Jóhann Jóhannsson – A User’s ManualChapter 12 – Prisoners (2013) – Deutsch
28.11.2022 • Sounds – Gespräch: Kristoffer Cornils, Thaddeus HerrmannWeit über 20 Alben hat Jóhann Jóhannsson in seiner Karriere veröffentlicht. Wer weiß schon, wie viele Tondokumente noch in der Schublade liegen, die postum noch veröffentlicht werden könnten. Regelmäßig lassen Kristoffer Cornils und Thaddeus Herrmann das Werk des Komponisten Revue passieren – chronologisch, Album für Album. In der zwölften Folge geht es um „Prisoners“ aus dem Jahr 2013, den Soundtrack zum gleichnamigen Film von Denis Villeneuve.
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Das Verschwinden zweier Mädchen in einem US-amerikanischen Kaff zu Thanksgiving bildet den narrativen Rahmen von Denis Villeneuves „Prisoners“. Die Szenerie? Herbstlich und schön, wenn auch oft dunkel und verregnet. Das Verschwinden? Nur ein plakativer Aufhänger, um die gesellschaftliche Friktion in so einer vermeintlichen Idylle von unten an die Oberfläche zu befördern. Cinematografisch befinden wir uns irgendwo zwischen den Settings von „Twin Peaks“ (nicht ganz so überwältigend) und „Wayward Pines“ (nicht ganz so klaustrophobisch) beziehungsweise „Eureka“ (ohne das komödiante Sci-Fi-Absurdum). Die Handlung eskaliert, es wird unschön. Und Jóhann Jóhannsson orchestriert.
Thaddi: Die Review zum Soundtrack war einer der ersten Texte überhaupt für dieses Medium schrieb. Ich hatte keine Ahnung vom Film, beschränkte mich vollkommen auf die Musik und die Soundtrack-Problematiken per se. Kurze Skizzen, die minimalen Modulationen gesetzter musikalischer Themen, etc. Wir haben das in dieser Reihe ja immer und immer wieder besprochen. Und in eben dieser Reihe sind wir spätestens mit Prisoners in der „Soundtrack only“-Phase von Jóhann Jóhannsson angekommen. Natürlich mit einer anderen Qualität. Filmmusik hatte Jóhannsson auch vorher schon gemacht, dieser Score jedoch katapultierte ihn jedoch vielleicht zum ersten Mal wirklich in die Aufmerksamkeit Hollywoods. Es ist seine erste Zusammenarbeit mit dem kanadischen Regisseur Denis Villeneuve. Der ging – nicht zuletzt dank der Musik von Jóhannsson – danach durch die Regie-Decke, machte u.a. „Sicario“ (mit Jóhannsson) und schließlich „Blade Runner“ – zuerst mit, schließlich aber doch ohne Jóhannsson. Aber ich greife vor. Der Film startete in den US-amerikanischen Kinos im September 2013, in Deutschland einen Monat später. Der Soundtrack erschien am 24. Dezember desselben Jahres. Tragisch und schön zugleich. Und ich gestehe, dass ich die Musik seit meiner Review nicht mehr gehört habe. Was für ein Fehler! Die „hellen“ Themen berühren mich mehr denn je. Während ich dieses Intro schreibe, es ist der 20. November 2022, schneit es vor meinem Fenster, die Heizung bollert, es wird langsam schon wieder dunkel, die Fenster sind zu, die Stille ohne Musik ist kaum zu ertragen. Und hier kommt Jóhann mit auf den ersten Blick ganz einfachen Mechaniken. Hell, dunkel, hoffnungsvoll, grummelnd. Den Film habe ich bis heute nicht in Gänze gesehen. Wie läuft es an deiner Subbass-Adagio-Front, Kristoffer?
Kristoffer: Adagio ist vielleicht nur hinsichtlich der Tempovorgabe korrekt, bequem und behaglich klingt auf „Prisoners“ dem Sujet des Films entsprechend herzlich wenig – in meinen Ohren zumindest. Den Subbass aber kann ich keinesfalls verleugnen. Dank dem habe ich den Soundtrack auch zum ersten Mal erlebt, und ich sage bewusst nicht „gehört“: Ohne den Soundtrack vorab gekannt zu haben, schaute ich mir den Film an und wurde circa alle zehn Minuten von den mächtigen Bässen ins Bett gequetscht. Ich habe mir gestern noch einmal die ersten 30 Minuten – also ein Fünftel der Gesamtzeit, es ist ein recht langsamer Film – angehört und war erstaunt darüber, wie sparsam Jóhannssons Score darin zum Einsatz kommt. Partiell, in kleinen aber eindrücklichen Stimmungsschüben wird er in die Stille eingeflochten. Fast schien es mir, als würden sich Regisseur und Komponist noch etwas vorsichtig einander annähern, als hätten sie die perfekte Synthese aus Film und Ton noch nicht erreicht. Von Vorteil ist das insofern, als dass die Musik als solche für sich genommen viel besser funktioniert als etwa der Score von „Sicario“, für mich das Paradebeispiel der endgültigen Integration der Villeneuveschen und Jóhannssonschen Bild- und Klangsprachen – Musik also, die ohne den Film keinen rechten Sinn ergeben will, und umgekehrt. Aber dennoch umweht „Prisoners“ ein Hauch von Pflichterfüllung: Viele der Motive und Kniffe dieser 16 Stücke scheinen bereits bekannt und tatsächlich kennen wir „Escape“ schon von „And in the Endless Pause There Came the Sound of Bees“[/sounds/johann-johannsson-a-users-manual-chapter-6-and-in-the-endless-pause-there-came-the-sound-of-bees-2009-deutsch], obwohl Selbstzitate sonst so gar nicht Jóhannssons Sache waren. Weil sich aber vor allem in den grummelnden Drones bereits das Sounddesign-Meisterwerk „Arrival“ ankündigt, halte ich „Prisoners“ nicht für einen bloßen Rückgriff – sondern eher ein Werk an der Schwelle vom einen zum anderen Kapitel in seinem Schaffen. Aber jetzt spiele ich schon wieder den Historiker! Lenken wir doch stattdessen auf die Atmosphäre rüber: Die nimmt sehr konsequent die dunklen, grauen Töne des Films auf. Doch hörst du darin Helligkeit. Was meinst du damit?
Thaddi: Ja, das muss ich erklären. Auch wenn die lichten Motive alles andere als fröhlich und „durchgedurt“ klingen, lösen sie in mir doch ebensolche Gefühle aus. Melancholie hat Power. Ich mag einfach die Stille dieses Soundtracks. Trotz allem Grummeln und immer wieder aufstrahlender orchestraler Herrlichkeit: Alles passt und ordnet sich ein und unter in einen kammermusikalischen Rahmen der Bescheidenheit. Das Album lief bei mir die letzten Tage praktisch nonstop. Zur Vorbereitung, im Dienste der Erinnerung, schnell aber auch als verlässlicher Begleiter im radikalen Wintereinbruch in der Stadt. Immer wenn die Umwelt ob der Witterung sich verändert, im besten Fall still wird, macht mein Herz einen Sprung und geht automatisch in den Anpassungsmodus. Tatsächlich hilft mir diese Musik dabei. Dementsprechend liegt es mir fern, hier eine allumfassende Exegese zu befeuern. In den mitunter minimalen Unterschieden in der musikalischen Sprache von Jóhannssons Soundtracks, den iterativen Veränderungen und Weiterentwicklungen ist „Prisoners“ tatsächlich ein zunächst leise anmutendes, schnell aber umso lauteres Highlight in seinem Schaffen. Es geht hier vor allem – abseits der generellen Entscheidung, ob uns diese Musik etwas sagt oder nicht – um das Sich-Einlassen auf den Moment. Für mich funktioniert das wunderbar. Interessant, dass du das generelle Recycling von Jóhannssons Ideen genau hier zum Thema machst. Mir ist es bei diesem Album nicht explizit aufgefallen, ich werde die Referenz gleich nochmal nachhören. Als jemand, der manchmal noch immer in der Zukunft lebt, hatte ich aber eine ähnliche Assoziation für die nächste Episode unserer Reihe – den Soundtrack zu „McCanick“. Musik, die ich fast schon als Cover-Version des eigenen Werks wahrnehme. Aber das machen wir ein anderes Mal.
Kristoffer: Mir ist es auch erst aufgefallen, als ich das Inlet der – tatsächlich, da hat die Discogs-Kommentarspalte absolut Recht – grausigen Vinyl-Pressung zur Vorbereitung konsultiert habe. Natürlich sind diese wunderbar zittrigen Cello-Töne auf „Escape“ sehr einprägsam, ad hoc hätte ich sie jedoch nicht zuordnen können. Ich will bei den Credits bleiben und mir mal statt des Talars eines Historikers das Sakko eines Psychoanalytikers überstreifen: Du sprichst einerseits von orchestraler Herrlichkeit, wirfst andererseits aber den Begriff der Kammermusik in den Ring. Das sind zwei sehr unterschiedliche Aussagen darüber, wie du die Musik rezipierst. Tatsächlich haben neben Jóhannsson selbst nur wenige Musiker:innen an dieser Arbeit mitgewirkt, maximal ließe sich von einem Ensemble sprechen: Thomas Bloch an so ungewöhnlichen Instrumenten wie Cristal Baschet und Ondes Martenot, Erik Knive Skodvin alias Svarte Greiner an Kontrabass, Cello, Gitarre und Elektronik, Thomas Bowes an der Solo-Violine und last but definitely not least Caroline Dale und Hildur Guðnadóttir am Solo-Cello. Tatsächlich hat mit Erik einst in einer bierseligen Nacht in einer Kreuzberger Kneipe davon erzählt, dass er mal ein paar Tage mit Jóhannsson im Studio war, ein paar Dinge aufgenommen und absolut nichts mehr davon wiedererkannt hat, als das Ding dann draußen war. Ich nehme stark an, dass er von „Prisoners“ sprach. Der Komponist selbst hat Elektronik, Perkussion, Orgel und Gitarre beigesteuert, wird hier schätzungsweise aber vor allem als Klangcollagist gearbeitet haben, der disparate Aufnahmen von verschiedenen Menschen und Instrumenten zu einem Soundtrack vereint hat. Eben jener trägt – da stimme ich dir komplett zu – tatsächlich mal die Intimität von Kammermusik und bisweilen die Größe und Herrlichkeit von Orchestermusik in sich. Genaueres konnte ich über die Entstehung des Soundtracks nicht herausfinden, aber die wenigen Informationen vergrößern meinen Respekt vor diesem Werk nur umso mehr: Er macht aus verhältnismäßig wenig Input extrem viel Output. Hatten wir das schonmal, dass Jóhannsson dermaßen kleinteilig und doch umfassend seine Musik auf diese Art und Weise gemacht hat? Ich glaube nicht! Und das trägt viel zu seiner Vielschichtigkeit bei.
Thaddi: Ach Kristoffer, du kennst mich doch. Diese Begrifflichkeiten jongliere ich eher immer im Freestyle-Modus. Gelobe, mich zukünftig besser vorzubereiten bzw. meine definitorischen Hausaufgaben zu machen! Und hoffe gleichzeitig, dass mich die Menschen da draußen an den Text-Empfangsgeräten verstehen. Ich folge deiner Analyse bezüglich Input vs. Output. Ich bin aber viel mehr daran interessiert, herauszufinden, warum – und das ist der Punkt, über den ich immer wieder nachdenke, ohne zu einer schlüssigen Erklärung zu gelangen – das Zusammenspiel zwischen Hell und Dunkel auf diesem Soundtrack für mich so gut funktioniert, während es mich bei anderen Alben daran hindert, mich vollumfänglich auf die Musik einlassen zu können. Viel aus wenig zu machen: Das passt ja auch gut zum Film, bzw. zum Setting. Die Kleinstadt mit ihrer vermeintlichen strukturellen Übersichtlichkeit kann eben doch nicht verhindern, dass Dinge eskalieren, sich zum Schlechten wenden. Es ist vielleicht eine seltsam anmutende Brücke, die ich im Geiste baue, passt für mich aber. Letztendlich geht es mir auch hier mal wieder um das Persönliche. Mich interessiert vielmehr, wie es dir mit diesen Tracks, Skizzen, Kompositionen geht, Kristoffer. Droppen wir doch mal die Rüstung des Musikjournalismus. Reden wir über Gefühle! um es mit der TV-Serie „Newsroom“ zu sagen: I want a real moment“.
Kristoffer: Das ist es ja aber: Ich denke, dass Jóhannsson hier mit einer bestimmten Methode vorgeht – wer daran mitgewirkt hat, ist gar nicht so entscheidend –, die zumindest in meinen Ohren ein nochmal anderes Ergebnis zutage fördert als auf vorigen Veröffentlichungen und Soundtracks. Er selbst ist hier das Orchester, anstatt es zu leiten, und kann sich damit im Rahmen eines solchen Auftragswerks noch direkter und tatsächlich flexibler zum Ausdruck bringen als auf musikalisch ähnlich gelagerten, aber klanglich und emotional noch einmal anders gestalteten vorangegangenen Werken. Weshalb ich darin auch nichts Skizzenhaftes erkenne – im Gegenteil scheint mir hier alles sehr ausformuliert zu sein. Dennoch oder gerade deshalb geht es mir mit „Prisoners“ sehr ähnlich wie mit dir. Was eine fantastische Wiederentdeckung das ist! Eben weil Jóhannsson hier noch freier auf der Gefühlsklaviatur spielen kann, die er vorher schon solide beherrschte, auf der er nun aber etwas sowas wie eine eigene Stimme entwickelt, mit der er eine ganz besondere Stimmung schaffen kann. Wie gesagt: Für mich ist „Prisoners“ ein Soundtrack an der Schwelle zu einem neuen Kapitel in Jóhannssons Gesamtwerk. Ich bin gespannt, wie sehr wie den aus „McCanick“ heraushören werden, für mich beginnt Jóhannsson hier primär die Fäden in Richtung „Sicario“ und „Arrival“ zu knüpfen.
Thaddi: Ich habe so viele Fragen zu „McCanick". Und Gedanken. Lass uns bald wieder zusammen Soundtracks hören bitte.
Kristoffer: Eben den knüpfen wir uns ja auch als Nächstes vor und sowieso stehen erstmal bis zu „Orphée“ in dieser Reihe eine ganze Menge Auftragsarbeiten, aber auch die eine oder andere Herzensangelegenheit mit Filmbezug auf dem Plan. Was „Prisoners“ angeht, sind wir uns schätzungsweise aber einig: ein Karriere-Highlight, das mehr Beachtung verdient hätte; ein toller Soundtrack, der zugleich als Album fungiert und mit wenigen Mitteln viel Raum aufmacht, in denen sich umso mehr Gefühle ausbreiten können – ja?
Thaddi: Ja und JA!