Jóhann Jóhannsson – A User’s ManualChapter 3: Dís (2004) – Deutsch
12.4.2021 • Sounds – Gespräch: Kristoffer Cornils, Thaddeus HerrmannWeit über 20 Alben hat Jóhann Jóhannsson in seiner Karriere veröffentlicht. Wer weiß schon, wie viele Tondokumente noch in der Schublade liegen, die postum veröffentlicht werden könnten. Einmal pro Monat lassen Kristoffer Cornils und Thaddeus Herrmann das Werk des Komponisten Revue passieren – chronologisch, Album für Album. Im April nehmen sich beide „Dís“ vor – das dritte Album von Jóhannsson, der 2018 viel zu früh verstarb.
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Die Musik von Jóhann Jóhannsson wird vielen seiner heutigen Fans in Film und Fernsehen zuerst begegnet sein. Spätestens mit seinen Soundtracks zu „The Theory of Everything“, „Sicario“ oder den ominösen Klängen von „Arrival“ etablierte er sich als einer der innovativsten und meistgefragten Soundtrack-Komponisten seiner Zeit. Aber alle fangen mal klein an – das gilt auch für den Isländer. „Dís“, sein drittes Album, markiert seine Anfänge als Filmkomponist.
Was sie dabei jedoch finden, begeistert sie keineswegs. Das hat es noch nie, wie sich beide eingestehen müssen. Es mag an der ergebnisoffenen Arbeitsweise liegen, welche Jóhannssons drittes Album geprägt hat, das sich aus seinen Kompositionen für einen heute längst vergessenen Film auf Grundlage eines in den Annalen der Literaturgeschichte verschollenen Romans speiste. Oder doch an genau jenem Anlass? So oder so: Sein drittes Album als Solo-Künstler rangiert bei ihnen auf den hinteren Plätzen ihrer persönlichen Jóhannsson-Bestenlisten. Da hilft nur eins: Augen zu, Ohren auf und durch!
Kristoffer: „Dís“ erschien zuerst im Jahr 2004 in Island als zweites Endresultat einer Auftragsarbeit und als drittes Solo-Album von Jóhann Jóhannsson. Es wurde wie „Englabörn“ aus einem Soundtrack erarbeitet, der ursprünglich für den gleichnamigen Film von Silja Hauksdóttir komponiert wurde. Sie hat auch den zugrunde liegenden Roman selben Namens geschrieben. Es geht um eine junge Frau aus Reykjavík, die im Schwellenjahr 2000 eine Identitätskrise durchläuft: Anders als alle um sie herum hat sie keine Ahnung, was sie mit ihrem Leben anfangen möchte. Sie hat einen Sommerjob in einem Hotel, will vielleicht im Herbst wieder an die Uni. Es ergeben sich zwei Liebeleien, eine faustdicke Freundschaft und eine interessante Berufsperspektive, bevor die Schicksalsschläge auf sie niederprasseln. Am Ende aber stehen gute Aussichten und ein Lichtblick.
Soweit der Plot eines Films, den ich nie gesehen und doch bei MUBI auf der Wishlist stehen habe. Nicht, dass er mich an sich sonderlich interessieren würde – auf dem Papier zumindest liest es sich wie ein leichtfüßiger Aufguss von The Graduate, der für ein Publikum am hinteren Ende der Generation X adaptiert und auf isländische Verhältnisse umgemünzt wurde. Aber weil mich alles interessiert, was mit Jóhannsson zu tun hat, fände ich den Einsatz seines Scores durchaus spannend. Der bietet sich auf dem ausgearbeiteten Album merklich divers dar – Rock, Pop, Post-Rock, Gute-Laune-Electronica, hier und dort sogar melancholische Jazz-Einschläge und natürlich die eine oder andere Klaviernummer werden hörbar. Stilistisch gesprochen finden sich in diesen 15 Stücken allerdings recht wenige Anknüpfpunkte oder Schnittstellen zu „Englabörn“ oder gar „Virðulegu Forsetar“.
Der Referenzrahmen für „Dís“ findet sich eher in der Musik des Apparat Organ Quartets, der im Jahr 1999 gegründeten Band von Jóhannsson, Hörður Bragason, Músikvatur und Úlfur Eldjárn. Mit denen konnte ich nie etwas anfangen und so bin ich auch gar kein Fan von diesem Album. Aber genug von mir: Was denkst du über diese Platte?
Thaddi: Darf ich dir zunächst ein Geheimnis verraten zu „Dís“? Jóhann hat mir das Album – oder zumindest Teile davon – damals für mein Label angeboten. Ich war total baff, eine E-Mail von ihm zu bekommen, war schon großer Fan, hörte die Tracks und schrieb ihm: Lieber Jóhann, schade, aber toll. Nein, das wird nichts. Weil ich mit diesem Album damals wie heute ebenso wenig anfangen kann wie du. Natürlich offenbaren sich rückblickend bestimmte Sounds und Elemente als Referenzen für seine spätere Arbeit. Ich mag auch, dass die Platte so extrem „lo-fi“ klingt, also wirklich wie zu Hause aufgenommen. Das schafft eine ganz andere Art der Intimität. Zwischen Synth-Presets und teilweise frei schwebender Performance schimmern hier seine Qualitäten zum Teil schon durch, ja strahlen sogar. Ich weiß jedoch bis heute nicht, was mir das sagen soll.
„Dís“ hat also, auch wenn es uns heute wenig bewegt, international doch einige Wellen geschlagen. Nur: Wieso?
Kristoffer: Mir sagt es leider recht wenig. Ich will ganz ehrlich sein: Wenn dieses Album nicht von Jóhannsson wäre, ich hätte es schon längst auf einer der Festplatten entsorgt, auf welcher ich meinen Musikdatenmüll verstaut habe. Ich kann es, in einem Wort, nicht leiden. Auch wenn ich hier und dort das Potenzial sehe, auch wenn sich hier selbstverständlich Schlüssel zum Dekodieren seines späteren Schaffens finden. Es ist mir im Gesamten zu nett, fast kindlich-spielerisch. Dass du also damals abgelehnt hast, kann ich in jedem Fall verstehen, obwohl das auch den Beginn einer steilen Karriere als Labelbetreiber hätte darstellen können. Der letztliche Erscheinungsort ist allemal nicht uninteressant: Veröffentlicht wurde „Dís“ zuerst auf 12 Tónar, dem damals noch recht jungem In-House-Label des gleichnamigen Plattenladens. Das spricht schon einmal sehr dafür, dass diese Platte das Produkt einer gewissen Community war. Im Jahr 2005 wurde es dann in den USA und im folgenden Jahr nochmals in Japan neu aufgelegt. „Dís“ hat also, auch wenn es uns heute wenig bewegt, international doch einige Wellen geschlagen. Nur: Wieso?
Thaddi: Das frage ich mich auch. Gut. Beamen wir uns zurück in die Electronica-Aufregung von damals. Da ist ein Komponist aus Island, der bereits zwei Slammer vorgelegt hat und der nun mit so etwas um die Ecke kommt. Das – könnte ich mir zumindest vorstellen – sorgte durchaus für Aufmerksamkeit, weil es gerade außerhalb von Island eine neue Seite seines musikalischen Schaffens offen legte – auch seine Vergangenheit/Frühphase in mehr oder weniger klassischen Indie-Bands. Als Album ist „Dís“ jedoch nicht wirklich brauchbar. Es mag eine kleinere Wasserstandsmeldung sein: Hier, daran arbeite ich gerade, das sind meine Ideen, so könnte meine Zukunft aussehen. Und ich bin mir sicher, dass das auch gut zu den Bildern des Films zum Roman passt. So, wie du das beschrieben hast, geht es dort ja auch hin und her – was sich in der Musik durchaus widerspiegelt. Aber das Storytelling fehlt. Bei Soundtracks ja oft ein Problem, wenn man sie hört. Jóhannsson hat das in späteren Jahren aber sehr gut in den Griff bekommen. Bleibt hier nun etwas hängen? Eher – leider – nein.
Kristoffer: Ja, abgesehen von ein paar irre nervigen Melodien. Die sind schließlich seine Kernkompetenz, und zwar immer schon gewesen. Maximal ohrwürmelnd, minimal konstruiert. „Jóhannsson never uses five notes for a melody when four will do“, hieß es dereinst doch sehr treffend in Mark Richardsons Pitchfork-Review. Und das ist etwas, das er dann – meiner Meinung nach! – mit dem Soundtrack zu „The Theory of Everything“ schlussendlich perfektionierte. Allerdings überzeugt es mich hier keinesfalls, weil das Album als solches zu heterogen ist und andererseits insbesondere im Rückblick und also mit 17 Jahren Abstand extrem dated klingt. Denn nicht nur war „Dís“ das Produkt einer bestimmten Community, sondern auch einer gewissen Zeit. Um ihm selbst das Wort zu erteilen:
“For the film and album, Dís, I wanted to write a purely electric music, removed from the string and orchestral based music I had been writing recently. I resolved to use only instruments I had in my studio and whatever trashy things my friends would bring to the sessions. I wanted a loose, toy-like feel, I was trying to create a strange sort of melancholy, almost naive bubble-gum pop, seen through a mechanical, motorik prism. Much like I believe the film captures quite well the zeitgeist of early 21st century Reykjavik, I tried to do the same with my music.”
Das alles ist selbstverständlich zu hören und auch zu spüren. Doch klingt die Platte in den Motorik-Parts eher nach einer etwas zahnlosen Neuauflage der Musik des Apparat Organ Quartets und in seinen elektronischen Momenten streng nach múm – nur ohne den naiven Charme. Da helfen dann auch die ruhigeren, klavierbetonten Stücke nicht so ganz weiter, finde ich. Weil sie untergehen unter diesen gleißenden Momenten von Breitwand-Rock, der sich etwa auf „10 Rokkstig“ mit keinem anderen Wort als peinlich beschreiben lässt. Ich hole hier gerade weit aus und schlage dann auch noch kräftig zu. Pardon! Aber mein grundsätzliches Problem ist als Fan ist, glaube ich, dass ich im Gesamten in Jóhannssons Werk eine gewisse Zeitlosigkeit ausmache, die zu seiner Kernkompetenz gehörte. „Dís“ jedoch ist lediglich das Dokument bestimmter Umstände – sehr isländisch, sehr Mitte Nullerjahre. Das schmeckt mir nicht, auch wenn ich es ihm schwer vorwerfen kann. Denn: schon ein interessanter Move, sich mit dem dritten Solo-Album dermaßen radikal neu zu positionieren, oder?
Thaddi: Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass das so beabsichtigt war. Kurze Zwischenfrage mit Bitte um kurze Antwort. Du warst doch schon mal in Island. Wenn ja, zu welcher Gelegenheit? Airwaves?
Kristoffer: Im Jahr 2016 beim Festival Secret Solstice in Reykjavík. Die Sonne ging nie unter, Goldie legte für die Schlange vor dem Radiohead-Konzert auf und ich hatte keine Kohle, um mir ein Pint Bier zu je 9 Euro pro Dose zu kaufen. Bei 12 Tónar allerdings war ich durchaus und bin auch die Küste abgelaufen. Wieso fragst du?
Schöne Momente, allesamt aber „fleeting“.
Thaddi: Ich war ein paar Jahre zuvor da – wann genau, daran erinnere ich nicht mehr … eben zu einem Airwaves-Festival. Immerhin hatte ich meine Kreditkarte dabei und habe das Dosenbier einfach gekauft. Worauf ich hinaus möchte: Ich bin damals durch so viele Keller-Clubs und Hochkultur-Lounges gefegt, dass ich begriffen habe: Hier in Island spielt einfach jeder mit jeder, immer Musik, egal, was dabei rauskommt. „Dís“ bildet dieses Kuddelmuddel für mich ein bisschen ab. Hier für dich, und du, du bekommst diesen Track. Wir kennen uns, wir haben uns lieb, wir arbeiten zusammen, du hast nicht viel Geld, also produziere ich zu Hause den Soundtrack für deinen Film, kein Thema. Das macht die Platte als Album nicht besser, erklärt vielleicht aber die Beweggründe dahinter. Mehr – ganz ehrlich – habe ich zu diesem Album auch nicht zu sagen. Schöne Momente, allesamt aber fleeting. Und je älter ich werden, desto unkonzentrierter. Ich kann diese Momente also nicht mehr so einfach einfangen, wertschätzen und gern haben.
Kristoffer: Das beschreibt einerseits den Ansatz des Albums und andererseits mein Problem mit ihm sehr pointiert. An „Dís“ waren viele Weggefährt*innen Jóhannssons beteiligt, darunter Hilmar Jensson vom Kollektiv Kitchen Motors, das Jóhannsson mitbegründet hatte, und die Sängerin Ragnheidur Gröndal, die auf dem Titelstück zu hören ist. Viele Köche, noch mehr Brei? Vielleicht. Theoretisch gesprochen finde ich einen solchen kollektiven und offenen Ansatz aber extrem spannend und sogar unbedingt empfehlenswert. Wir betreiben mit dieser Serie schließlich auch ein wenig Geniekult, obwohl der uns beiden fernliegt! Das ist ein Dilemma. Ein solches auszuhebeln, finde ich in erster Linie immer gut, nur scheint es auf „Dís“ anders als auf anderen Kollaborationsprojekten Jóhannssons – ich denke zum Beispiel an seine Arbeiten mit Hildur Guðnadóttir und Robert A.A. Lowe alias Lichens – nicht aufzugehen, weil allerhöchstens Song für Song und doch nie im Ganzen zu einer gemeinsamen musikalischen Sprache gefunden wird. Alles wirkt sehr spontan, provisorisch manchmal. Fast scheint es, als hätte es ihn wieder gejuckt, die Dinge mal so anzugehen wie damals mit 15 Jahren, als er seine erste Garagen-Band hatte. Nachvollziehbar, sympathisch. Nur ergibt das leider nur selten etwas Substanzielles. Ich bin mir unsicher, ob wir hiermit tatsächlich schon alles gesagt hätten, aber vielleicht haben wir das schlicht getan. Es gibt ein paar schöne Stücke auf „Dís“, keine Frage, aber es bleibt mein wohl unliebstes Jóhannsson-Album.
Thaddi: Es ist vollkommen in Ordnung, bestimmte Platten in der „Da muss man dabei gewesen sein“-Schublade abzulegen und dann auch nicht mehr zwingend darüber nachzudenken. Nehmen wir das Album genau so, wie du es beschrieben hast: Als mehr oder wenige spontane Reaktion auf eine Herausforderung – einen Film – ohne großes Brimborium. Was sich dabei unter Umständen entlarvt oder entlarven könnte, lassen wir hier einfach weg. Ich höre die Platte mittlerweile als eine Art von Postkarten-Sammlung. Da ist jemand im Urlaub und schickt regelmäßig Nachrichten. Manchmal regnet es, dann gibt es auch nichts zu berichten, und dann scheint wieder die Sonne. Dann ist die Welt irgendwie okay. Und das ist schon viel wert. Ich merke, dass ich mit kurzen Sketches, Improvisationen – mehr sind die Tracks hier ja nicht, wenn wir ehrlich sind und bleiben – manchmal zufriedener bin als mit großspurig ausformulierten Entwürfen. „Dís“ hat ein paar davon. Immerhin.
Kristoffer: Ja, beim aktuellen Durchlauf fiel mir durchaus zum Beispiel „Flugeldar“ sehr positiv auf, weil da die bereits auf „Englabörn“ präsentierten Fertigkeiten Jóhannssons effektvoll an der Arbeit sind. Wenn es nur nicht zwischen diese aufgekratzten Synth-Pop-Post-Rock-Nummern geschoben worden wäre! Aber egal, ich versuche einfach mal auf einer ähnlich positiven oder zumindest sanften Note zu enden: Ich denke, dass „Dís“ vor allem für Jóhannsson als Menschen spricht. Wenn du für deine einstündige Drone-Komposition von Pitchfork einen „Best New Music“-Stempel aufgedrückt bekommen hast, wäre es eigentlich nur folgerichtig, etwas Ähnliches nachzuliefern. Eigentlich. Hat er nämlich nicht getan und ist stattdessen an die Wurzeln zurückgegangen, das Ego an den Nagel gehängt und einfach mit ein paar Friends gejammt. Das ist marketing- und karrieretechnisch schon ziemlich dumm und also sehr toll. Auch weil er’s dann ja dennoch geschafft hat.
Thaddi: Und … mit Freundinnen jammen ist immer* besser, als von Pitchfork irgendwas einzufahren. Aber über die angeblich bestimmenden Leitmedien reden wir bestimmt noch ein anderes Mal.