Jóhann Jóhannsson – A User’s ManualChapter 17 – Jóhann Jóhannsson (with Hildur Guðnadóttir & Robert Aiki Aubrey Lowe) – End Of Summer (2015) – Deutsch
7.3.2024 • Sounds – Gespräch: Kristoffer Cornils, Thaddeus HerrmannWeit über 20 Alben hat Jóhann Jóhannsson in seiner Karriere veröffentlicht. Wer weiß schon, wie viele Tondokumente noch in der Schublade liegen, die postum noch veröffentlicht werden könnten. Mehr oder weniger regelmäßig lassen Kristoffer Cornils und Thaddeus Herrmann das Werk des Komponisten Revue passieren – chronologisch, Album für Album. In der 17. Folge geht es um „End of Summer“, für das Jóhannsson nicht allein gemeinsam mit Hildur Guðnadóttir sowie Robert A.A. Lowe den Soundtrack schrieb. Nein, es handelt sich auch um den Soundtrack seines eigenen Debüts als Filmemacher.
English version? Click/tap here.
Als der halbstündige Film „End of Summer“ im Jahr 2014 erschien, war Jóhann Jóhannsson bereits seit einem guten Jahrzehnt als Soundtrack-Komponist aktiv. Doch handelte es sich deshalb um ein besonderes Projekt, weil er diesmal selbst hinter der Kamera stand: Darin verarbeitete er Super-8-Aufnahmen, die er auf der Insel South Georgia und in der Antarktis angefertigt hatte. Wir sehen also vor allem Pinguine, mal watschelnd, mal rumhockend und durch die Gegen stierend, genauso aber auch andere Flora und Fauna aus einer Gegend, in die sich Menschen aus gutem Grund nur sehr selten verirren. Der Film ist nicht nur in Schwarz und Weiß gedreht, sondern setzt außerdem dezidiert auf eine antiquare Ästhetik, wie sie von Klassikern wie „Nanook of the North“ bekannt ist.
Es handelt sich bei „End of Summer“ also kurzum um einen impressionistischen Film, den Jóhannsson im Verbund mit seiner langjährigen musikalischen Partnerin Hildur Guðnadóttir sowie Robert A.A. Lowe alias Lichens mit einem entsprechenden Soundtrack unterlegte. Gesamtkunstwerkalarm! Das Album dazu erschien – als CD mit Film als DVD-Beigabe sowie auf Vinyl mit Field-Recordings-Bonus-Track – Ende 2015 auf dem stets verlässlichen Label Sonic Pieces von Monique Recknagel, kurz bevor Jóhannsson (fast) komplett in den sicheren Hafen der Deutschen Grammophon einkehrte. Alles in allem haben wir es also mit einem kleinen, aber entscheidenden Wendepunkt in seinem Schaffen zu tun.
Kristoffer: Ich habe mich im Verlaufe der vergangenen zwölf bis 18 Monate zu einer Art Cineast gemausert. Filme mochte ich als Medium schon immer, mittlerweile aber liebe ich auch Kino – was ja nicht dasselbe ist. Ich habe ein fundierteres Grundwissen von und damit eine ganz andere Wertschätzung für das Filmemachen und kann Bildkomposition, Schnitttechniken und so weiter für sich wirken lassen und genießen, wie mir das vorher nicht möglich war. Das lässt mich denken, dass ich mir „End of Summer“ erneut anschauen sollte. Das erste und bisher letzte Mal habe ich das vor circa zwei Jahren versucht, Betonung auf versucht: Ich habe nach 15 Minuten das MUBI-Tab geschlossen, weil es mir einfach zu langweilig war. Ich habe in diesem … können wir das überhaupt einen Dokumentarfilm nennen? Wie dem auch sei: Ich habe darin nichts Interessantes erkannt. Vielleicht ginge mir das heute anders.
Ich bezweifle es allerdings. Vielmehr habe ich neue Empathie für diejenigen, mit denen ich über Jóhannssons Schaffen rede und die dann sagen: „Schon okay, aber irgendwie zu kitschig, safe, reibungslos.“ Wir beide wissen, dass das Unfug ist, weil unter dem vermeintlichen Kitsch marianengrabentiefe Abgründe liegen, in die wir nur allzu gern reinspringen im Wissen darum, dass wir mit blutigen Knien aus der Sache rausgehen. Aber „End of Summer“ sowie „Last and First Men“, eines seiner letzten Projekte, das auf einem Film von ihm basierte, der als durch eine Tanzperformance angereichert zuletzt auf dem CTM Festival gezeigt wurde, machen auf mich denselben Eindruck, wie andere ihn von seiner Musik haben: viel schöne Oberfläche, viele Dinge, die in ihrer Ikonografie einfach gut funktionieren (Pinguine hier, brutalistische Bauten dort) und letztlich aber wenig Inhalt. Eindrücklich ja, nachdrücklich nein.
Das müssen Jóhannssons Filme gar nicht leisten, da sind vielleicht schlicht die Produktionsabsichten des Künstlers und die Rezeptionshaltung des Neucineasten, der ich nunmehr bin, schlicht nicht kompatibel. Dennoch: Als Album taugt mir „End of Summer“ mehr, wobei ich das Bonusmaterial fast noch schöner als die eigentliche Musik finde. Aber genug von mir. Thaddi, sag du mir doch zuerst: Was hältst du von Jóhannsson als Filmemacher – und wie hat er sich für dich auf diesem kurzen Soundtrack als (Ko-)Komponist geschlagen?
„Das Zusammenspiel der Drei klingt gerade im ersten Teil sehr schlierig, was auf reichlich Sediment unter der Oberfläche hindeutet. Genau richtig also.“
Thaddi: Tatsächlich dachte ich bei der Vorbereitung auf unser Gespräch, dass ich den Film nie gesehen hätte. Das stimmt aber nicht, ich hatte das Werk schlicht vergessen. Was bemerkenswert ist, denn ich bin nicht nur 100 % Team Jóhannsson, sondern auch 100 % Team Pinguin. Nach dem aktuellen – zugegeben – Durchskippen komme ich nicht umhin, den „Random“-Aufkleber auf die Filmdose zu bappen. Hier ergibt sich eine Parallele zu „Last and First Men“, über den ich anlässlich der Berlinale 2020 schrieb: „Die Musik ist wahnsinnig toll. Die Bilder sind jedoch auf 70 Minuten Länge eher etwas für diejenigen, die Beton wirklich erotisch finden.“ Du ahnst vielleicht schon die zweite Parallele, denn mit „End of Summer“ geht es mir wie dir: Die Musik taugt mir sehr, viel mehr als der Film.
Warum auch immer denke bei „Pt. 1“ an Gavin Bryars’ „The Sinking Of The Titanic“ – wirklich begründen kann ich das nicht. Vielleicht ist es die frisch gewonnene Erkenntnis des Films, der ja nun am und im Wasser spielt. Ich war noch nie in der Antarktis, stelle mir das Wasser dort aber extrem klar vor. Genau das höre ich auf diesem Album nicht, ganz im Gegenteil. Das Zusammenspiel der Drei klingt gerade im ersten Teil sehr schlierig, was auf reichlich Sediment unter der Oberfläche hindeutet. Genau richtig also. Es klart jedoch immer weiter auf, was mir wiederum genau richtig scheint. Denn kompositorisch ist dieses Album – wie du ganz richtig referenziert hast – marianengrabentief. Und das trotz der vollständigen Reduktion. Ich mag die Stille, die über weite Strecken im Vordergrund steht. Ich mag die Vokalstrukturen, die in aller Schüchternheit doch radikal ihre Farbe wechseln. Und ich mag trotz des halligen Aufbrausens in „Pt. 3“, das ja eigentlich auch nur geschickt angetäuscht ist, die fast schon karamellisierte Demut der Platte.
Kristoffer: Bryars war dank dieser massiven Obscure-Compilation, die im Vorjahr pünktlich zur Weihnachtszeit in die Läden kam, eine späte und doch einschneidende Entdeckung meinerseits. Ob ich musikalisch bei dem Vergleich mitgehen würde, weiß ich allerdings nicht. Es gibt da wohl aber eine … Vibe-Parallele? Nennen wir es so. Tatsächlich finde ich es interessant, wie sehr Drone-fixiert dieses Album im Vergleich zu vorigen Jóhannsson-Werken ist. Natürlich spielte die Arbeit mit lang gehaltenen Tönen, mit satten Texturen und dem Medium Zeit schon immer eine große Rolle bei Jóhannsson, wurde aber meistens in den Hintergrund delegiert. Jetzt aber: sehr präsent, sehr eindrücklich – eben ganz anders als der homöopathisch surrende Film, den das alles bespielen soll. Das mag vielleicht daran liegen, dass es eben nicht allein ein Jóhannsson-Album ist: Die Namen von Guðnadóttir und Lowe werden nicht grundlos aufs Cover gehoben. Ihre Beiträge sind, denke ich, merklich, und zwar nicht nur auf Ebene der Performance. Sie haben sich insgesamt in die Machart dieser vier Stücke eingeschrieben.
In den Linernotes betont Jóhannsson auch, dass das Album ohne die beiden so nicht zustande gekommen wäre. Er reiste mit einer Uraltkamera – darin ein 35mm-Uraltfilm, natürlich der letzte seiner Art, letztlich auf Super-8-Format zugeschnitten – durch die Gegend und nahm, inspiriert von Timothy Mortons Konzepten der Dark Ecology und der Hyperobjects, die Natur so auf, wie sie war. Oder er versuchte zumindest, einen nicht anthropozentrischen Blickwinkel einzunehmen. Die Field Recordings, aufgezeichnet mit modernem Equipment auf derselben Reise an den Rand der Antarktis, auf der B-Seite der LP – soweit mir bekannt übrigens nirgendwo digital verfügbar, wir hören sie gerade auf Platte – sind ein bisschen das Pendent der Bilder – der reine Naturalismus, oder zumindest ein Versuch davon. Kunst gleich Natur minus X, frei nach Arno Holz. Die Kompositionen als solche entstanden dann allerdings im Tandem mit Guðnadóttir und Lowe, leisten Abstraktionsarbeit, wo eigentlich Unmittelbarkeit im Zentrum stehen sollte. Ergibt die Kombination von Bild und Ton für dich in dieser Hinsicht Sinn?
Thaddi: Sagen wir so: Beide Ebenen stören einander nicht, beharken sich nicht, lassen sich mehr oder weniger in Ruhe. Das Film-Footage ist ja so speziell wie random zugleich. Welche Musik dazu am besten passt, und ob es dafür überhaupt Musik bedarf – Jóhannsson erwähnt beziehungsweise erklärt in den Linernotes ja auch, dies für sich infrage gestellt zu haben –, ist eher zweitrangig. Nun haben wir das vierteilige Werk, und es passt schon, in aller Beliebigkeit eben. Vielleicht ist es eh eine gute Idee, die beiden Ebenen nicht zusammenzudenken. Eben weil das Soundtracking der Bilder von Jòhannsson selbst ursprünglich als wenig dringlich betrachtet wurde. Für mich ist „End of Summer“ also weniger Score, sondern mehr Album.
Es ist mittlerweile so lange her, dass wir uns um das Werk von Jóhannsson gekümmert haben, und ich habe – das muss ich zu meiner Schande gestehen – auch schon sehr lange überhaupt keine Musik mehr von ihm gehört. Dieses Album hier einzuordnen, fällt mir tatsächlich ein wenig schwer. Die Zeitachse lässt mich im Stich. „Sicario“ hat natürlich einen ganz anderen Sound. Vielleicht war die Arbeit als Trio für diese Aufnahmen hier ja auch ein wenig therapeutisch. Vom Großen zurück ins Kleine. Mit beiden Welten kannte sich Jóhannsson zu diesem Zeitpunkt schon gut aus. Vielleicht war es ja aber auch nur eine Art Fingerübung, um den Boden wieder zu spüren. Generell und nach dem Ausflug in die Antarktis gleichermaßen.
„Vielleicht haben wir es auch gar nicht mit Drones zu tun, oder nur in so einem abstrakten Sinne, denn eigentlich ist alles doch recht prononciert und zerläuft nicht ineinander, sondern fließt miteinander in unterschiedliche Richtungen.“
Kristoffer: Ja, aber nein. Die Entstehungszeit fällt wohl ungefähr in die Phase, in der auch die Soundtracks für „McCanick“ und „The Theory of Everything“ komponiert wurden – der Film wurde wohl im Jahr 2014 erstmals vorgestellt. Das kontextualisiert den Soundtrack zwischen viel Grummel-Bass hier und den zirkulären, fröhlichen Melodien dort – und also vielleicht noch einmal ganz anders in seiner Werkbiografie. Mir ist der Bryars-Vergleich im Kopf hängengeblieben, und ich würde dir nachträglich mehr Recht geben als zuvor: Wiederholung ist ein großes Thema auf diesem Album, das Auf- und Abwiegen – die Wasserthematik. Vielleicht haben wir es auch gar nicht mit Drones zu tun, oder nur in so einem abstrakten Sinne, denn eigentlich ist alles doch recht prononciert und zerläuft nicht ineinander, sondern fließt miteinander in unterschiedliche Richtungen. Das beweist meiner Meinung nach die Stärke dieses Trios als solchem, das ja – Insider-Infos! – sich ein paar Jahre später für ein paar Tage im Berliner Funkhaus einschloss, um den Soundtrack zu „Blade Runner 2049“ zu erarbeiten. Den hätte ich fast noch lieber gehört als dieses Album – aber dieses ist für sich wahnsinnig gut. Kurz und doch konzentriert, mit einer gewissen Weite und, eben, Tiefe, obwohl darauf und darin nicht sehr viel passiert. Ein stiller Favorit in Jóhannssons Diskografie für mich. Und für dich?
Thaddi: Ich kann mich dir nur anschließen. Da ist die Weite, da ist die Tiefe und – um die Bryars-Referenz für mich selbst noch klarer zu definieren – ein gewisses Knarzen. Das hört man nicht wirklich, es sitzt aber tief in meinem Kopf. Ich fühle mich bei „End of Summer“ diffus „unter Deck“ auf einer Reise mit eher ungewissem Ziel. Und ich sitze wahnsinnig gerne unter diesem Deck, muss ich gestehen.