Jóhann Jóhannsson – A User’s ManualChapter 11 – Free The Mind (2012) – Deutsch
8.8.2022 • Sounds – Gespräch: Kristoffer Cornils, Thaddeus HerrmannWeit über 20 Alben hat Jóhann Jóhannsson in seiner Karriere veröffentlicht. Wer weiß schon, wie viele Tondokumente noch in der Schublade liegen, die posthum noch veröffentlicht werden könnten. Regelmäßig lassen Kristoffer Cornils und Thaddeus Herrmann das Werk des Komponisten Revue passieren – chronologisch, Album für Album. In der elften Folge geht es um „Free The Mind“ aus dem Jahr 2012, den Soundtrack zum gleichnamigen Film von Phie Ambo.
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1992 traf der Neurowissenschaftler Richard Davidson den Dalai Lama. Der ermutigte ihn, nicht nur Depressionen und Angstzustände zu untersuchen, sondern auch Emotionen wie Mitgefühl und Güte. Genau das tat Davidson. Der Dokumentarfilm „Free The Mind“ begleitet diese Studien anhand von drei Menschen – zwei ehemaligen US-amerikanischen Soldaten, die im Irak und in Afghanistan eingesetzt waren, und einem fünfjährigen Jungen namens Will, der unter ADHS leidet. Und Jóhannsson macht die Musik.
Thaddi: Wir müssen hier schon wieder rekontextualisieren. Oder besser: die Zeitachse umbauen. Ich hatte diesen Soundtrack sowas von gar nicht auf dem Zettel, bis ihn die Deutsche Grammophon mir dann irgendwann – so gegen 2019 – in den Streaming-Feed spülte. Ich muss mir da keine Vorwürfe machen: Die Doku ist von 2012. Laut Discogs erschien das Album tatsächlich mehr oder weniger zeitgleich, aber eben nur auf CD und zunächst ausschließlich in Island und Japan. Das habe ich damals nicht mitgeschnitten. Ist auch nicht weiter wild, weil: So wahnsinnig gut finde ich das Album nicht. Nein, anders: Die Musik bereichert mein Wissen über Jóhannssons Musik nicht besonders. Das stete Rückwärtsdenken – die Kontextualisierung – fällt mir schwer. Ja, es etabliert Momente und Stimmungen, die für den Jóhannsons Sound wichtig sind, beziehungsweise später prägend wurden. Weil ich aber auf einer anderen Zeitachse unterwegs bin, höre ich diese Kompositionen immer hart und 1:1 gegen „The Theory Of Everything“. Dieser Soundtrack erschien zwei Jahre später. Und perfektioniert all die Elemente, die sowohl hier als auch bei „White Black Boy“ auftauchen. Schön und gut. Was ja auch schon eine Menge sagt. Denn jedwede Dunkelheit, sonisches Ausscheren und produzierende Andersartigkeit finden in diesem Werk nicht statt. Ja, das ist nett. Und aufmerksame Leser:innen wissen ja bereits, dass mich der mainstreamigere „Wohlfühlcharakter“ von Jóhannssons Arbeit enorm fasziniert. Aber diese Entwürfe reißen mich nicht wirklich mit und hauen mich schon gar nicht vom Hocker. Das ist natürlich auch immer eine sehr persönliche Einordnung – da sind wir wieder bei der Timeline. Denn „The Theory Of Everything“ traf mich zu einer Zeit, in der dessen Sounds zu meiner Seele wie nichts anderes passten. Wie geht es dir mit diesem Album, Kristoffer? Wir können ja auch zuerst mal den Trailer des Films schauen:
Kristoffer: Der Trailer hinterlässt mich etwas unschlüssig in Hinblick darauf, worum es in diesem Film eigentlich gehen soll – aber gut, wir reden ja auch über die Musik. Damit geht es mir allerdings kaum anders. Ich habe diesen Soundtrack offensichtlich eher mitgeschnitten als du, denn nach Veröffentlichung der Vinyl-Version spülte mir der Mailorder meines Vertrauens das Album direkt auf die Wishlist. Ich habe immer wieder mal ein paar Snippets durchgehört und dann doch nie zugeschlagen. Wieso? Weiß ich nun, da ich diesen Soundtrack gut zehn Mal zur Vorbereitung gehört habe. Ich stimme dir zu: Das ist eine Vorskizze zu „The Theory of Everything“, ein Werk, das ich ja großartig finde. Nur aber ohne die kompositorische Konsequenz, ohne den typisch Jóhannssonschen Charakter. Hier und dort eine gute Idee, durchgehend solide arrangiert und doch irgendwie halbgar. Anders als bei „White Black Boy“ fehlen die elektronischen Beigaben, stattdessen wird tatsächlich orchestraler gearbeitet und die kammermusikalische Intimität so für einen volleren Sound aufgegeben. Aber auch das klingt slick und fast schon überproduziert. Bisweilen wirkt es beinahe so, als seien die Streicher auf einem Keyboard entstanden. Also, nein, wirklich: Ich glaube, „Free the Mind“ ist neben „Dís“ mein unliebster Jóhannsson-Soundtrack. Ich sehe nicht einmal das wirkliche Potenzial darin; die Abzweigungen, von denen aus er noch bessere Ideen entwickeln hätte können. Ein Jammer. Aber auch zu vernachlässigen. Es war eine offensichtlich hochproduktive Zeit für Jóhannsson, in welcher er sich aber noch nicht als Score-Komponist mit eigener Handschrift etabliert hatte. Da war das wohl eben eine Auftragsarbeit im allerbanalsten Sinne: bisschen Sound-Bett unter die Bilder schmieren, fertig. Dann rief Denis Villeneuve an und alles ward gut.
Wer weiß, ob sich Jóhannsson später noch an diese Ansätze erinnert hätte und „The Theory Of Everything“ somit ganz anders geklungen hätte?
Thaddi: Ich komme mit meinem Desinteresse an diesem Album auch mehr als gut klar. Es ist wichtig, dass es erschienen ist. Wer weiß, ob sich Jóhannsson später sonst noch an diese Ansätze erinnert hätte und „The Theory Of Everything“ somit ganz anders geklungen hätte. Wenn er überhaupt mit der Musik beauftragt worden wäre. Insofern hat dieser Score hier schon seine Berechtigung auf der bereits zitierten Zeitachse, ich muss das nur nicht hören. Beziehungsweise habe ich nach dem Hören verstanden, was er in den Kompositionen versucht, verhandelt, langsam auf den Weg bringt.
Kristoffer: Ich liebe ja die Implikation, er hätte diese Musik selbst vergessen, wenn sie nicht irgendwer auf CD gebrannt beziehungsweise dann später auf Platte gepresst hätte! Mich würde nur interessieren, welchen Versuch du in dieser Musik zu erkennen meinst? Ich nur den, ein bisschen Gefühlskino mit den dazugehörigen Emotionen zu unterfüttern. Underscoring eben, weit davon entfernt, Musik wie eben in den Filmen Villeneuves oder sogar in „The Theory of Everything“ zum selbstständigen Agenten zu machen.
Thaddi: Ich beziehe mich auf melodische Elemente, Streicherläufe einerseits, die für mich dann beim Nachfolger final ausgearbeitet werden und prächtig blühen. Aber andererseits höre ich hier auch im Umgang mit tiefen Frequenzen Ansätze, die später erst richtig anfangen zu rumpeln und zu scheppern. Insofern haben die Stücke vielleicht schon ihr Gutes gehabt. Es wäre nur besser gewesen, diese Schublade alsbald wieder zuzumachen.
Kristoffer: Oh je, ich merke schon, dass wir in die Diskussion zu „The Theory of Everything“ besser mit Mundschutz reingehen sollten. Bis dahin: Ich finde es allein bemerkenswert, dass du dich mehr für diskografische Einordnungen interessierst, als ich es an dieser Stelle tue. Da muss doch was faul sein!
Thaddi: Noch ist da gar nichts faul. Ich bin zwar ein alter Mann, aber noch nicht faulig! Alte Männer wie ich brauchen Anker. Und „The Theory Of Everything“ ist so ein Anker. Und wie jeder gute musikalische Seemann interessiere ich mich sehr für die Struktur meines Ankers. Und mit diesem vollkommen falschen und verqueren Bild verabschiede ich mich in eine klitzekleine Sommerpause, die ich nicht auf dem Boot verbringen werde.