Jóhann Jóhannsson – A User’s ManualChapter 15 – Jóhann Jóhannsson & BJ Nilsen – I Am Here (2014) – Deutsch
27.6.2023 • Sounds – Gespräch: Kristoffer Cornils, Thaddeus HerrmannWeit über 20 Alben hat Jóhann Jóhannsson in seiner Karriere veröffentlicht. Wer weiß schon, wie viele Tondokumente noch in der Schublade liegen, die postum noch veröffentlicht werden könnten. Regelmäßig lassen Kristoffer Cornils und Thaddeus Herrmann das Werk des Komponisten Revue passieren – chronologisch, Album für Album. In der 15. Folge geht es um „I Am Here“: den Soundtrack, den Jóhannsson gemeinsam mit dem schwedischen Musiker Benny Jonas Nilsen aka BJ Nilsen für den gleichnamigen Film des dänischen Regisseurs Anders Morgenthaler aufnahm.
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Einer erfolgreichen Geschäftsfrau fehlt nur eines, um ihr fast perfektes Leben wirklich perfekt zu machen: ein eigenes Kind. Doch nach zahlreichen Fehlgeburten mit ernsthaften und zuletzt lebensbedrohlichen Komplikationen scheint sich der Traum erledigt zu haben. Maria (Kim Basinger) will aber diesen Traum nicht loslassen. Sie fährt an die deutsch-tschechische Grenze, wo Zwangs-Prostituierte angeblich ihre Kinder verkaufen. Und sie ist interessiert. Das ist der Beginn eines Thrillers, der bei der Kritik zum Großteil vollständig durchfiel. Keine Überraschung: Denn der Menschenhandel mit Frauen, die zur Prostitution gezwungen werden, spielt in Morgenthalers Film so gut wie keine Rolle. Vielmehr dreht sich der Plot fast ausschließlich um Maria und ihren Kinderwunsch, und selbst dieser Erzählstrang bleibt mehr als unscharf. Entführung, Klischees und Gewalt tragen den melodramatischen Film, der am Ende weder die Charaktere sinnstiftend abbildet, noch die diversen angedachten Themen. „I Am Here“ ist ein Zitat von Marias ungeborenem Kind, das natürlich zu seiner Mutter spricht. Ganz schön viel los.
Thaddi: Endlich wieder am Jóhannsson-Gedächtnistisch! Mit einem Album, das ich wirklich komplett vergessen hatte. Ich besitze das Vinyl, habe nur keine Ahnung, wo es ist. Das geht mir mit meinen anderen Jóhannsson-Platten nicht so – allein das ist ja schon bezeichnend. Aber so egal der Film auch sein mag – ich habe ihn natürlich nicht gesehen –: Die Musik von Jóhann Jóhannsson und BJ Nilsen finde ich ausgesprochen gut, auch wenn sie natürlich vom fast schon üblichen Light-Dark-Paradigma der Soundtrack-Arbeit bestimmt wird. Nicht zuletzt ist dieses Album ja auch wichtig, weil Jóhannsson nach vielen Jahren wieder zum Label Touch zurückkehrt, bzw. zum Sublabel Ash International. Ich stelle mir das gerade vor, wie Jóhannsson beim Touch-Chef Mike Harding anruft und ihm diesen Soundtrack zur Veröffentlichung anbietet. „Klassische“ Soundtrack-Labels hatten ja offenbar kein Interesse, oder das Budget war einfach nicht vorhanden. Vielleicht lag der Flop ja schon in der Luft. Also der Fokus auf die Musik, vollständig entkoppelt vom Bewegtbild. Die hellen Motive und Themen sind wundervoll. Hildur Guðnadóttir spielt Cello, die Vocals kommen von Elfa Margrét Ingvadóttir und Guðmundur Vignir Karlsson. Das ist perfektes Handwerk, das trotz aller Abgebrühtheit berührt und mitnimmt. Ich kenne mich aus mit Melancholie und bin dennoch floored.
Und dann ist da noch die dunkle Seite. Dort sehe ich BJ Nilsen als Input-Geber, der ja auf Touch zahlreiche tolle Alben veröffentlicht hat – zuletzt auch vermehrt auf Mego. Seine Field Recordings rattern und drücken, bestimmen den Rhythmus und die entschleunigte Geschwindigkeit dieses Albums. Sind packend, bieten Kontrapunkte, die für Jóhannsson natürlich gar keine Kontrapunkte sind, denn mit sonischem Grummeln kennt er sich ja auch bestens aus. Als dieses Album im Dezember 2014 erschien, sollte es nur wenige Monate, quatsch, was sag ich: Wochen dauern, bis sein Soundtrack für „Sicario“ erschien – dem Meilenstein Jóhannssons dunkler Seite. Hier jedoch hat die dark side noch nicht gewonnen. Luke und Darth haben sich noch nicht gebattelt. Es ist ein stetes Spiel mit den Extremen: ziemlich sweet – ziemlich dark. Aber es stehen weniger die großen frequenzinduzierten Effekte im Vordergrund. Am besten funktioniert das alles auf Tracks wie „Transparent“, in dem „beide Welten“ zusammenfinden, kurz schnuppernd miteinander knutschen und dann im Mix wieder radikal auseinandergerissen werden. Was diese Platte auf Ash International soll, weiß ich immer noch nicht. Ich bin aber erstmal froh, dass die Musik überhaupt gepresst wurde. Spannend ja auch, dass die Universal-Krake dieses Werk noch nicht wiederveröffentlicht hat. Finde ich bezeichnend. Denn eigentlich sind die da ja „Um jeden Preis“ dran. Das ist der deutsche Titel des Films, nur der Vollständigkeit halber.
Kristoffer: Ich gehe jetzt einfach mal nicht auf die viel zu offensichtliche Pointe ein, dass du eine Platte mit dem Titel „I Am Here“ und einem Google-Maps-Marker auf dem Cover nicht bei dir finden kannst.
Thaddi: Ja, ’ne? Schon irre. Apple-Kunde halt. Continue!
Kristoffer: Will do! Also, zuerst müssen wir das Personal nochmal verbreitern. Daniella Strasfogel spielt noch Violine und Bratsche. Zumindest laut meinem Exemplar dieser Platte, das noch vor 2016 herauskam, in den Credits die EU aber dennoch mit einem „RIP“ apostrophiert. Was war da bitteschön los? So oder so: Es fällt mir etwas schwer, über die Musik zu reden. Wie so oft mit Jóhannssons Soundtrack-Arbeit scheint sie in meiner Wahrnehmung immer nur knapp über einer Grenze zu schweben, unter der dann alles verschwindet. Was jetzt meine poetische Umformulierung von „zum einen Ohr rein, zum anderen raus“ sein könnte. Ganz so einfach ist es aber doch nicht. Ich würde eher sagen: Wir haben es hier mit einem klassischen Soundtrack insofern zu tun, als dass mit Vignetten gearbeitet wird anstatt mit voll ausgearbeiteten Stücken. Das ist nichts Schlimmes, Jóhannsson konnte ja auch mit der bloßen Andeutung Großes schaffen. Nur sehe beziehungsweise höre ich dann doch nicht so viel darin wie du, glaube ich. Vor allem nicht wirklich den Beitrag von BJ Nilsen. Also, klar, da gibt es Field Recordings, aber … das ist jetzt per se nichts Ungewöhnliches für Jóhannsson-Alben, diese Unterfütterung mit zusätzlichem Klangmaterial, mit Atmosphäre – oder?
Thaddi: Das stimmt. Wollte nur kontextualisieren. Das ist wichtig für die Biografie von Jóhannsson, die wir gemeinsam ab 2025 schreiben werden!
Kristoffer: Und schon deshalb ist „I Am Here“ ein interessanter Eintrag in seinem Werk, weil zum ersten Mal ein anderer Name neben seinem auf dem Cover steht. Nicht aber der von Hildur Gudnadóttir etwa, die ja quasi jahrzehntelang mit ihm zusammenarbeitete und sicherlich auch kompositorisch beteiligt war. Wieso? Wissen wir das?
„Es ist die erneute Repetition zahlreicher Ideen und Motive. Aber: Der Teufel steckt halt im Detail, ’ne? Ich mag die Ideen.“
Thaddi: Ich zumindest weiß es nicht. Noch nicht! Vielleicht sind es die alten Touch-Bande, die hier zum Tragen kommen. Zwei Buddys, die mehr oder weniger regelmäßig in Kontakt sind und sich dann dazu entschließen, ein gemeinsames Album aufzunehmen. Um was für ein Projekt es sich dabei handelt oder handelte, ist vielleicht sogar sekundär. Tatsächlich stehen die Field Recordings im Hintergrund beziehungsweise sind sehr gut eingebunden in das kompositorische Sound-Design. Denn, da hast du schon Recht, viel mehr ist das hier nicht. Es ist die erneute Repetition zahlreicher Ideen und Motive, die eigentlich – könnte man denken – schon längst ausreichend ausdefiniert sind. Aber: Der Teufel steckt halt im Detail, ’ne? Ich mag die Ideen. Sie sind nochmals etwas klarer definiert beziehungsweise schunkeln in eine leicht andere Richtung. Dass nun BJ dabei ist: Okay, warum nicht. Es ist mir bei Jóhannssons Platten eh relativ egal, wer was wirklich tut und vor allem warum. Ich spüre trotz allem einen zwar nicht wirklich frischen, aber doch leicht anderen Wind im Gesamten. Allein der tut Jóhannsson und seiner Musik schon gut. Ich bleibe dabei. Das Sweete ist sweet, das Darke schon dark, aber noch nicht komplett ausdefiniert.
„Vielleicht kommt bei mir der Eindruck des Flüchtigen genau deshalb auf, weil diese Musik so dezidiert hintergründig im Wortsinne ist.“
Kristoffer: Vielleicht wird so auch ein Schuh für mich draus: Als Score kann „I Am Here“ als Zwischenschritt betrachtet werden. Weg von den schon eher noch im klassischen Sinne kompositorisch ausgerichteten, das heißt mit orchestralen oder kammermusikalischen Besetzungen arbeitenden Soundtracks wie „And in the Endless Pause there Came the Sound of Bees“ oder „Copenhagen Dreams“, die zwar Sound schon mit in die Gleichung nehmen, weil Sound schon immer elementar bei Jóhannsson war – die Sound und Komposition aber noch nicht als komplett miteinander integriert dachten. Vielleicht kommt bei mir der Eindruck des Flüchtigen genau deshalb auf, weil diese Musik so dezidiert hintergründig im Wortsinne ist. Sie stellt sich noch mehr als andere vorige Auftragswerke in den Dienst der Bilder: Ich habe natürlich den Film auch nicht gesehen, aber so stelle ich mir das vor. Weil der Name ja ständig von uns als Negativfolie verwendet werden muss: Jóhannsson schüttelt hier den inneren Hans Zimmer aus sich raus, und BJ Nilsen hilft dabei vielleicht einfach nur, indem er ihm einen Stups in Richtung Abstraktion gibt. Und dann … ja, dann kam „Sicario“. Dann kamen die Oscar- und BAFTA-Nominierungen. Weil Jóhannsson eine neue Sprache gefunden hatte. Und vielleicht stellt „I Am Here“ den Versuch dar, dafür zuerst eine neue Grammatik zu entwerfen. Die ist zu unbequem, das heißt unverwertbar für das Leichenfledderinstitut der Deutschen Grammophon. Das ist ein Kompliment, und zwar sowas von: Das ist nicht schön und schnieke genug, um damit Kohle zu machen. Ist es auch nicht. Und zack, schon habe ich meinen Frieden mit dieser Platte geschlossen! Super.
Thaddi: Voilà! Es ist interessant, wie du das Album auf der Timeline von Jóhannssons Werk verortest. Ich habe die Platte in der Vorbereitung eher abgekoppelt davon gehört – wie ich schon erwähnte, zum ersten Mal seit wirklich langer Zeit. Und ich habe dabei keinerlei Referenzbögen aufgemacht. Ist das nun abstrahierte Arbeit? Ich weiß es nicht. Es mag unsere Fehlstelle sein, dass wir beide den Film nicht gesehen haben und wir die Musik nicht wirklich auf die Bilder projizieren können. Was ich über die Geschichte des Films gelesen habe, hat mich einen deutlich kitschigeren Score erwarten lassen. Insofern stimmt deine Analyse durchaus: Es ist vergleichsweise abstrakt, nimmt mich aber doch sehr mit – in allen Schattierungen.
Kristoffer: Abstrakt nicht unbedingt, eher leerstellig – ohne Highlights, ohne Lowlights. Ohne Widerhaken ebenso wie ohne Hooklines. Ephemer, ein Hauch von Klang. Mit Ausnahme eines Moments allerdings. Und den müssen wir situieren: Wir sitzen hier gerade auf meinem Balkon, die unerbittliche Sonne hat sich gerade hinter ein paar Ozon-Schichten versteckt und eben lief das Finale dieses Scores. Es ist ein bittersüßes Stück Musik, fast kammermusikalisch in der Besetzung, in der die Stimmen die Hauptrolle spielen. Sehr artifizieller Gesang, glasklar, nur aber eben wie Glas kurz vorm Platzen. Wunderschön. Ein kleiner „Englabörn“-Throwback im Grunde – das Menschliche wird allzu menschlich oder gar übermenschlich, das Uncanny Valley klafft nach all den kleinen Trippelschritten Richtung emotionaler Eichung plötzlich wieder kilometerweit vor uns auf. Das ist das einzige Stücke, das bei mir nach dieser Platte im Kopf herumschwirrt, wenn ich sie gehört habe. Und das habe ich gut ein paar Dutzend Mal. Das nun könnte ich Jóhannsson als Komponisten negativ auslegen. Aber als Score-Produzent macht er damit, natürlich gemeinsam mit BJ Nilsen, wohl alles richtig. Er reißt mich raus, das heißt in seine Welt hinein, die vielleicht just die der Bilder des Films ist. Vielleicht sollten wir einfach diesen verdammten Film gucken, so schlecht er auch sein mag. Oder doch „Sicario“. Denn da macht Jóhannsson es komplett richtig, auf jeder erdenklichen Ebene.
Thaddi: Und so haben wir doch wieder etwas gemeinsam: Denn ich habe bei „Sicario“ ebenfalls nur einen Track, der mir im Gedächtnis geblieben ist. Bestimmt nicht einer von denen, die dich mitreißen, aber darüber sprechen wir dann beim nächsten Mal. Für mich war dieses Album tatsächlich eine Art Neuentdeckung. Das passt zusammen, das funktioniert. Als Album und eben nicht nur als Folie für einen Film. Die Platte bleibt bei mir. Hätte ich nicht gedacht – und freut mich umso mehr.