Jóhann Jóhannsson – A User’s ManualChapter 4: IBM 1401, A User's Manual (2006) – Deutsch
10.5.2021 • Sounds – Gespräch: Kristoffer Cornils, Thaddeus HerrmannWeit über 20 Alben hat Jóhann Jóhannsson in seiner Karriere veröffentlicht. Wer weiß schon, wie viele Tondokumente noch in der Schublade liegen, die postum veröffentlicht werden könnten. Einmal pro Monat lassen Kristoffer Cornils und Thaddeus Herrmann das Werk des Komponisten Revue passieren – chronologisch, Album für Album. Im Mai geht es um das Album, das der Namensstifter des Reihe war: 2006 erschien „IBM 1401 – A User's Manual“.
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Ein Inselstaat (Island), der technologische Fortschritt (Computer), ein Hersteller (IBM) und der Vater eines viel zu früh gestorbenen Komponisten (Jóhann Jóhannsson). Das sind die groben Koordinaten von Jóhanns viertem Solo-Album. Vorbei die Zeit bei Touch, vorbei die Zeit der kleinen, oft improvisierten Besetzung. Stattdessen spielte das philharmonische Orchester aus Prag das, was die spärlichen Fragmente aus Ringmodulator, Verzerrer, Filter und die Klängen des IBM 1401 ergänzten und vervollständigten.
Thaddi: Wir haben es hier mit Jóhanns vielleicht persönlichster Platte zu tun, weil es seine Familiengeschichte betrifft. Und die natürlich auch den Titel unserer gemeinsamen Reihe gestiftet hat. Sein Vater – Jóhann Senior – arbeitet von den 1950er- bis zu den 1980er-Jahren für IBM und war verantwortlich für die Installation, Betreuung und Programmierung des ersten Computers auf dem Inselstaat – einem IBM 1401. Ich finde das zunächst einmal kultur- und technologiehistorisch interessant. Denn natürlich gab es in Island auch Computer. Ich habe darüber aber nie nachgedacht. Gut, über die Großrechner bei der Deutschen Post oder Siemens in Deutschland, oder bei AT&T in den USA auch nicht, aber wer denkt schon über den technologischen Fortschritt in Island nach!?
Wie dem auch sei. Papa Jóhannsson schob nicht nur Lochkarten in das Ungetüm, sondern beschäftigte sich auch intensiv mit dem Innenleben der Maschine. Und hackte den Rechner, bzw. nutze die Schwachstellen der noch neuen Technik, um andere Dinge damit zu machen: Musik. Jóhann Junior beschrieb mir das 2015 so: „Er stellte ein Kurzwellenradio neben den Teil des Rechners, wo der interne Speicher untergebracht war. Dann programmierte er den Speicher und das Radio fing die elektromagnetische Strahlung des Speichers auf. Als Ton, mehr oder weniger eine klassische Sägezahnwelle. Mein Vater entwickelte einen Algorithmus, mit dem es möglich war, diesen Ton zu modulieren und den IBM so kleine Melodien spielen zu lassen. Popsongs, Mozart, da war alles dabei.“ Die Geschichte aus der Perspektive seines Vater lässt sich in einem Interview von 2019 nachlesen – ich habe da schon ein paar Tränen weggedrückt.
Die Basis des Album bilden Samples/Sprachaufnahmen von IBM. Eine Art Handbuch-Hörspiel, in dem Probleme der Maschine und Wartungs-Anweisungen gesprochen werden, die wahrscheinlich zu Dias passen. So konnten die Techniker*innen damals Fehler beheben und die Maschine in Schuss halten. Vor allem also: Öl nachfüllen. Sollten wir ab und zu nochmal dran denken, wenn wir heute unsere MacBooks oder iPads aufklappen. Diese Samples also verschmelzen in einer fünfteiligen Komposition, die den Faden von „Engalbörn“ wieder aufnimmt, also vergleichsweise ausformulierten Orchester-Figuren, die um die Sprach-Samples herumtanzen und sich dabei bestens behaupten. Dazu kommt eine vocoderisierte Stimme, bereit für das Afterlife. Natürlich hat der Sohn nicht damit gerechnet, dass sein Vater ihn überlebt. Ich muss schon wieder weinen.
Es gibt hier natürlich zwei Ebenen: Einerseits das Intergenerationale – der Vater, der dem Filius diese Technik näher gebracht hat und nun ihre kreative Ausformulierungen gewidmet bekommt. Andererseits aber das Miteinander von Mensch und Maschine überhaupt.
Kristoffer: Während du nach deinen Taschentüchern suchst, kann ich vielleicht mal versuchen, dieses Werk in Jóhannssons Entwicklungsgeschichte einzuordnen. „Englabörn“ zeigte uns den kompositorischen, „Virdulega Forsetar“ den konzeptionell-emotionalen und „Dís“ den Community-orientierten Jóhannsson. Mit „IBM 1401, A User’s Manual“ sind wir, denke ich, beim thematischen Jóhannsson angekommen. Es gibt hier natürlich zwei Ebenen: Einerseits das Intergenerationale – der Vater, der dem Filius diese Technik näher gebracht hat und nun ihre kreative Ausformulierungen gewidmet bekommt. Andererseits aber das Miteinander von Mensch und Maschine überhaupt. Ich finde es spannend, wie diese angebliche Polarität verhandelt wird. Springen wir am Anfang schon an den Schluss: „The Sun's Gone Dim and the Sky's Turned Black“ basiert auf einem Gedicht Dorothy Parkers, die in nur vier Zeilen alles über unerwiderte Liebe sagt, was es dazu nur anzumerken gibt.
The sun's gone dim
And the sky's turned black
'Cause I loved her
And she didn't love back
Jóhannsson genderflippt den Text und gibt ihm so eine dezidiert persönliche Note. Auch, weil er die Passage selbst eingesungen oder besser gesagt eingesprechsungen hat. Doch wird die Stimme natürlich manipuliert. So wie schon die Computer-Stimme auf „Odi et Amo“ – rückwirkende Korrektur: Um einen Vocoder handelte es sich wohl dabei doch nicht, wie ich im Februar noch behauptet habe – mit einer Grenzüberschreitung zwischen dem Humanen und der Technologie spielte, widmet sich dieses Stück dem nun noch intensiver. Interessant sind in dem Kontext auch die komplett funktionalen Wartungsanweisungen, die du bereits erwähnt hast. Die stammen vom selben Tape, das Jóhann Senior dereinst verwendete, um seine Sound-Experimente mit dem IBM 1401 aufzunehmen. Überreste also, die damals noch nicht vom Menschen aus dem Technischen entfernt wurden und nun also wieder für ein zutiefst menschliches Projekt urbar gemacht wurden. Das hat auch deshalb etwas sehr Bewegendes, weil die Technologie, deren Pflege hier detailliert beschrieben wird, bei der Entstehung des Albums bereits längst schon wieder obsolet ist – wir befinden uns im Laptop-Zeitalter, das Web 2.0 ist im Aufblühen. Da schwingt also eine Form von Trauer mit, die auch spätere Arbeiten Jóhannssons prägt. „...And in the Endless Pause There Came the Sound of Bees“ natürlich, genauso aber „Fordlandia“ und „The Miners’ Hymns“ sowie schließlich „Orphée“, das sehr ähnliche Motive aufnimmt. Ich denke, Jóhannsson etabliert hier endgültige die prägenden Themen seiner Arbeiten als freier Komponist: Fortschritt und die Verluste, die damit unweigerlich einhergehen. Soweit dazu. Wie gefällt dir dieses Album eigentlich, so als Hörer?
Thaddi: Das ist lupenrein argumentiert, und eigentlich könnten wir an dieser Stelle ja schon schließen. Aber danke für die Frage! Diese LP war mal – rein musikalisch gesehen – mein Lieblingsalbum von Jóhannsson. Meine Ansatzpunkte sind aber auch sehr durchschaubar, was sie nicht weniger valide und wichtig macht. Auf diesem Album kommt für mich zum ersten Mal in seinem Schaffen eine Art der dualen Subtilität zusammen. Die Orchester-Arrangements sind so packend wie gefällig. Aber in der Mischung aus Synths, Field Recordings und vor allem den Samples des IBM-Einpeitschers entsteht hier etwas, in das ich mich immer noch reinlegen kann und vor allem möchte. Aus ganz persönlicher Verbundenheit. Alles Meta-mäßige, auch in der Evolution des Künstlers, ist mir zunächst egal. Wenn mich eine Stimme mit britischem Akzent aus den 1950ern anspricht und über Computer redet und ich dazu Streicher höre: Ich bin im Himmel! Das reicht mir zunächst.
Kristoffer: Aus dem wollte ich dich auch keineswegs herunter holen. Ich glaube allerdings, dass ich als Hörer zu diesem Album kein sonderlich intensives Verhältnis habe und deshalb lieber darüber nachdenke, was inhaltlich darauf geschieht. Ich wage mal eine These, der du vermutlich nicht zustimmen wirst: Wir haben es hier mit der ersten richtigen Orchesterarbeit Jóhannssons zu tun, 60 Leute in Prag spielen seine Kompositionen – das ist eine ganz andere Größenordnung als das dagegen recht bescheidene „Virðulegu Forsetar“. Und ich finde, es ist ihm durchaus anzumerken, dass er das Orchester als Instrument noch nicht vollumfänglich beherrscht. In gewisser Weise sehe ich „IBM 1401, A User’s Manual“ eher als eine Art Vorskizze zu „Fordlandia“, wo sich seine Fertigkeiten als Komponist fürs Orchester erstmals richtig entfalten. Finde ich zumindest. Was ich dann aber spannend finde ist natürlich das Miteinander und die Wechselwirkungen zwischen diesen fast schon Musique-concrète-ähnlichen Klängen, den Stimmen und eben dem Orchester. Er probiert hier viel aus, arbeitet mit dem Mix, schafft sehr viel Tiefe und schichtet sehr gekonnt die einzelnen Elemente übereinander. Nur geht ihm darüber etwas die Dramaturgie flöten, finde ich. Oder meinst du nicht auch, dass es im Mittelteil etwas zu behäbig wird?
Thaddi: Viele Fragen, viele Punkte! Also, eins nach dem anderen. Um zu erklären, warum ich dieses Album so schätze: Ich komme aus einer Generation, in der Samples die Welt bedeuteten. Das trifft auf dieses Album gleich zweifach zu: Das ist der IBM-O-Ton, und da sind die „anderen Geräusche“. Ich komme aber auch aus einer Generation, in das Orchestrale im Allgemeinen oder Streicher im Besonderen immer aus der Konserve kamen. Da gab es durchaus ästhetische Highlights, aber es blieb eben doch digital. Ich empfinde diese Orchester-Arbeit hier also als durchaus gelungen. Überforderung höre ich nicht. Natürlich gilt es, die Entwicklung des Künstlers im Blick zu behalten, ich kann mich hier jedoch auf meine damalige Ausgangssituation zurückbesinnen: Als dieses Album veröffentlicht wurde, hatte ich „Fordlandia“ noch nicht gehört. Weil: Das war weder komponiert noch aufgenommen oder veröffentlicht. Ich hörte – und höre – hier eher auf die Bewegung und empfinde sie nach wie vor als mitreißend in all der Stille. Vielleicht ist es auch unredlich, hier von dramaturgischen Defiziten zu sprechen. Ganz ehrlich: Ich weiß genau, worauf du abzielst und verstehe das total. Aber im Werk von Jóhann Jóhannsson geht es meiner Empfindung nach weniger um die klare und finale Definition von kompositorischen Herausforderungen oder Standards. Sondern vielmehr darum, dass einen bestimmte Motive und Elemente ansprechen. Wegballern. Ist das nicht gegeben, ist die ganze Platte verloren für einen selbst. Nicht weiter schlimm. Die emotionale Bindung an seine Musik ist mir aber nach wie vor wichtiger als kompositorische Vergleiche, Einordnungen oder Verortungen in sein Gesamtwerk, die ja ohnehin zu nichts führen.
Kristoffer: Ich glaube, wir sind in Folge vier bei einer grundlegenden Meinungsverschiedenheit angekommen. Was ich toll finde. Ich persönliche höre und rezipiere Jóhannsson vor allem am liebsten in der Gänze, als Summe von Einzelteilen und weniger über Motive und Elemente, die mich ansprechen – auch wenn es davon natürlich, ebenso auf diesem Album, immer eine Menge gibt. So ist dann auch „IBM 1401, A User’s Manual“ für mich ein Werk, in dem zwei bestimmte Elemente – Orchester hier, Samples dort – noch nicht komplett zusammengewachsen sind. Wobei vielleicht sogar eine dritte Dimension völlig fehlt: Entstanden ist das Album ja im engen Austausch mit Erna Ómarsdóttir, einer Tänzerin, deren Vater selbst bei IBM arbeitete und die eine eigene Choreografie für das Album entwickelte. Das zumindest steht in den Linernotes der Vinyl-Neuauflage aus dem Jahr 2017. Nun haben wir mit „Englabörn“ und „Dís“ schon zwei Alben verhandelt, ohne die Bezugswerke – hier Theater, dort ein Film – zu kennen, und das hat prima geklappt. In der Tat denke ich auch nicht, dass ich unbedingt die Bewegungsabläufe Ómarsdóttirs zu kennen brauche, damit mich diese Musik mitnimmt. Aber auf musikalischer Ebene sehe ich einen gewissen Mangel und komme mit dem nicht ganz klar. Weshalb ich mich eben auf die thematische Ebene beschränke, und in der Hinsicht ist das Album extrem spannend. Die grundlegenden Samples entstammen, so schreibt Jóhannsson ebenfalls in den Linernotes der Wiederveröffentlichung, einer ganz bestimmten Performance: der Beerdigungszeremonie für das ausgediente Gerät, dessen Betrieb im Jahr 1971 eingestellt wurde – trotz guter und regelmäßiger Ölung, nehme ich an. Bei dieser Zeremonie spielte der Vater just die Stücke, die auf dem Instruktions-Tape aufgezeichnet wurden, auf dem mit allen Mitteln für den Erhalt der Maschine geworben wird. Und ist dann wiederum in seiner offensichtlichen Diskrepanz zwischen Fortschrittsdenken und Melancholie das eigentlich Interessante an diesem Album – zumindest für mich. Dass „The Sun’s Gone Dim and the Sky’s Turned Black“ mich natürlich ebenfalls emotional packt, dass ich bei manchen Berg- und Talfahrten des Orchesters genauso wie bei einigen der kleinen, sehr intelligent in den Gesamtmix eingebetteten Klängen mit diesem Album mitfühle, steht dabei außer Frage. Ich intellektualisiere dieses Album wohl vor allem deswegen, weil diese Momente sich bei mir eben eher partiell und nicht durchgängig einstellen. Was ich ja selbst schade finde.
Thaddi: Mehrere Fragen bzw. Anmerkungen. Erste Anmerkung: Du spürst immer dem großen Kontext nach. Das ist okay, manchmal auch aber auch hinderlich. Ich habe den Verdacht, dass du dich nicht einfach mal in eine Platte fallen lassen kannst, ohne immer daran zu denken: OMG, was hat derdie vorher gemacht, warum klingt das jetzt so und warum nicht anders?! Das ist doch doof. Musik ist Emotion. Du hast vollkommen recht mit dem, was du gesagt hast. Das Album flacht zwischendrin irgendwie ab. Ich* verzeihe das aber, weil mich die musikalischen Grundthemen so packen, dass ich bereit bin, diese „Durststrecke“ durchzustehen. Ein Phänomen, zu dem ich mich noch bei einigen späteren Alben von Jóhannson werde verhalten müssen. Aber ernsthaft. Loslassen ist nicht so deins, oder?
Kristoffer: Nein! Ich packe stattdessen nur immer härter zu. Du hast natürlich total recht. Ich nehme meistens den intellektuellen Weg in ein Stück Musik und dann auch manchmal fragwürdige Abzweigungen, wenn ich erstmal drin bin. Aber so wie mir beim Begehen dieses Wegs manchmal aufgeht, warum ich etwas Bestimmtes fühle, kann er mich auch selbst zu den Emotionen leiten. Ich würde nie im Leben behaupten, dass „IBM 1401, A User’s Manual“ kein gutes Album ist. Nur, dass ich die Musik darauf nicht durchgängig gelungen finde. Das mag als Aussage manchen Menschen paradox erscheinen, ergibt in meiner Welt allerdings lückenlos Sinn. Tatsächlich spricht es im Gesamten wohl aber auch schlicht für Jóhannsson, dass er dich als Herzohr und mich als Kopffüßler gleichermaßen abholen konnte. Weil er es als Komponist immer wieder geschafft hat, die großen Emotionen mit ähnlich großen Themen zu vereinen. Hier vielleicht noch nicht in Perfektion, wie ich meine. Aber ich klammere mich dann eben an die eine Seite, du fühlst dich auf der anderen pudelwohl. Das ist doch eigentlich ein toller Kompromiss – agree to disagree?
Thaddi: Ja, durchaus. Auch – und das ist mir wichtig – wenn ich nicht als jemand wahrgenommen werden möchte, der alle Viere von sich streckt, sobald einer oder mehre Emotions-Rezeptoren getriggert wurden. Ich kann das sehr klar auseinanderhalten. Was ist deep und relevant, was einfach nur ein Abklatsch von XY? Ich halte das Album für sehr deep und genauso relevant. Und deshalb ist es mir auch heute noch so wichtig.