich hab so geheult. Heute macht der „schnelle“ Atomkrieg dieses Films verglichen mit dem schleichenden Prozess der Umweltzerstörung für mich keinen Unterschied mehr. Es braucht sowas.
„Allein die Chöre sind wunderbar absonderlich. Sind das echte Menschen? Ich weiß es nicht. Aber sie klingen so. Das ist ebenfalls eine der großen Stärken dieses Soundtracks.“
Kristoffer: Das ist natürlich ein guter Punkt und vielleicht aber genau das, was mich daran so aufregt: Es lässt sich eigentlich recht wenig gegen diesen Film einwenden. Aber um den geht es hier ja auch nicht, zumindest nicht primär. Sondern um den Soundtrack. Was du im Kontext von Jóhannssons Gesamtwerk als Wetterumschwung bezeichnest, sehe ich darin auch am Werk. Deswegen finde ich es auch einigermaßen bizarr, diese Platte im Sommer zu hören. Niedrige Inzidenzwerte in ganz Deutschland, das Leben geht wieder los – da wirkt es merkwürdig unpassend. Andererseits finde ich sie dann doch zeitlos schön. Jóhannssons Arbeit mit dem Leitmotiv ist grandios, in der Hinsicht ist „And in the Endless Pause there Came the Sound of Bees“ eines seiner besten Alben. Auch nutzt er hier mit voller Konsequenz und bestem Können die Möglichkeiten des Orchesters – wieder sind es die Prager Philharmoniker – wirklich aus und deutet aber zugleich mit „Escape“ schon das düstere Grummeln und Knarren an, das später seinen Soundtrack für Arrival prägen wird. Insofern richtet sich diese Arbeit schon dezidiert in die Zukunft. Sie setzt sich allerdings auch deutlich von seinen vorangegangenen Werken ab. Wir haben es hier im direkten Vergleich zu [„Fordlandia“(/sounds/johann-johannsson-a-users-manual-chapter-5-fordlandia-2008-deutsch) schon mit einem recht großen Stilbruch zu tun, oder? Das Pathos ist zwar da, aber es wird nicht über einen möglichst breiten Sound vermittelt, sondern durch knallhart kompositorische Tricks ausdifferenziert. Wobei das Sound Design natürlich ebenso eine Rolle spielt. Allein die Chöre sind wunderbar absonderlich. Sind das echte Menschen? Ich weiß es nicht. Aber sie klingen so. Das ist ebenfalls eine der großen Stärken dieses Soundtracks.
„Jóhannsson findet in diesen Stimmungsgegensätzen eine noch nachvollziehbare Sprache.“
Thaddi: Meine These ist ja, dass uns diese Platte beiden so gut gefällt, weil das von uns beiden bereits erwähnte Grummeln noch eine große Musikalität aufweist. Anders als bei „Prisoners“ zum Beispiel – wenn ich das richtig erinnere – oder bei „Sicario“, wo das Sound Design dann doch deutlich im Vordergrund steht. An diesem Punkt in seiner Karriere untermalte Jóhannsson mehr, als zu komponieren. So empfand ich es zumindest beim Hören der Musik, ohne die passenden Bilder parat zu haben. Hier aber schwingt das Pendel gleichmäßig in beide Richtungen. Er findet in diesen Stimmungsgegensätzen eine noch nachvollziehbare Sprache. Das ist der Grund, warum das Werk für mich so gut funktioniert. Trotz aller Effekthascherei. Und in den hellen Passagen ist dann ja sowieso wieder alles in Ordnung, sprich: Es ist der Jóhannsson-Vergangenheit zugewandt.
Kristoffer: Das stimmt natürlich. Das Stichwort Untermalung ist auch treffend: Diese Musik steht schon sehr im Dienst des Films, der eben auch mit Helligkeit und Dunkelheit arbeitet, das fängt Jóhannsson wunderbar auf. Tatsächlich folgt auf dieses Werk ja auch dann seine erstere wirklich kommerzielle Soundtrack-Arbeit für den Film Personal Effects mit Starbesetzung. Der ist ähnlich gehalten. Noch aber hat er damit meiner Meinung nicht die Formel gefunden, welche die Soundtracks von beispielsweise Prisoners, Sicario und dann letztlich Arrival so außergewöhnlich machten. Denn dort integriert sich die Musik dermaßen in die Bilder, dass beides ohne einander kaum zu denken ist. Hier aber? Untermalung, richtig, einmal mit weißer und einmal mit schwarzer Farbe. Das ergibt keine sonderlich breite Palette, aber Jóhannsson weiß damit umzugehen und selbst mit Nichtfarben sehr nuancenreiche und plastische Gemälde zu pinseln. Das beeindruckt mich enorm. Diesem Soundtrack ist eine Form von Minimalismus eingeschrieben, der sich nur auf der strukturellen Ebene offenbart – viele Wiederholungen, die Arbeit mit Leitmotiven und bisweilen sehr ähnlichen Sounds – und doch ein stimmungsvolles und abwechslungsreiches Gesamtbild kreiert. Etwas mehr als ein Jahrzehnt später bin ich also immer noch Fan, wenngleich mich das Album doch vor allem im Winter abholt.
Thaddi: Sehr schön beschrieben. Für mich fängt er hier die Essenz der Art von Soundtrack ein, die ich mag: die, die auch ohne Bilder funktioniert. Wir haben darüber immer wieder gesprochen und werden im Laufe der Reihe auch noch mehrmals auf diesen Punkt zurückkommen – zwangsläufig. Was ist ein Soundtrack? Was muss er leisten? Und in welchen Gelegenheiten? Und ist es überhaupt legitim oder ratsam, sie als Album zu veröffentlichen, wenn der Musik per se doch die visuelle Grundlage fehlt, für die sie komponiert oder erdacht wurde? Auf „And in the Endless Pause there Came the Sound of Bees“ funktioniert das. Ich sagte ja eingangs schon, dass ich den Film erst deutlich später sah und zunächst gar nicht das Stichwort Soundtrack im Kopf hatte. Es hat Musikalität, ist in sich abgeschlossen, bei sich. Hat also genug Charakter – for lack of a better word. Und dennoch merkt man den Tracks nicht nur ob ihrer Kurzweiligkeit und Repetition in den Themen an, dass sie nicht nur für sich selber stehen muss. Dass es da noch um etwas anderes gehen könnte, um mehr.
Kristoffer: Damit triffst du den Nagel auf den Kopf. Wir werden darüber sicherlich noch sprechen, aber: „Prisoners“, „Sicario“ und „Arrival“ beispielsweise höre ich mir nur sehr, sehr selten als Alben an. Und wenn, geht es vor allem um das Sound Design und andere ästhetische Fragen – weniger um die Emotionalität des Ganzen, um ein mögliches Narrativ. Was Jóhannsson als Soundtrack-Komponisten so großartig machte, war ja, dass er die Musik mit dem Video wirklich verbinden konnte. Was allerdings im selben Zug hieß, dass der Sound ohne Bilder nicht unbedingt die volle Erfahrung bietet. Insofern ist dieses Album wohl auf die allerschönste Art und Weise unausgereift. Im Grunde arbeitet er viel mit konventionellen Tropen und Strukturen der Soundtrack-Tradition, wenngleich auf extrem hohen Level. Sein wirkliches, for lack of a better word, Genie aber offenbarte sich erst später.
Thaddi: Damit sind wir bei der grundlegenden Definition dessen, was ein Soundtrack jenseits der Bilder überhaupt leisten soll, kann oder vielleicht muss. Wollen wir Hans Zimmer anrufen?
Kristoffer: Bitte nicht! Sonst sage ich nachher noch justiziable Dinge. Ich denke, diese Soundtrack-Arbeit war insofern ein Herzprojekt, als dass dieser Film wie eben die darauf folgende Arbeit für „Personal Effects“ nun kein Blockbuster war. Und dass Jóhannsson ihn vielleicht genutzt hat, um wirklich den Inhalt und vor allem die Ästhetik des Films eins zu eins zu, na, untermalen. Das ist ihm prächtig gelungen und sicherlich ist das eine mögliche Definition davon, was ein Soundtrack leisten muss. Aber ich ziehe dann doch „Sicario“ und Co. in einer anderen Hinsicht vor, weil sie für eine künstlerische Auseinandersetzung mit dem Ausgangsmaterial stehen, das ich in Bezug auf Soundtracks zumindest in der Theorie für spannender und ergiebiger halte. In der Praxis aber? Ist „And in the Endless Pause there Came the Sound of Bees“ eines meiner Lieblingsalben von Jóhannsson. Und ich muss zum Glück gar nicht an den Film denken, wenn es läuft.
Thaddi: Ist es also tatsächlich Glückssache, wenn Musikalität und Vertonung sich so in der Mitte treffen, dass daraus auch ein gutes Album wird? Ich kenne wenige Soundtracks, die so funktionieren. Dieses Album gehört dazu, aber zum Beispiel auch „Blade Runner“. Der ja eigentlich genau umgekehrt funktioniert. Mit Bombast und großen Gesten, der aber doch die visuelle Sprache des Films abbildet. Ist es also Zufall? Oder hat es vielleicht auch damit zu tun, wer was in welcher Reihenfolge zueinander fügt?
Kristoffer: Blöde gefragt, aber: Hältst du Vangelis’ „Blade Runner“-Soundtrack wirklich für ein gutes Album? Also so richtig ein Album-Album? Weil: Ich nicht unbedingt, glaube ich. Stattdessen gelang Vangelis damals ja genau das, was ich in Jóhannssons Arbeit mit Denis Villeneuve sehe und höre – und was ich mir natürlich auch von seiner „Blade- Runner“-Interpretation sehnlichst gewünscht hatte: Dass da Bild und Sound untrennbar sind, was wiederum heißt, dass der OST als Platte, CD oder durchgängiger Stream eben nur einen Teil eines viel größeren Werks abbildet. Und das, ich sagte es schon, höre ich auf „And in the Endless Pause there Came the Sound of Bees“ dann eben doch nicht. Sondern vielmehr Jóhannsson, wie er nun wirklich meisterhaft vor allem auf der Klaviatur des Orchesters spielt und das extrem simple Ausgangsmaterial nur als Ausgangspunkt nimmt, um daraus ein Album zu zimmern. Du lachst gerade – wir sitzen uns ja endlich mal wieder gegenüber! – aber ich habe „And in the Endless Pause there Came the Sound of Bees“ immer als Album, nie aber wirklich als Soundtrack wahrgenommen. Und weißt du was? In Kombination mit dem Film Varmints, als dessen Soundspur, nervt mich diese auch. Ohne ihn aber? Finde ich sie ganz, ganz großartig. Deine Frage beantwortet das schätzungsweise aber nicht. Aber wir werden ja ganz bestimmt in den nächsten Folgen auf sie zu zurückkommen.
Thaddi: Das „Blade-Runner“-Beispiel ziehe ich natürlich zurück. Ich hatte für den Moment vollkommen vergessen, dass Jóhannsson mit der Musik des Remakes beauftragt war und – nach all dem, was wir wissen – daran gescheitert ist. Ein dummer Vergleich. Ja, der Soundtrack von Vangelis lebt zu einem guten Teil auch von den Samples aus dem Film und verbindet so natürlich auch beide Formate. Aber: Auch ohne die Passagen aus dem Film finde ich die Arbeit musikalisch sehr überzeugend. Sie funktioniert auch als Album ohne Bilder. Es hat hat eine Musikalität, die nicht nur der Leinwand folgt. Genau das ist es, was ich bei Soundtracks als reine Musik suche. Ich will mitgenommen werden, ganz egal, ob ich gerade zuschaue oder nicht. Und das macht Jóhannsson hier exemplarisch und bestens.